Erwin Strittmatter (1912-1994) selbst hat keine Autobiografie hinterlassen. Aber seine großen Romane, vor allem die Trilogien „Der Wundertäter“ und „Der Laden“, tragen deutliche autobiografische Züge.
Vor einigen Jahren geriet der Schriftsteller in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass er
während des Zweiten Weltkrieges einer Polizeieinheit angehört hatte, die an Aktionen gegen die…mehrErwin Strittmatter (1912-1994) selbst hat keine Autobiografie hinterlassen. Aber seine großen Romane, vor allem die Trilogien „Der Wundertäter“ und „Der Laden“, tragen deutliche autobiografische Züge.
Vor einigen Jahren geriet der Schriftsteller in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass er während des Zweiten Weltkrieges einer Polizeieinheit angehört hatte, die an Aktionen gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan beteiligt war. Diese Enthüllungen überschatten nun auch den 100. Geburtstag von Erwin Strittmatter, aus dessen Anlass im Aufbau Verlag die vorliegende Biografie von Annette Leo (Jg. 1948) erschienen ist.
Die Berliner Historikerin konnte sich dabei auf Briefe, Tagebücher, Erinnerungen von Zeitzeugen und bisher nicht bekannte Archivdokumente stützen. Außerdem sprach sie mit dem Bruder und den Söhnen Erwin und Jakob, interviewte die beiden Schriftstellerkollegen Erich Loest und Hermann Kant und suchte die Orte der Kindheit und Jugend auf.
Obwohl Strittmatter fast die ganze deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebte - von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die DDR bis zur Wende, sind die 450 Seiten keine kontinuierliche Biografie, die alle Lebensabschnitte des Schriftstellers mit der gleichen Intensität beleuchtet.
Leo legt einen Schwerpunkt auf Strittmatters Rolle während des Krieges, eben weil hier in letzter Zeit die meisten Fragen aufkamen. Ihre Recherchen ergaben, dass Strittmatter viel stärker in deutsches „Besetzergebaren“ eingebunden war, als er es später zugab. Sie kommt zu dem Schluss: er habe der „Schweigegemeinschaft“ seiner Generation angehört, denn selbst in seinen Tagebüchern, deren erster Teil erst kürzlich erschien, finden sich allenfalls flüchtige Anspielungen auf diese Kriegsereignisse.
In einem weiteren ausführlichen Kapitel untersucht Leo dann Strittmatters Verstrickungen in der DDR-Zeit, als Verbandsfunktionär oder zeitweise als Stasi-Zuträger. Auch das Verhältnis des Schriftstellers zu Frauen und Kindern, besonders zu seinen Söhnen, versucht sie zu hinterfragen. Ihre Sympathie für Strittmatters literarisches Werk hindert die Autorin jedoch nicht daran, auch hier kritischer hinzusehen und macht auf Strittmatters autobiografische Beschönigungen in diesem Punkt aufmerksam.
Angesichts der vielen ungeklärten Fragen und Aspekte in Strittmatters Leben ist die Biografie von Annette Leo ein wichtiger Beitrag, um das Knäuel aus Dichtung und Wahrheit zu entwirren. Ein lebendiges Charakterbild eines hochverehrten und doch umstrittenen Schriftstellers, der auch mit seinem Leben Chronist einer vielschichtigen Epoche war. Ergänzt wird die Publikation durch einige historische Fotos sowie einen umfangreichen Anhang mit Anmerkungen, Bibliografie, Personenregister und Zeittafel.
Manfred Orlick