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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2007

Schlesien gekleidet in ein Negligé aus Licht
Moderne Heimatkunde in einem alten Landstrich: André Hilles Polen-Buch „Erzähl mir vom Land der Birken”
So fern, fremd, rätselhaft ist sonst kein Nachbar. Es mag stimmen, dass man Russland lieben muss, um es verstehen zu können – wie aber nähert man sich Polen? Wie meidet man Besserwisserei oder wohlmeinende Kumpanei? Der Leipziger Autor André Hille, Jahrgang 1974, lebte zwei Monate im ehemaligen Wohnhaus Gerhart Hauptmanns in Agnetendorf. Er traf keine Politiker, keine Politologen, sondern Heimwehtouristen, scheiternde Künstler, hoffnungsfrohe Familien, Barbesitzer mit Schlägerphantasien. Kahlgeschorene warfen nach ihm, mollige Frauen drängten ihn zu Tanz und Kräuterwodka. So und nur so, als fremder Flaneur, drang er vor zum Kern des polnischen Paradoxons, das hier Wiederholungszwang heißt: „Die Polen können nicht mehr aufhören, um ihr Land zu kämpfen. Polen kämpft und kämpft, als ringe es noch immer mit hohen Wellen, ohne zu merken, dass es längst im Seichten schwimmt.”
Auch das Werden eines Dichters protokolliert das schmale, eindrucksvolle Buch. Von Anfang an ist der poetische Blick auf Formen gerichtet. Schon bei der Anreise per Zug irritieren „Fassaden wie leere Zahnhälse” in Dresden und ein entvölkertes „Kunstwerk in Städtegröße” namens Görlitz. Seite um Seite tritt dann zum Blick und zum Wollen – eine Erzählung soll aus dem Tagebuch werden – das Vermögen hinzu und zeigt sich als Abschied vom Einfachen und Eindeutigen. Auf deutschem Boden konnte der Beobachter sich der Illusion hingeben, die Welt sei ein aufgeschlagenes Kinderbuch, „als müsse ich nur auf dieses und jenes zeigen, um die Ordnung der Dinge zu verstehen. Das ist der Polizist, und das ist der Bauer.” In Polen reißen solche semantischen Netze. Ding und Benennung fallen auseinander. Es wird schwierig, die Welt zu beschreiben und sich. Beides wandelt sich fortwährend.
Wo das Faustrecht regiert
In Agnetendorf wollte Hauptmann laut eigenem Bekenntnis „das Göttliche anschauen und ihm ganz zu Diensten stehen”. Hille blickt aus seiner Dachstube auf Birken und Menschen. Diese kommen seufzend in der „graubraunen Tarnkleidung des Alters”, jene bleiben und ähneln vielleicht den Dichtern, sind sie doch „anspruchslos, haben eine lebensspendende Kraft und machen sich bemerkbar über ihren Tod hinaus”; in gefälltem Zustand noch produzieren sie Saft. Ein junger Leipziger, der Dichter werden will und birkengleich: Das wäre bizarr oder kitschig, entstünde diese Perspektive nicht ganz am Ende erst, pastellen und als Ergebnis einer Anekdote.
Für den Exkurs über die Besonderheiten des schlesischen Waldes sorgt der Besitzer der Bar und Pension „Zum Korallenpfad”, ein Herr Gnyp. Dort, in braunen Cordsesseln unter holzgetäfelter Decke, rastet Hille, wenn er zurückgekehrt ist vom Literaturfestival Löwenberg, von den Krakauer Literaturtagen oder von einer Lesung in Breslau, wo er „Geschichten lieferte, eine Ware unter vielen”. Herr Gnyp arbeitete lange als Programmierer in Deutschland, ließ Frau und Söhne zurück, um in der Heimat die Pension zu eröffnen. Er schimpft auf Polen, lobt Deutschland, duldet aber keine deutsche Kritik an Polen. Dann und wann ergeht er sich in Gewaltphantasien: „In bestimmten Gebieten seines Denkens regiert noch das Faustrecht.” Wäre Herr Gnyp erfunden, so hätte er als das unwahrscheinliche Resultat eines unguten Drangs zur Personifikation zu gelten. Herr Gnyp wäre Polen.
An seinen besten Stellen ähnelt Hilles Debüt – trotz manch missglückter Sätze und sorgloser Interpunktion – dem wunderbaren „Baedeker der Seele” von Béla Balázs. So wie der ungarische Deutsche 1925 den Wanderer einen „geborenen Fremdling” nannte, dessen Wesenskern „die Distanz zu jeder möglichen Umgebung” sei, so erwandert auch Hille Polen sich nicht. Tag um Tag steigt er ins Riesengebirge. Ihn treibt die Sehnsucht nach Aussicht und Erdung. Am Ende allen Wanderns steht jedoch die Erkenntnis: „Ich schätze die Berge, aber ich werde sie nie lieben.” Von Polen gilt wohl das Gleiche – man kann es verstehen, ohne es lieben zu müssen. Zärtlich wird der Blick, wenn er genau ist und lakonisch. Zum Abschied kleidet Schlesien sich in ein „Negligé aus Licht”.ALEXANDER KISSLER
ANDRÉ HILLE: Erzähl mir vom Land der Birken. Acht Wochen Schlesien. Plöttner Verlag, Leipzig 2006. 140 Seiten, 12,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Alexander Kissler von diesem Debüt des Leipziger Autors Andre Hille über seinen zwei Monate dauernden Polen-Aufenthalt im ehemaligen Wohnhaus Gerhart Hauptmanns in Agnetendorf. Er würdigt das Buch als eine "moderne Heimatkunde in einem alten Landstrich". Bei den Beschreibung von Wanderungen durchs Riesengebirge und Begegnungen mit Land und Leuten, mit Heimwehtouristen, scheiternden Künstlern, hoffnungsfrohen Familien, Barbesitzern und Kahlgeschorenen erweist sich Hille seines Erachtens als genauer Beobachter mit einem poetischen und oft zärtlichen Blick. Neben der Erkundung Polens sieht er in dem Buch auch das "Werden eines Dichters" protokolliert. Dabei konstatiert er bei beiden Themen, dem Blick auf Polen und dem Blick des Autors auf sich selbst und sein Schreiben, einen "Abschied vom Einfachen und Eindeutigen".

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