Es geht in diesem Buch um die alte sokratische Frage, "wie man leben soll", also um die Beziehung des Menschen zu seinem eigenen Leben. Zu ihr gehört an prominenter Stelle das Vorhaben "sich selbst zu erzählen", der Versuch, die eigene Lebensgeschichte abzurunden. In vier Kapiteln widmet sich Dieter Thomä vier Formen des Selbstbezugs: Selbstbestimmung, Selbstfindung, Selbsterfindung und Selbstliebe. Er hegt Zweifel an dem "Modell Lebensgeschichte" und dem zwanghaften Versuch, ein "Selbst" festzuschreiben. Wie kann dann aber der Umgang mit dem eigenen Leben aussehen?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998Erzähl kein Blech, dir geht's doch gold
Dieter Thomä rettet das Leben vor der Biographie / Von Richard Kämmerlings
Tagebücher, die zu genau werden", so notierte Elias Canetti einmal, "sind das Ende der Freiheit." Der Verfasser einer dreibändigen Autobiographie wußte um die Last, die eine fixierte Vergangenheit für das Ich bedeuten kann: Wer seine Biographie erzählt, legt sich fest. Nicht zuletzt das skeptische Votum der Literatur brachte den Philosophen Dieter Thomä zum Nachdenken über die Frage nach dem Nutzen der Erzählung für das Leben. Seine Kritik der allseits bezeugten Wertschätzung der Lebensgeschichte hat zweifellos ihr Recht, denn der biographische Diskurs ist im Gefolge des narrative turn der Humanwissenschaften längst inflationär geworden. Auch hinter der Aufforderung, Ost- und Westdeutsche mögen einander ihre Biographien erzählen, steckt die Annahme, daß Annäherung nur über die umfassende Lebensgeschichte einer Person möglich sei: private Begegnungen nach dem Modell des Vorstellungsgesprächs, in dem jede Lücke im Lebenslauf gleich verdächtig ist.
Praktische Philosophen wie Hannah Arendt fordern, "daß man im Leben darauf hinwirken muß, eine Geschichte wahr werden zu lassen". Thomä kann jedoch zeigen, daß dieses Muß weder für die Realisierung eines guten noch eines glücklichen Lebens gilt. Beispielsweise ist die Übernahme von Verantwortung zwar an ein Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit gekoppelt, sie kann jedoch weite Bereiche des eigenen Lebens getrost ausblenden. Ein in sich geschlossener Lebenszusammenhang ist andererseits auch nicht der Königsweg zum Daseinsglück. Denn dabei wird das Unerwartet-Episodenhafte des Glücks außer acht gelassen, das sich dem Kausalitätszwang einer Story nicht fügt. Erzählerische Ordnung ist nur das halbe Leben.
Thomä mustert verschiedene Versuche, das Verhältnis von Selbst und Lebensgeschichte zu fassen, indem er drei Haupttypen des Selbstverhältnisses unterscheidet: Selbstbestimmung (Kierkegaard, Habermas, Rawls), Selbstfindung (MacIntyre) und Selbsterfindung (Nietzsche, Rorty). Thomäs Grundthese lautet, daß von einem philosophischen Standpunkt her nicht begründbar sei, daß die Vergewisserung über die eigene Lebensgeschichte die Gegenwart bereichere oder gar in irgendeiner Weise zwingend wäre: "Beim Leben handelt es sich - anders als bei den Postwertzeichen aus DDR-Produktion - nicht um ein abgeschlossenes Sammelgebiet."
Theorien der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung führen nach Thomä in das Dilemma, von einem Begriff der autonomen Person ausgehen zu müssen, diese jedoch nur negativ als Abwehr jeglicher Heteronomie definieren zu können. Wenn aber, wie etwa bei John Rawls, Lebensform und Stellenwert der Autonomie wechselseitig aufeinander bezogen sind, bleibt unklar, wie sich eine Person denn nun zu ihrer Geschichte verhalten soll. Autonomie ist eine Setzung mit wünschenswerten politischen Konsequenzen, sie taugt jedoch nicht zur Begründung des Selbst. Der Widerruf der eigenen Geschichte führt im Extremfall zum Selbstverlust. Wer sich mit dem Scheuermittel der Selbstbestimmung zur tabula rasa blankputzt, den ergreift vielleicht die lähmende Angst vor dem leeren Blatt.
In das entgegengesetzte Extrem führen die Überlegungen Alasdair MacIntyres, dessen Variante des Kommunitarismus den Menschen als "ein Geschichten erzählendes Tier" versteht. In der Lebenserzählung begegnet der Mensch sich demnach selbst als Protagonisten, dessen vergangene Handlungen das zukünftige Leben vorschreiben. Sich über Traditionen und Kontexte hinwegzusetzen hieße, so MacIntyre, der Fiktion des liberalistischen, bindungslosen Individuums anheimzufallen. Es gebe aber ein Recht auf Zusammenhanglosigkeit. Die Narration wird erste Bürgerpflicht, der Erzählstrang Leitfaden der Tugend. Thomäs Kritik setzt bei der vermeintlichen Unveränderlichkeit der Erzählung an: Tatsächlich könne jede Lebensgeschichte zu einem späteren Zeitpunkt durch eine andere überschrieben werden; es gebe nicht die sich einfach nach dem Modell "Leben plus Zeit gleich Geschichte" von selbst fortschreibende Lebenserzählung.
Die naheliegende Schlußfolgerung ist die Profilierung der kreativen Autorschaft im autobiographischen Prozeß, wie sie Richard Rorty in seinem Konzept der Selbsterfindung vornimmt. In "Kontingenz, Ironie und Solidarität" entwirft er ein Modell von Individualität als Originalität, die sich in einem unabschließbaren Prozeß narrativer Selbstschöpfung äußert: Wir sind die Geschichten, die wir von uns selbst erzählen. Indem die Person als "fleischgewordenes Vokabular" (Rorty) nichts jenseits ihrer sprachlichen Verfaßtheit ist, wird nach Thomä unterschwellig eine normative Ebene eingeführt, die die Originalität der Lebenserzählung zum Maßstab der gelungenen Existenz macht: Jeder ist seine eigene Subkultur.
Rortys antimetaphysischem Selbstverständnis zum Trotz sieht Thomä in seinen Worten eine starke These über die Natur des Menschen versteckt. Was, wenn jemand sein Glück zu finden glaubt, indem er in traditionellen Lebensformen aufgeht? Der Zwang zur Abweichung führt in eine Paradoxie: Denn das Individuum ist selber nicht in der Lage, seinem self-fashioning den Unbedenklichkeitsstempel richtigen Lebens zu verleihen. Genie und Wahnsinn sind nur im gesellschaftlichen Rahmen zu unterscheiden. Die Geistesblitze des autonomen Selbsterfinders stecken entweder auch anderen ein Licht auf oder schlagen in soziales Niemandsland ein. Wenn das selbstgeschaffene "Vokabular" jedoch auf Gleichgesinnte stößt, ja, wenn es überhaupt verstanden wird, müssen bei jedem Selfmademan bereits die Warnglocken der Konventionalität schrillen.
Ausgehend von der aristotelischen Selbstliebe und Rousseaus "Gefühl der eigenen Existenz", entwirft Thomä dann seine Konzeption des Selbstbezugs, die eine bedingungslose Zustimmung zum eigenen Leben meint, ohne sich auf bestimmte Eigenschaften des Selbst zu richten. Der "Existenz" im Sinne Rousseaus "widmet sich ein Gefühl, das alle Empfindungen begleiten kann: die Erfahrung, daß das jeweilige Tun und Lassen mich unterbietet, meine Existenz, das, was meine Natur ausmacht, nicht ausschöpft."
In der "Kommunikation mit dem inneren Ozean" (Emerson) transzendiere ich die konkreten Erfahrungen und Situationen, indem ich die "Unergründlichkeit" meines Lebens (Plessner) auslote. Die Narration wird durch diese Zustimmung zum Lebensganzen von der Aufgabe entlastet, das Selbst qualitativ zu bestimmen. Wie in jeder Beziehung gilt auch hier: Man muß sich nicht kennen, um sich zu lieben. Die Neigung zu sich selbst ist amour fou. Biographische Selbsttäuschungen und kreative Gesamtentwürfe sind dann überflüssig. Und was sich der erzählerischen Wiedergabe entzieht - etwa Gefühlsausbrüche -, gehört eben zu jenem Selbst, das den eigenen Geschichten exzentrisch gegenübersteht. Thomä spricht gar von der inhärenten "Borniertheit" einer solchen "verlustfreien" Erzählung, die der Fülle des Daseins nie gerecht werden kann. Die ratgebende "Moral von der Geschichte" spielt er gegen den ungreifbaren "Sinn des Lebens" aus.
Thomäs "Ethik der Erzählung" verkündet das Gebot des Maßhaltens. Anstatt das ganze Leben in einer Erzählung zu verzehren, wird auch das Unverdauliche geachtet: "Man blickt über den Tellerrand hinaus, auf dem man das Leben angerichtet hat, und kostet sich aus, wenn dies bitter sein mag." Gegen diesen unwiderstehlich vorgetragenen Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit wäre allenfalls einzuwenden, daß Thomä das Medium der Selbsterzählung nicht berücksichtigt: Zwar mag die Abstraktionsebene gerade Verallgemeinerbarkeit garantieren. Es ist aber keineswegs nebensächlich, ob mein Text in Schriftform vorliegt, ob ich mündlich über mich Auskunft gebe oder mir etwa nur in Gedanken einen Reim auf die holprigen Verse meines Lebensgedichts mache. Denn wie jeder Archivar weiß, bestimmt das Medium die Haltbarkeit der Überlieferung: Während mich mein Geschwätz von gestern nicht bekümmern muß, pocht ein veröffentlichter Text auf Verbindlichkeit.
Außerdem ist es irreführend, wenn Thomä seine erzähltheoretische Begründung vom Vorrang des Fragmentarischen im Anschluß an die Dostojewski-Deutungen von Michail Bachtin und Georg Lukács gewinnt. Lukács hat zwar in der Tat ein Gegenmodell zur biographischen Form des Bildungsromans gesucht. Seine Rehabilitierung des Epischen als gesellschaftliche Totalität und Bachtins Konzept der (ebenfalls vor allem sozial definierten) Vielstimmigkeit müßten allerdings auf den individuellen Rahmen erst einmal zugeschnitten werden.
Das sind freilich marginale Einwände gegen ein außergewöhnliches philosophisches Buch, das jenseits der unproduktiven Frontstellung zwischen analytischer und kontinentaler Denktradition angesiedelt ist. Es dürfte in Deutschland wenige vergleichbare Beispiele für eine Wissenschaftsprosa geben, die - ohne je das argumentative Niveau der Fachdiskussion zu verlassen - so verständlich geschrieben ist, daß sie auch interessierten Laien zugänglich ist. Immer wieder faßt Thomä seine Argumentation anschaulich zusammen und findet einprägsame Beispiele, die deutlich machen, daß seine Denkanstrengung kein akademischer Selbstzweck ist, sondern aus der Lebenspraxis motiviert ist. So erreicht er selber das Ziel, das er der Erzählung setzt, nämlich Rat zu geben, ohne Vorschriften zu machen. Er zeigt, daß man leben kann, ohne sein Leben (ganz) zu erzählen. Die Liebe zur Weisheit und die Liebe zum Selbst können übereinkommen. Man muß sich den Philosophen als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Dieter Thomä: "Erzähle dich selbst". Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Verlag C. H. Beck, München 1998. 353 S., br., 68,- DM.
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Dieter Thomä rettet das Leben vor der Biographie / Von Richard Kämmerlings
Tagebücher, die zu genau werden", so notierte Elias Canetti einmal, "sind das Ende der Freiheit." Der Verfasser einer dreibändigen Autobiographie wußte um die Last, die eine fixierte Vergangenheit für das Ich bedeuten kann: Wer seine Biographie erzählt, legt sich fest. Nicht zuletzt das skeptische Votum der Literatur brachte den Philosophen Dieter Thomä zum Nachdenken über die Frage nach dem Nutzen der Erzählung für das Leben. Seine Kritik der allseits bezeugten Wertschätzung der Lebensgeschichte hat zweifellos ihr Recht, denn der biographische Diskurs ist im Gefolge des narrative turn der Humanwissenschaften längst inflationär geworden. Auch hinter der Aufforderung, Ost- und Westdeutsche mögen einander ihre Biographien erzählen, steckt die Annahme, daß Annäherung nur über die umfassende Lebensgeschichte einer Person möglich sei: private Begegnungen nach dem Modell des Vorstellungsgesprächs, in dem jede Lücke im Lebenslauf gleich verdächtig ist.
Praktische Philosophen wie Hannah Arendt fordern, "daß man im Leben darauf hinwirken muß, eine Geschichte wahr werden zu lassen". Thomä kann jedoch zeigen, daß dieses Muß weder für die Realisierung eines guten noch eines glücklichen Lebens gilt. Beispielsweise ist die Übernahme von Verantwortung zwar an ein Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit gekoppelt, sie kann jedoch weite Bereiche des eigenen Lebens getrost ausblenden. Ein in sich geschlossener Lebenszusammenhang ist andererseits auch nicht der Königsweg zum Daseinsglück. Denn dabei wird das Unerwartet-Episodenhafte des Glücks außer acht gelassen, das sich dem Kausalitätszwang einer Story nicht fügt. Erzählerische Ordnung ist nur das halbe Leben.
Thomä mustert verschiedene Versuche, das Verhältnis von Selbst und Lebensgeschichte zu fassen, indem er drei Haupttypen des Selbstverhältnisses unterscheidet: Selbstbestimmung (Kierkegaard, Habermas, Rawls), Selbstfindung (MacIntyre) und Selbsterfindung (Nietzsche, Rorty). Thomäs Grundthese lautet, daß von einem philosophischen Standpunkt her nicht begründbar sei, daß die Vergewisserung über die eigene Lebensgeschichte die Gegenwart bereichere oder gar in irgendeiner Weise zwingend wäre: "Beim Leben handelt es sich - anders als bei den Postwertzeichen aus DDR-Produktion - nicht um ein abgeschlossenes Sammelgebiet."
Theorien der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung führen nach Thomä in das Dilemma, von einem Begriff der autonomen Person ausgehen zu müssen, diese jedoch nur negativ als Abwehr jeglicher Heteronomie definieren zu können. Wenn aber, wie etwa bei John Rawls, Lebensform und Stellenwert der Autonomie wechselseitig aufeinander bezogen sind, bleibt unklar, wie sich eine Person denn nun zu ihrer Geschichte verhalten soll. Autonomie ist eine Setzung mit wünschenswerten politischen Konsequenzen, sie taugt jedoch nicht zur Begründung des Selbst. Der Widerruf der eigenen Geschichte führt im Extremfall zum Selbstverlust. Wer sich mit dem Scheuermittel der Selbstbestimmung zur tabula rasa blankputzt, den ergreift vielleicht die lähmende Angst vor dem leeren Blatt.
In das entgegengesetzte Extrem führen die Überlegungen Alasdair MacIntyres, dessen Variante des Kommunitarismus den Menschen als "ein Geschichten erzählendes Tier" versteht. In der Lebenserzählung begegnet der Mensch sich demnach selbst als Protagonisten, dessen vergangene Handlungen das zukünftige Leben vorschreiben. Sich über Traditionen und Kontexte hinwegzusetzen hieße, so MacIntyre, der Fiktion des liberalistischen, bindungslosen Individuums anheimzufallen. Es gebe aber ein Recht auf Zusammenhanglosigkeit. Die Narration wird erste Bürgerpflicht, der Erzählstrang Leitfaden der Tugend. Thomäs Kritik setzt bei der vermeintlichen Unveränderlichkeit der Erzählung an: Tatsächlich könne jede Lebensgeschichte zu einem späteren Zeitpunkt durch eine andere überschrieben werden; es gebe nicht die sich einfach nach dem Modell "Leben plus Zeit gleich Geschichte" von selbst fortschreibende Lebenserzählung.
Die naheliegende Schlußfolgerung ist die Profilierung der kreativen Autorschaft im autobiographischen Prozeß, wie sie Richard Rorty in seinem Konzept der Selbsterfindung vornimmt. In "Kontingenz, Ironie und Solidarität" entwirft er ein Modell von Individualität als Originalität, die sich in einem unabschließbaren Prozeß narrativer Selbstschöpfung äußert: Wir sind die Geschichten, die wir von uns selbst erzählen. Indem die Person als "fleischgewordenes Vokabular" (Rorty) nichts jenseits ihrer sprachlichen Verfaßtheit ist, wird nach Thomä unterschwellig eine normative Ebene eingeführt, die die Originalität der Lebenserzählung zum Maßstab der gelungenen Existenz macht: Jeder ist seine eigene Subkultur.
Rortys antimetaphysischem Selbstverständnis zum Trotz sieht Thomä in seinen Worten eine starke These über die Natur des Menschen versteckt. Was, wenn jemand sein Glück zu finden glaubt, indem er in traditionellen Lebensformen aufgeht? Der Zwang zur Abweichung führt in eine Paradoxie: Denn das Individuum ist selber nicht in der Lage, seinem self-fashioning den Unbedenklichkeitsstempel richtigen Lebens zu verleihen. Genie und Wahnsinn sind nur im gesellschaftlichen Rahmen zu unterscheiden. Die Geistesblitze des autonomen Selbsterfinders stecken entweder auch anderen ein Licht auf oder schlagen in soziales Niemandsland ein. Wenn das selbstgeschaffene "Vokabular" jedoch auf Gleichgesinnte stößt, ja, wenn es überhaupt verstanden wird, müssen bei jedem Selfmademan bereits die Warnglocken der Konventionalität schrillen.
Ausgehend von der aristotelischen Selbstliebe und Rousseaus "Gefühl der eigenen Existenz", entwirft Thomä dann seine Konzeption des Selbstbezugs, die eine bedingungslose Zustimmung zum eigenen Leben meint, ohne sich auf bestimmte Eigenschaften des Selbst zu richten. Der "Existenz" im Sinne Rousseaus "widmet sich ein Gefühl, das alle Empfindungen begleiten kann: die Erfahrung, daß das jeweilige Tun und Lassen mich unterbietet, meine Existenz, das, was meine Natur ausmacht, nicht ausschöpft."
In der "Kommunikation mit dem inneren Ozean" (Emerson) transzendiere ich die konkreten Erfahrungen und Situationen, indem ich die "Unergründlichkeit" meines Lebens (Plessner) auslote. Die Narration wird durch diese Zustimmung zum Lebensganzen von der Aufgabe entlastet, das Selbst qualitativ zu bestimmen. Wie in jeder Beziehung gilt auch hier: Man muß sich nicht kennen, um sich zu lieben. Die Neigung zu sich selbst ist amour fou. Biographische Selbsttäuschungen und kreative Gesamtentwürfe sind dann überflüssig. Und was sich der erzählerischen Wiedergabe entzieht - etwa Gefühlsausbrüche -, gehört eben zu jenem Selbst, das den eigenen Geschichten exzentrisch gegenübersteht. Thomä spricht gar von der inhärenten "Borniertheit" einer solchen "verlustfreien" Erzählung, die der Fülle des Daseins nie gerecht werden kann. Die ratgebende "Moral von der Geschichte" spielt er gegen den ungreifbaren "Sinn des Lebens" aus.
Thomäs "Ethik der Erzählung" verkündet das Gebot des Maßhaltens. Anstatt das ganze Leben in einer Erzählung zu verzehren, wird auch das Unverdauliche geachtet: "Man blickt über den Tellerrand hinaus, auf dem man das Leben angerichtet hat, und kostet sich aus, wenn dies bitter sein mag." Gegen diesen unwiderstehlich vorgetragenen Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit wäre allenfalls einzuwenden, daß Thomä das Medium der Selbsterzählung nicht berücksichtigt: Zwar mag die Abstraktionsebene gerade Verallgemeinerbarkeit garantieren. Es ist aber keineswegs nebensächlich, ob mein Text in Schriftform vorliegt, ob ich mündlich über mich Auskunft gebe oder mir etwa nur in Gedanken einen Reim auf die holprigen Verse meines Lebensgedichts mache. Denn wie jeder Archivar weiß, bestimmt das Medium die Haltbarkeit der Überlieferung: Während mich mein Geschwätz von gestern nicht bekümmern muß, pocht ein veröffentlichter Text auf Verbindlichkeit.
Außerdem ist es irreführend, wenn Thomä seine erzähltheoretische Begründung vom Vorrang des Fragmentarischen im Anschluß an die Dostojewski-Deutungen von Michail Bachtin und Georg Lukács gewinnt. Lukács hat zwar in der Tat ein Gegenmodell zur biographischen Form des Bildungsromans gesucht. Seine Rehabilitierung des Epischen als gesellschaftliche Totalität und Bachtins Konzept der (ebenfalls vor allem sozial definierten) Vielstimmigkeit müßten allerdings auf den individuellen Rahmen erst einmal zugeschnitten werden.
Das sind freilich marginale Einwände gegen ein außergewöhnliches philosophisches Buch, das jenseits der unproduktiven Frontstellung zwischen analytischer und kontinentaler Denktradition angesiedelt ist. Es dürfte in Deutschland wenige vergleichbare Beispiele für eine Wissenschaftsprosa geben, die - ohne je das argumentative Niveau der Fachdiskussion zu verlassen - so verständlich geschrieben ist, daß sie auch interessierten Laien zugänglich ist. Immer wieder faßt Thomä seine Argumentation anschaulich zusammen und findet einprägsame Beispiele, die deutlich machen, daß seine Denkanstrengung kein akademischer Selbstzweck ist, sondern aus der Lebenspraxis motiviert ist. So erreicht er selber das Ziel, das er der Erzählung setzt, nämlich Rat zu geben, ohne Vorschriften zu machen. Er zeigt, daß man leben kann, ohne sein Leben (ganz) zu erzählen. Die Liebe zur Weisheit und die Liebe zum Selbst können übereinkommen. Man muß sich den Philosophen als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Dieter Thomä: "Erzähle dich selbst". Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Verlag C. H. Beck, München 1998. 353 S., br., 68,- DM.
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