Eine starke Geschichte kann die Welt retten - oder sie zerstören. Sie kann Wahlen entscheiden, Menschenleben retten, aber auch Kriege auslösen und Ungerechtigkeit zementieren. Samira El Ouassil und Friedemann Karig verfolgen diese ambivalente Wirkungsmacht anhand wichtiger Narrative von der Antike bis zur Gegenwart. Und sie zeigen, welche Erzählungen uns heute gefährden und warum wir neue benötigen. Wie gelingt es, den Klimawandel so zu erzählen, dass er zum Handeln drängt? Aus welchen Überlegenheitsmythen entstehen Rassismus und Antisemitismus? Mit welchen Storys manipulierte Trump seine Anhänger, und weshalb verfangen die Lügen der Querdenker und Verschwörungsideologen? Was erzählen wir seit jeher über uns selbst - als Deutsche, als Europäer, als Humanist_innen, über unsere Republik? Gibt es Alternativen dazu? Wie könnte eine wirkungsmächtige neuen Erzählung der Aufklärung aussehen?Geschichten sind ein maßgeblicher Teil unserer Sozialisation. Sie durchdringen Politik, Medien und Kultur, lehren uns, unterhalten uns, verführen uns, beeinflussen unsere Wirklichkeitswahrnehmung - vom griechischen Drama bis zur Netflix-Serie.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Im Käfig voller Narrative
Kann man politische Probleme wirklich vor
allem mit verbaler Power lösen?
VON MEREDITH HAAF
Das „Narrativ“ gehört zu den Schlagwörtern, die im Bescheidwisser-Milieu der sozialen Medien besonders beliebt sind. Das eigene Narrativ zu kontrollieren – also die Erzählung über sich selbst –, ist eine wichtige rhetorische Figur heutiger Emanzipationsbestrebungen. Sprachpolitik und „Framing“-Analysen liefern Futter für Auseinandersetzungen und wecken die Hoffnung friedliebender Geister, dass man politische Probleme doch mit verbaler Power lösen kann.
Nun kommt von dem Podcast- und Autorenduo Samira El Ouassil und Friedemann Karig ein Buch, das sich anliest wie ein großer Wurf zu den Narrativen, aus denen die Welt möglicherweise gestrickt ist. „Erzählende Affen“ ist ein Sachbuch, erzählt aber dennoch eine Geschichte: Die vom homo narrans, dem Wesen, das erklärungs- und unterhaltungsbegabt zugleich ist, und sich aus seiner besonderen Fähigkeit einen narrativen Käfig von Helden- und Feindesgeschichten gebaut hat, dem es entkommen muss, will es sich und seinen Planeten noch retten. „Wir (...) glauben, dass die Schemata, die Beschaffenheit, die Ausprägung und vor allem die eingebetteten Botschaften etlicher unserer heutigen Geschichten letztlich schuld an vielen Miseren unserer Welt sind“, heißt es. Bessere, andere Geschichten zu erzählen, mit weniger individuellem Heldentum und der Komplexität der Gegenwart gerecht, sei ein wichtiger Schritt zur Beseitigung von Rassismus, Umweltverschmutzung oder Geschlechterungerechtigkeit.
Dass das auch ein bisschen wie eine Marketing-Phrase klingt, wissen die beiden natürlich. Das Buch, gegliedert in zwölf Kapitel einer Heldenreise, bietet zur Einführung viel kommunikations- und sprachwissenschaftliches Grundwissen. Die Geschichte des Geschichtenerzählens von der Höhle über die PR bis zum Gaming ist souverän und unterhaltsam zusammengetragen. Beim Schreiben haben El Ouassil und Karig offensichtlich Spaß gehabt, es gibt zahllose verspielte Fußnoten und schöne Stellen, wie etwas diese: „Was bedeutet Respekt? Ein Nichtangriffspakt auf allen Ebenen. Ein egalitäres Wohlwollen. Ein Grundeinkommen an Wertschätzung.“ Die Grundlagenrecherche ist breit. Die beiden haben schier alles gelesen: Fritz Breithaupt, Walter Benjamin, Lynn Hunt, Will Stor, Wolfgang Prinz, Lyotard, Kant, Elisabeth Wehling, Hannah Arendt. Die Erzählungen, die sie sich vornehmen, stammen mit Vorliebe aus der Antike und aus Hollywood, so wird in einem (recht kurzen) Kapitel über frauenfeindliche Erzählungen in zwei Seiten der Bogen von der Büchse der Pandora zu „Pretty Woman“ gespannt.
El Ouassil und Karig betonen, wie sehr die Entwicklung digitaler Identität in den vergangenen Jahrzehnten das ohnehin eher junge Genre Selbsterzählung revolutioniert und verformt hat: „Galt es früher als aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreich, wenn einem überhaupt jemand zuhörte, und sei es nur am Stammtisch nach dem fünften Bier, gilt heute alles unter 10 000 Followern als vernachlässigbar. Das liegt an dem, was Bröckling das ,asymmetrische Blickregime‘ nennt: Heldinnen brauchen immer „ein Publikum, das zu ihnen aufschaut.“ Es geht natürlich auch viel um Selbstdarstellung auf Instagram, wo El Ouassil und Karig ihr Buch in Postings übrigens auch selbst schon profimäßig als „krasses Buch zur Gegenwart“ framen.
Alles, was an Geschichten und Erzählungen so im gehobenen Durchschnittsmedienkonsumentengehirn herumgeistert, ist ihnen eine Erwähnung und eine Analyse wert, wobei Franchise-Filme wie „Star Wars“ und intelligente Blockbuster besonders häufig herangezogen werden. Analytisch wird es wackelig, wenn der Faschismus mal eben als todessehnsüchtige, gegenwartsfixierte Ideologie wegerzählt wird. Stilistisch entsteht so manchmal unfreiwillige Komik, wenn zum Beispiel ein historisch gesicherter, realer Sprachphilosoph referenziell dieselbe Behandlung erfährt wie ein fiktiver Filmprotagonist. Ein Absatz fängt so an: „Wie Ludwig Wittgenstein erkannte: Auch Worte sind Taten.“ Ein anderer so: „Der Merowinger (eine Figur aus der Matrix-Trilogie, Anm. d. Red.) hat recht: Erst wenn wir verstehen, warum Dinge passieren, erlangen wir Macht. Oder zumindest die Illusion davon.“
Letzteres Zitat ist ein gutes Beispiel für die Schlaglöcher, die sich in der Logik des Buches auftun, je weiter man darin liest. Was denn nun: Gelangt man zu Macht, indem man versteht? Oder fühlt man sich lediglich ermächtigt? Überhaupt fragt man sich: Was genau verstehen die Autoren jenseits narrativer Deutungshoheit unter Macht? Und schließlich: Was erwarten sie sich von dieser erzählerischen Ermächtigungsbewegung, die sie fordern?
Eine Art Antwort geben El Ouassil und Karig in dem Kapitel, das sich der Klimakrise widmet. Das Klima, so die nicht ganz taufrische These, werde „falsch erzählt“, wobei diese verwirrende Formulierung ganz gut passt zu dem etwas verwirrenden Aggregat von Kritikpunkten: Journalisten berichten falsch, Klima-Aktivistinnen reden zu viel von Verboten, wir sind nicht alle individuell die Bösen, sondern es gibt konkrete Klimavergiftungs-Profiteure, die es zu bekämpfen gilt, aber es sollen sich trotzdem alle verantwortlich fühlen. Immer wenn Karig und El Ouassil konstruktiv werden – und man muss ihnen zugute halten, dass ihnen daran wirklich viel gelegen ist –, verfallen sie leider auch in eine Art Kommunikationsberatungs-Jargon: „Man benötigt weiterhin einen Journalismus, der das Problem verständlich macht und dessen Tragweite vermittelt, aber man braucht ebenso eine konstruktive, lösungsorientierte Berichterstattung, um Verhaltensänderung zu inspirieren.“
Die kollektive Verhaltensänderung – „die richtigen Lehren ziehen“ – scheint permanent als eine Art Heiliger Gral der aufgeklärten Aufklärung durch den Text. In glühenden Worten wird zum Beispiel die gesellschaftliche Chance in der Pandemie beschrieben: „Corona könnte uns nun zum Beispiel lehren, dass wir anders von unseren Kollektiven und ihrer Zukunft erzählen sollten. Wie das geschehen kann, lässt sich vielleicht anhand der vorausschauenden No-Covid-Politik der neuseeländischen Regierung erahnen, die diese erfolgreich mit einem Narrativ des Konnektivs verband.“ Möglicherweise denken nach den vergangenen zwei Jahren wohl mehr Menschen eher an die Verheerungen, die kollektive Verhaltensänderungen im persönlichen und gemeinschaftlichen Gesamtzustand hinterlassen haben.
Trotzdem ist es interessant, wie die Autoren die Pandemie diskursiv bewerten. Es ist eigentlich egal, wie genau das Coronavirus ausbrach, die Suche nach Schuldigen und Helden laufe ins Leere, die Labortheorie lenke vom Wesentlichen ab: Genug sei darüber bekannt, dass das Vorrücken des Menschen in die Wildnis, der ausbeuterische Kontakt zwischen Mensch und Tier und die rasante Bewegung von Individuen und Gütern zu den Ursachen zählen. Die Entscheidung, die komplizierten, großen Zusammenhänge als eigentliche Geschichte zu erkennen und auf den Thriller über das Wuhan-Labor zu verzichten, ist aus ihrer Sicht eine Art Rote-Pille-Blaue-Pille-Situation (siehe „Matrix“-Trilogie) der Menschheit: „Die Art und Weise, in der wir an vielen Stellen hochgradig fahrlässig in Ökosysteme eingreifen, ist mehr als selbstzerstörerisch. Entweder wird diese Pandemie also in hundert Jahren rückblickend als ein Wendepunkt unserer Zivilisationen gesehen werden – oder aber es wird in hundert Jahren kaum mehr jemanden geben, der noch auf sie zurückblicken kann.“
Dass sie mit solchen Sätzen selbst ein längst etabliertes, betont drastisches Narrativ bedienen – „wenn wir jetzt nicht alles dem Kampf gegen die Erderwärmung unterordnen, werden unsere Nachkommen alle sterben“ –, ist solch reflektierten Autoren sicherlich nicht entgangen. Aber wer es vorher nicht schon war, ist natürlich nach der Lektüre dieses sprachphilosophischen, kommunikationswissenschaftlichen Gewaltmarschs durchaus sensibilisiert dafür, dass eine maximalistische Formulierung wie „unser verklärter, kaputter, suizidaler Status quo“ eben eine Formulierung ist, und die Geißelung „unseres zersetzenden Lebensstils“ vielleicht einfach ein Narrativ, das die „Entscheidung für das Richtige“ vorantreiben soll.
Wie wäre es, schlagen die Autoren vor, wenn man etwa den Fleischkonsum einer kollektiven moralischen Kehrtwende unterzöge? „Er wird oft mit dem Hinweis auf die individuelle Freiheit verteidigt, so als gäbe es nichts Edleres und Befreienderes als ein abgepacktes Stück Tier im Supermarkt zu kaufen und zu Hause zu verspeisen“, mokieren sich El Ouassil und Karig.
Argumentativ zeigen sie hier sehr deutlich, wie eng die Grenzen narrativer Analysen sind, wenn sie isoliert von anderen Faktoren ins Feld geführt werden. Es spricht überhaupt nichts dagegen, einen narrativen Kampf gegen den Fleischkonsum zu führen, das ist klar. Aber wenn man die stetig expandierenden Sortimente im Fleischfrei-Kühlregal richtig deutet, läuft es auf der kulturellen Ebene sowieso ganz gut. Am Ende ist die Fleischindustrie doch vor allem auch eine materielle Tatsache, ein globales Milliardengeschäft, und nur außerdem kulturelle Praxis.
Sie wird von internationalen Konzernen, Interessensverbänden und Staatsoberhäuptern verteidigt, und der Hinweis auf individuelle Freiheit ist dabei das kleinste Gewehr im Arsenal. Diese „Macht der Narrative“ existiert fraglos, ist aber eben auch: ein Narrativ für eine Zeit, in der Menschen auf der ganzen Welt ununterbrochen Texte und Bilder konsumieren und produzieren. Eines, das verlockend ist für diejenigen, die am liebsten mit Worten handeln. Die Gefahr, die darin liegt, ist die Banalisierung der Taten.
„Was bedeutet Respekt?
Ein Nichtangriffspakt auf
allen Ebenen.“
Die „Macht der Narrative“
ist auch ein Narrativ
für die Gegenwart
Dieser Lagerraum gehört der Firma Achilles, befindet sich in Landau in der Pfalz und enthält ausschließlich Folien. Diese Folien dienen zur Veredelung der Cover, man benutzt sie für Prägungen oder einfach für einen schützenden Überzug.
Samira El Ouassil,
Friedemann Karig:
Erzählende Affen.
Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
528 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kann man politische Probleme wirklich vor
allem mit verbaler Power lösen?
VON MEREDITH HAAF
Das „Narrativ“ gehört zu den Schlagwörtern, die im Bescheidwisser-Milieu der sozialen Medien besonders beliebt sind. Das eigene Narrativ zu kontrollieren – also die Erzählung über sich selbst –, ist eine wichtige rhetorische Figur heutiger Emanzipationsbestrebungen. Sprachpolitik und „Framing“-Analysen liefern Futter für Auseinandersetzungen und wecken die Hoffnung friedliebender Geister, dass man politische Probleme doch mit verbaler Power lösen kann.
Nun kommt von dem Podcast- und Autorenduo Samira El Ouassil und Friedemann Karig ein Buch, das sich anliest wie ein großer Wurf zu den Narrativen, aus denen die Welt möglicherweise gestrickt ist. „Erzählende Affen“ ist ein Sachbuch, erzählt aber dennoch eine Geschichte: Die vom homo narrans, dem Wesen, das erklärungs- und unterhaltungsbegabt zugleich ist, und sich aus seiner besonderen Fähigkeit einen narrativen Käfig von Helden- und Feindesgeschichten gebaut hat, dem es entkommen muss, will es sich und seinen Planeten noch retten. „Wir (...) glauben, dass die Schemata, die Beschaffenheit, die Ausprägung und vor allem die eingebetteten Botschaften etlicher unserer heutigen Geschichten letztlich schuld an vielen Miseren unserer Welt sind“, heißt es. Bessere, andere Geschichten zu erzählen, mit weniger individuellem Heldentum und der Komplexität der Gegenwart gerecht, sei ein wichtiger Schritt zur Beseitigung von Rassismus, Umweltverschmutzung oder Geschlechterungerechtigkeit.
Dass das auch ein bisschen wie eine Marketing-Phrase klingt, wissen die beiden natürlich. Das Buch, gegliedert in zwölf Kapitel einer Heldenreise, bietet zur Einführung viel kommunikations- und sprachwissenschaftliches Grundwissen. Die Geschichte des Geschichtenerzählens von der Höhle über die PR bis zum Gaming ist souverän und unterhaltsam zusammengetragen. Beim Schreiben haben El Ouassil und Karig offensichtlich Spaß gehabt, es gibt zahllose verspielte Fußnoten und schöne Stellen, wie etwas diese: „Was bedeutet Respekt? Ein Nichtangriffspakt auf allen Ebenen. Ein egalitäres Wohlwollen. Ein Grundeinkommen an Wertschätzung.“ Die Grundlagenrecherche ist breit. Die beiden haben schier alles gelesen: Fritz Breithaupt, Walter Benjamin, Lynn Hunt, Will Stor, Wolfgang Prinz, Lyotard, Kant, Elisabeth Wehling, Hannah Arendt. Die Erzählungen, die sie sich vornehmen, stammen mit Vorliebe aus der Antike und aus Hollywood, so wird in einem (recht kurzen) Kapitel über frauenfeindliche Erzählungen in zwei Seiten der Bogen von der Büchse der Pandora zu „Pretty Woman“ gespannt.
El Ouassil und Karig betonen, wie sehr die Entwicklung digitaler Identität in den vergangenen Jahrzehnten das ohnehin eher junge Genre Selbsterzählung revolutioniert und verformt hat: „Galt es früher als aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreich, wenn einem überhaupt jemand zuhörte, und sei es nur am Stammtisch nach dem fünften Bier, gilt heute alles unter 10 000 Followern als vernachlässigbar. Das liegt an dem, was Bröckling das ,asymmetrische Blickregime‘ nennt: Heldinnen brauchen immer „ein Publikum, das zu ihnen aufschaut.“ Es geht natürlich auch viel um Selbstdarstellung auf Instagram, wo El Ouassil und Karig ihr Buch in Postings übrigens auch selbst schon profimäßig als „krasses Buch zur Gegenwart“ framen.
Alles, was an Geschichten und Erzählungen so im gehobenen Durchschnittsmedienkonsumentengehirn herumgeistert, ist ihnen eine Erwähnung und eine Analyse wert, wobei Franchise-Filme wie „Star Wars“ und intelligente Blockbuster besonders häufig herangezogen werden. Analytisch wird es wackelig, wenn der Faschismus mal eben als todessehnsüchtige, gegenwartsfixierte Ideologie wegerzählt wird. Stilistisch entsteht so manchmal unfreiwillige Komik, wenn zum Beispiel ein historisch gesicherter, realer Sprachphilosoph referenziell dieselbe Behandlung erfährt wie ein fiktiver Filmprotagonist. Ein Absatz fängt so an: „Wie Ludwig Wittgenstein erkannte: Auch Worte sind Taten.“ Ein anderer so: „Der Merowinger (eine Figur aus der Matrix-Trilogie, Anm. d. Red.) hat recht: Erst wenn wir verstehen, warum Dinge passieren, erlangen wir Macht. Oder zumindest die Illusion davon.“
Letzteres Zitat ist ein gutes Beispiel für die Schlaglöcher, die sich in der Logik des Buches auftun, je weiter man darin liest. Was denn nun: Gelangt man zu Macht, indem man versteht? Oder fühlt man sich lediglich ermächtigt? Überhaupt fragt man sich: Was genau verstehen die Autoren jenseits narrativer Deutungshoheit unter Macht? Und schließlich: Was erwarten sie sich von dieser erzählerischen Ermächtigungsbewegung, die sie fordern?
Eine Art Antwort geben El Ouassil und Karig in dem Kapitel, das sich der Klimakrise widmet. Das Klima, so die nicht ganz taufrische These, werde „falsch erzählt“, wobei diese verwirrende Formulierung ganz gut passt zu dem etwas verwirrenden Aggregat von Kritikpunkten: Journalisten berichten falsch, Klima-Aktivistinnen reden zu viel von Verboten, wir sind nicht alle individuell die Bösen, sondern es gibt konkrete Klimavergiftungs-Profiteure, die es zu bekämpfen gilt, aber es sollen sich trotzdem alle verantwortlich fühlen. Immer wenn Karig und El Ouassil konstruktiv werden – und man muss ihnen zugute halten, dass ihnen daran wirklich viel gelegen ist –, verfallen sie leider auch in eine Art Kommunikationsberatungs-Jargon: „Man benötigt weiterhin einen Journalismus, der das Problem verständlich macht und dessen Tragweite vermittelt, aber man braucht ebenso eine konstruktive, lösungsorientierte Berichterstattung, um Verhaltensänderung zu inspirieren.“
Die kollektive Verhaltensänderung – „die richtigen Lehren ziehen“ – scheint permanent als eine Art Heiliger Gral der aufgeklärten Aufklärung durch den Text. In glühenden Worten wird zum Beispiel die gesellschaftliche Chance in der Pandemie beschrieben: „Corona könnte uns nun zum Beispiel lehren, dass wir anders von unseren Kollektiven und ihrer Zukunft erzählen sollten. Wie das geschehen kann, lässt sich vielleicht anhand der vorausschauenden No-Covid-Politik der neuseeländischen Regierung erahnen, die diese erfolgreich mit einem Narrativ des Konnektivs verband.“ Möglicherweise denken nach den vergangenen zwei Jahren wohl mehr Menschen eher an die Verheerungen, die kollektive Verhaltensänderungen im persönlichen und gemeinschaftlichen Gesamtzustand hinterlassen haben.
Trotzdem ist es interessant, wie die Autoren die Pandemie diskursiv bewerten. Es ist eigentlich egal, wie genau das Coronavirus ausbrach, die Suche nach Schuldigen und Helden laufe ins Leere, die Labortheorie lenke vom Wesentlichen ab: Genug sei darüber bekannt, dass das Vorrücken des Menschen in die Wildnis, der ausbeuterische Kontakt zwischen Mensch und Tier und die rasante Bewegung von Individuen und Gütern zu den Ursachen zählen. Die Entscheidung, die komplizierten, großen Zusammenhänge als eigentliche Geschichte zu erkennen und auf den Thriller über das Wuhan-Labor zu verzichten, ist aus ihrer Sicht eine Art Rote-Pille-Blaue-Pille-Situation (siehe „Matrix“-Trilogie) der Menschheit: „Die Art und Weise, in der wir an vielen Stellen hochgradig fahrlässig in Ökosysteme eingreifen, ist mehr als selbstzerstörerisch. Entweder wird diese Pandemie also in hundert Jahren rückblickend als ein Wendepunkt unserer Zivilisationen gesehen werden – oder aber es wird in hundert Jahren kaum mehr jemanden geben, der noch auf sie zurückblicken kann.“
Dass sie mit solchen Sätzen selbst ein längst etabliertes, betont drastisches Narrativ bedienen – „wenn wir jetzt nicht alles dem Kampf gegen die Erderwärmung unterordnen, werden unsere Nachkommen alle sterben“ –, ist solch reflektierten Autoren sicherlich nicht entgangen. Aber wer es vorher nicht schon war, ist natürlich nach der Lektüre dieses sprachphilosophischen, kommunikationswissenschaftlichen Gewaltmarschs durchaus sensibilisiert dafür, dass eine maximalistische Formulierung wie „unser verklärter, kaputter, suizidaler Status quo“ eben eine Formulierung ist, und die Geißelung „unseres zersetzenden Lebensstils“ vielleicht einfach ein Narrativ, das die „Entscheidung für das Richtige“ vorantreiben soll.
Wie wäre es, schlagen die Autoren vor, wenn man etwa den Fleischkonsum einer kollektiven moralischen Kehrtwende unterzöge? „Er wird oft mit dem Hinweis auf die individuelle Freiheit verteidigt, so als gäbe es nichts Edleres und Befreienderes als ein abgepacktes Stück Tier im Supermarkt zu kaufen und zu Hause zu verspeisen“, mokieren sich El Ouassil und Karig.
Argumentativ zeigen sie hier sehr deutlich, wie eng die Grenzen narrativer Analysen sind, wenn sie isoliert von anderen Faktoren ins Feld geführt werden. Es spricht überhaupt nichts dagegen, einen narrativen Kampf gegen den Fleischkonsum zu führen, das ist klar. Aber wenn man die stetig expandierenden Sortimente im Fleischfrei-Kühlregal richtig deutet, läuft es auf der kulturellen Ebene sowieso ganz gut. Am Ende ist die Fleischindustrie doch vor allem auch eine materielle Tatsache, ein globales Milliardengeschäft, und nur außerdem kulturelle Praxis.
Sie wird von internationalen Konzernen, Interessensverbänden und Staatsoberhäuptern verteidigt, und der Hinweis auf individuelle Freiheit ist dabei das kleinste Gewehr im Arsenal. Diese „Macht der Narrative“ existiert fraglos, ist aber eben auch: ein Narrativ für eine Zeit, in der Menschen auf der ganzen Welt ununterbrochen Texte und Bilder konsumieren und produzieren. Eines, das verlockend ist für diejenigen, die am liebsten mit Worten handeln. Die Gefahr, die darin liegt, ist die Banalisierung der Taten.
„Was bedeutet Respekt?
Ein Nichtangriffspakt auf
allen Ebenen.“
Die „Macht der Narrative“
ist auch ein Narrativ
für die Gegenwart
Dieser Lagerraum gehört der Firma Achilles, befindet sich in Landau in der Pfalz und enthält ausschließlich Folien. Diese Folien dienen zur Veredelung der Cover, man benutzt sie für Prägungen oder einfach für einen schützenden Überzug.
Samira El Ouassil,
Friedemann Karig:
Erzählende Affen.
Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
528 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Geschwätzig findet Rezensentin Meredith Haaf dieses Buch der Podcast-Autoren Samira El Ouassil und Friedemann Karig. Die beiden wollen die Welt von den Problemen befreien, von Klimawandel, Fleischkonsum, Rassismus und Faschismus. Das findet Haaf sehr ehrenwert, aber wie die beiden darauf herumreiten, dass sie den Schlüssel zur Lösung aller Probleme gefunden haben, lässt sie mit den Augen rollen: Wir müssen uns andere Geschichten erzählen, andere Narrative, erklären El Ouassil und Karig ein ums andere Mal, so als könnte man mit einem bisschen mehr "verbaler Power" den Klimawandel aufhalten, stöhnt Haaf, und als wäre die Fleischindustrie nur eine kulturelle Praxis und nicht auch ein Milliardengeschäft. Dass sie dabei in wenigen Zeilen den Bogen schlagen von der Antike zum Hollywood-Film, kann Haaf verkraften. Aber dass sie mit Zitaten von Ludwig Wittgenstein genauso oberflächlich umgehen wie mit den Sprüchen des Merowinger aus "Matrix" verursacht ihr doch Bauchschmerzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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