Auf über tausend Druckseiten ein Roman, der im Berlin der Kaiserzeit spielt, der im Italien der 1930er Jahre verfasst wurde. Ein Erstdruck, wegen seiner Freizügigkeit seit Jahrzehnten von den Erben des Autors zurückgehalten. Vor dem Leser entfaltet sich ein Panorama der deutschen Kulturgeschichte von anspruchsvoller stilistischer Eleganz.
Rudolf Borchardt schildert im Alter seine wirklichen und phantasierten Erlebnisse als verbummelter Student im Berlin der Jahrhundertwende - eine tour de force zwischen Wohnungen, Hotels, Restaurants und bei Ausflügen zu Landsitzen des Adels in der Mark und in Mecklenburg, eine Fülle erotischer und sexueller Begegnungen mit dem Dienstpersonal, «Masseusen», Ladenmädchen, Künstlerinnen und Damen der besten Gesellschaft.
Mehr als siebzig Jahre nach dem Tod dieses produktiven Autors, der als Bewahrer des humanistischen Bildungsgutes geehrt, als Lebenskünstler bewundert und von einem kleinen engagierten Kreis editorisch aufgearbeitet wird, geschieht etwas Unerwartetes. Den Leser erwartet ein Zeitroman, zugleich ein Märchen aus dem Berlin des Fin-de-siècle: "Ja ja mein Sohn, und nun denke wieviele es heimlich für Geld tun, wieviele Du einfach ansprechen und mitnehmen kannst, wieviele es aus blosser Liebe und aus Geilheit tun, dann haste ne Ahnung von Berlin wie es weint und lacht. Rede mal mit Ausländern. Für die ist Berlin der Weltpuff, na Deutschland überhaupt. Paris nischt mehr dagegen."
Gleichzeitig mit der Leseausgabe erscheint der Roman hier in der Edition Tenschert bei Rowohlt ausführlich kommentiert und mit umfangreichem editorischen Apparat als erster Band (Teilbände XIV/1 und XIV/2 im Schuber) der neuen, von Gerhard Schuster herausgegebenen kritischen Ausgabe sämtlicher Werke Rudolf Borchardts.
Rudolf Borchardt schildert im Alter seine wirklichen und phantasierten Erlebnisse als verbummelter Student im Berlin der Jahrhundertwende - eine tour de force zwischen Wohnungen, Hotels, Restaurants und bei Ausflügen zu Landsitzen des Adels in der Mark und in Mecklenburg, eine Fülle erotischer und sexueller Begegnungen mit dem Dienstpersonal, «Masseusen», Ladenmädchen, Künstlerinnen und Damen der besten Gesellschaft.
Mehr als siebzig Jahre nach dem Tod dieses produktiven Autors, der als Bewahrer des humanistischen Bildungsgutes geehrt, als Lebenskünstler bewundert und von einem kleinen engagierten Kreis editorisch aufgearbeitet wird, geschieht etwas Unerwartetes. Den Leser erwartet ein Zeitroman, zugleich ein Märchen aus dem Berlin des Fin-de-siècle: "Ja ja mein Sohn, und nun denke wieviele es heimlich für Geld tun, wieviele Du einfach ansprechen und mitnehmen kannst, wieviele es aus blosser Liebe und aus Geilheit tun, dann haste ne Ahnung von Berlin wie es weint und lacht. Rede mal mit Ausländern. Für die ist Berlin der Weltpuff, na Deutschland überhaupt. Paris nischt mehr dagegen."
Gleichzeitig mit der Leseausgabe erscheint der Roman hier in der Edition Tenschert bei Rowohlt ausführlich kommentiert und mit umfangreichem editorischen Apparat als erster Band (Teilbände XIV/1 und XIV/2 im Schuber) der neuen, von Gerhard Schuster herausgegebenen kritischen Ausgabe sämtlicher Werke Rudolf Borchardts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2019Ein reaktionärer Faustschlag gegen den Feminismus?
Rudolf Borchardts nachgelassener Roman "Weltpuff Berlin", verfasst 1938/39 und seither unter Verschluss, liegt jetzt ediert vor. Er ist ein Nonplusultra der erotischen Literatur, aber nicht ohne befremdliche, auch rassistische Momente.
Niemand muss dieses Buch lesen! Wer seinen romantisch-idealistischen Glauben an die eine unverbrüchliche Liebe nicht in Zweifel gezogen und seine Wertschätzung für gut eingehegte Sexualität nicht in Versuchung gebracht sehen mag, soll sich die Lektüre besser nicht antun! Wer sich von detaillierten Schilderungen erregter Organe, stimulierender Handlungen und ekstatischer Befindlichkeiten angewidert fühlt, darf es an keiner Stelle aufschlagen! Wer die Beschreibung von Frauen als erotisch animierend und sexuell begehrenswert prinzipiell für entwürdigend hält, muss sich das Lesen streng verbieten, weil anders er sich zum Komplizen des Autors und zum literarischen Mittäter macht! Und wer den kategorialen Unterschied zwischen literarischen Phantasien und dem baren Leben nicht kennt und bei der Lektüre im Auge behält, läuft Gefahr, an seiner Weltwahrnehmung irre zu werden oder - als Mann - an seinem Ego verzweifeln zu müssen!
Denn was man mit Rudolf Borchardts nachgelassenem Roman "Weltpuff Berlin" aus den Jahren 1938/39 in die Hände bekommt, ist in jeder Hinsicht ein Nonplusultra der erotischen Literatur: ein Maximum von erotischen Begegnungen und sexuellen Akten, von Freizügigkeit und Genießertum, von priapistischer Angeberei und Schamlosigkeit, von Raffinement und Primitivität, von besinnungsloser Triebverfallenheit neben literarisch genährter moralistischer Reflektiertheit sowie - darstellungstechnisch gesehen - von hochtourig Gelegenheiten schaffender Dramaturgie und ingeniöser Beschreibungskunst, von hinreißender Schönheitsschilderung und kruder Pornographie. Zudem eine ausgedehnte Metaphorologie der Liebe. Zugleich ein systematisch entfaltetes Glossarium der Sexualität, das verbotene Derbheiten genauso aufreiht wie gängige Schlüpfrigkeiten und dadaistisch anmutende Wortspiele. Und überdies ein Kompendium der erotischen Mythologie und Bildnerei! Mit all dem wird "Weltpuff Berlin" zu einer Herausforderung für die Urteilskraft, die ins Spannungsfeld zwischen sinnlichem Vergnügen, moralischem Verwerfungspostulat, moralistischem Wahrnehmungsinteresse und ästhetischen Maßstäben gerät.
Der Text dieses opus eximium umfasst, obwohl fragmentarisch, in der augenfreundlichen Leseausgabe knapp 950 Seiten, die der Erzähler denn auch braucht, um den verschiedenen Spielarten der Erotik gerecht zu werden. In der enger bedruckten Werkausgabe kommt ein umfangreicher Kommentar des passionierten Herausgebers Gerhard Schuster hinzu. Auf mehr als hundert Seiten wird man zunächst akribisch über die Textverhältnisse informiert. Dann folgen rund 120 Seiten mit biographischen Hinweisen sowie Wort- und Sacherläuterungen. Sie verdeutlichen, was der gelehrte Verfasser an Zeitkolorit und Bildungswissen in diesen Roman einfließen ließ, und geben dem Text eine zusätzliche historische Tiefenschärfe.
Das Romangeschehen spielt im Berlin des Jahres 1901. Der vom Herausgeber gewählte Titel geht darauf zurück, dass im Roman gesagt wird, Berlin habe Paris und London an freizügiger Lebensart in den Schatten gestellt und gelte unter Ausländern als "Weltpuff" Nummer eins. Und darauf liegt auch der Fokus; ein Gesellschaftsroman ist "Weltpuff Berlin" nicht. Von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929) unterscheidet er sich nicht nur durch den Mangel an sozialer Breite und soziologischer Eindringlichkeit, sondern auch durch den Verzicht auf jede Bemühung um eine spezifische Ästhetik der Großstadtdarstellung.
Der Held des Romans heißt wie der Verfasser Rudolf Borchardt und hat mit diesem einige lebensgeschichtliche Gemeinsamkeiten etwa im Studium der klassischen Philologie und wohl auch in den sexuellen Ausschweifungen junger Jahre. Zudem dürften sich in "Weltpuff Berlin" auch die libertinären Neigungen widerspiegeln, die Borchardt auch noch zur Entstehungszeit des Romans hatte. Aber all dies wird vielfach überrundet durch die Konstruktion eines sexuell besessenen jungen Mannes und die komplementäre Konstruktion einer figurenreichen, vom Ladenmädchen bis zur Fürstin reichenden Weiblichkeit, die sich den unstillbaren Begierden dieses vierundzwanzigjährigen Beaus und seiner unerschöpflichen Potenz zur Verfügung stellt, mit glühendem Verlangen und reichem sinnlichen Lohn, versteht sich. Widerstand, der mit einer Zudringlichkeit überwunden werden muss, die der Erzähler selbst mit der Vokabel "vergewaltigen" bedenkt, gibt es auch; aber auch diese Akte enden im beiderseitigen Glück und Verlangen nach Wiederholung. Wirklichkeit spiegelt sich in all dem nur bedingt. Alles ist hypertrophistische Konstruktion, die dazu dient, die üblicherweise verdrängten und verschwiegenen Begehrlichkeiten samt allen Befriedigungsphantasien mit frivolem Enthusiasmus auszustellen und aufzuwerten.
Bei den Dienst- und Ladenmädchen, die dem charmanten und spendablen jungen Herrn täglich zufliegen, muss er sich vor echter Liebe und Anhänglichkeit schützen. Seine idealen und ihm eigentlich adäquaten Partnerinnen sind junge Frauen auf Emanzipationskurs, die keine Ehe anstreben, sowie großbürgerliche oder aristokratische Libertinistinnen, die ein sexuelles Stundenglück außerhalb ihrer enttäuschenden Ehen suchen. Die Apologie der Libertinage als eigentlicher Form der reinen, artistisch perfektionierten und lebenspraktisch anspruchslosen Liebe, die dem Helden (gegen Ende des sechsten Teils) von einer jungen Frau im Lustgestühl eines Luxusbordells vorgetragen wird, gehört zu den Höhepunkten des Romans und pointiert den weiblichen Emanzipationsdiskurs, der sich literarisch im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts in Büchern etwa von Franziska Gräfin zu Reventlow und Irmgard Keun artikulierte. Dass Borchardt, wie ihm schon vorgeworfen wurde, in "Weltpuff Berlin" ein durch und durch reaktionäres Frauenbild vertrete, ist daher eine Fehleinschätzung. Richtig ist, dass das Ideal seines Helden die immer verfügbare, ganz und gar sich hingebende, bewundernde und dienende Frau ist; tatsächlich aber ist er am meisten von jenen anonymen Liebhaberinnen fasziniert, die sich seiner in souveräner Hingabe für ein paar Stunden bedienen und ihn dann ihrerseits ohne Versprechen auf Wiederholung entlassen.
Das Lebensprinzip dieser hedonistischen Schicht heißt Freiheit ohne Bindung. Ehe wird ausgeschlossen, Zeugung vermieden. "Treue" ist ein Wort, das etwas bezeichnet, was auch nach einem noch so innigen und glückseligen Zusammensein mit einer Frau durch den Anblick und Kuss der nächsten ausgelöscht wird. Das Begehren ist nicht nur grenzenlos, sondern auch rücksichtslos. Beides wird dem Helden gelegentlich zum Problem, aber die überlieferten Teile des Romans führen ihn nicht in eine wirkliche Krise.
Mit seinem hemmungslos sexistischen Blick auf die Frauenwelt und mit seiner Vorstellung, dass diese dem männlichen Zugriff zur Verfügung stehe, weil sie ihm aufgrund der weiblichen Begehrlichkeit ohnehin verfallen sei, wirkt der im vergangenen Herbst aus dem Nachlass herausgegebene Roman wie ein reaktionärer Faustschlag ins Gesicht des Feminismus (schon damals) und der aktuellen Me-too-Bewegung erst recht. Aber könnte er nicht trotzdem schätzenswert sein? Als monumentales Dokument eines historischen Verständnisses von Erotik, das zwar dazu angetan ist, Empörung hervorzurufen, aber gegenüber den medial induzierten Bedürfnissen und medial ermöglichten Befriedigungen, die Heike Melzer jüngst in ihrem Buch "Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution" beschrieben hat, hoffnungslos überholt ist und geradezu menschlich rührend wirkt. Zudem als Erinnerung an den Zauber der Schönheit, den Reiz der Erotik und die Macht der Sexualität, die sich wohl nie so werden einhegen lassen, wie viele dies wünschen und gerne verordnen würden.
Befremdend wirken an "Weltpuff Berlin" auch Momente, die als rassistisch zu indizieren sind. Der vierundzwanzigjährige Aufschneider weiß, wie "die Deutsche", "die Engländerin", "die Französin", "die Italienerin" und "die Jüdin" im Bett ist, und was er über die Mitglieder einer jüdischen Familie zum Besten gibt, lässt nicht vermuten, dass der Verfasser selbst jüdischer Abstammung war. Allerdings ist auch eine jener imposanten Frauen, die dem Helden an Haltung überlegen sind, eine Jüdin.
Befremdend ist schließlich auch, dass Borchardt diesen Roman als "rassisch" Verfolgter im italienischen Exil schrieb. Gab es kein wichtigeres Thema für ihn? Doch, natürlich! Die Gartenkunst, der Borchardt in ebenjenen Jahren unter dem Titel "Der leidenschaftliche Gärtner" ein kenntnisreiches und tiefsinniges Buch widmete. Und die Herrschaft der Nationalsozialisten, die Borchardt zu ebendieser Zeit mit Schmähgedichten ("Jamben") bedachte, die - ebenfalls dem Prinzip der exzessiven Häufung folgend - an verbaler Heftigkeit alles übertreffen, was an literarischen Invektiven gegen die Nazis geschleudert wurde, Gottfried Benns berühmtes "Monolog"-Gedicht eingeschlossen. Borchardt unter dem Titel "Nomina odiosa" über die Nazi-Bonzen:
Dreck. Trockener, angemachter, aufgeweichter Dreck,
Zerfallener Dreck, gepresster Dreck,
Gedruckter, Scheißdreck, Dreckgesinnung, dreckige
Visage, frech wie Straßendreck [...]
Gepatzt, gekitscht, gepfuscht, gestohlen, falschgemünzt,
Mit Dreck zu Dreck und wieder Dreck. [...]
Woher bezog Borchardt unter diesen Umständen die Energie für einen fast tausendseitigen Roman über die erotischen Vergnügungen der Belle Époque? Die Antwort "Eskapismus" liegt nahe. Aber vielleicht steckt darin auch ein gewaltiges Stück Protest gegen das, was die politisch Verantwortlichen aus den Möglichkeiten dieser prosperierenden Zeit gemacht haben. Vielleicht wollte der 1877 geborene Borchardt mit seinem Roman, der zu Beginn des vierten Teils beiläufig, aber unüberhörbar Kritik an der deutschen Flotten- und Machtpolitik übt, der Führungsschicht und seinen Zeitgenossen überhaupt zurufen: Ihr hättet ein goldenes Zeitalter haben können! Aber statt dieses auszubauen, habt ihr euch in einen mörderischen Krieg gestürzt, und jetzt bereitet ihr einen neuen vor. Ihr Idioten! Hättet ihr euch lieber der Venus an den Hals geworfen, als dem Mars hinterdrein zu laufen!
HELMUTH KIESEL
Rudolf Borchardt:
"Weltpuff Berlin".
Roman.
Aus dem Nachlass herausgegeben von Gerhard
Schuster. Edition Tenschert bei Rowohlt, Reinbek 2018, 1086 S., geb., 35,- [Euro].
Rudolf Borchardt:
"Sämtliche Werke".
Kritische Ausgabe. Band XIV/1: Erzählungen 2 (Text); Band XIV/2: Kommentar.
Herausgegeben von Gerhard Schuster. Edition Tenschert bei Rowohlt, Reinbek 2018. Zus. 1184 S., geb., 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rudolf Borchardts nachgelassener Roman "Weltpuff Berlin", verfasst 1938/39 und seither unter Verschluss, liegt jetzt ediert vor. Er ist ein Nonplusultra der erotischen Literatur, aber nicht ohne befremdliche, auch rassistische Momente.
Niemand muss dieses Buch lesen! Wer seinen romantisch-idealistischen Glauben an die eine unverbrüchliche Liebe nicht in Zweifel gezogen und seine Wertschätzung für gut eingehegte Sexualität nicht in Versuchung gebracht sehen mag, soll sich die Lektüre besser nicht antun! Wer sich von detaillierten Schilderungen erregter Organe, stimulierender Handlungen und ekstatischer Befindlichkeiten angewidert fühlt, darf es an keiner Stelle aufschlagen! Wer die Beschreibung von Frauen als erotisch animierend und sexuell begehrenswert prinzipiell für entwürdigend hält, muss sich das Lesen streng verbieten, weil anders er sich zum Komplizen des Autors und zum literarischen Mittäter macht! Und wer den kategorialen Unterschied zwischen literarischen Phantasien und dem baren Leben nicht kennt und bei der Lektüre im Auge behält, läuft Gefahr, an seiner Weltwahrnehmung irre zu werden oder - als Mann - an seinem Ego verzweifeln zu müssen!
Denn was man mit Rudolf Borchardts nachgelassenem Roman "Weltpuff Berlin" aus den Jahren 1938/39 in die Hände bekommt, ist in jeder Hinsicht ein Nonplusultra der erotischen Literatur: ein Maximum von erotischen Begegnungen und sexuellen Akten, von Freizügigkeit und Genießertum, von priapistischer Angeberei und Schamlosigkeit, von Raffinement und Primitivität, von besinnungsloser Triebverfallenheit neben literarisch genährter moralistischer Reflektiertheit sowie - darstellungstechnisch gesehen - von hochtourig Gelegenheiten schaffender Dramaturgie und ingeniöser Beschreibungskunst, von hinreißender Schönheitsschilderung und kruder Pornographie. Zudem eine ausgedehnte Metaphorologie der Liebe. Zugleich ein systematisch entfaltetes Glossarium der Sexualität, das verbotene Derbheiten genauso aufreiht wie gängige Schlüpfrigkeiten und dadaistisch anmutende Wortspiele. Und überdies ein Kompendium der erotischen Mythologie und Bildnerei! Mit all dem wird "Weltpuff Berlin" zu einer Herausforderung für die Urteilskraft, die ins Spannungsfeld zwischen sinnlichem Vergnügen, moralischem Verwerfungspostulat, moralistischem Wahrnehmungsinteresse und ästhetischen Maßstäben gerät.
Der Text dieses opus eximium umfasst, obwohl fragmentarisch, in der augenfreundlichen Leseausgabe knapp 950 Seiten, die der Erzähler denn auch braucht, um den verschiedenen Spielarten der Erotik gerecht zu werden. In der enger bedruckten Werkausgabe kommt ein umfangreicher Kommentar des passionierten Herausgebers Gerhard Schuster hinzu. Auf mehr als hundert Seiten wird man zunächst akribisch über die Textverhältnisse informiert. Dann folgen rund 120 Seiten mit biographischen Hinweisen sowie Wort- und Sacherläuterungen. Sie verdeutlichen, was der gelehrte Verfasser an Zeitkolorit und Bildungswissen in diesen Roman einfließen ließ, und geben dem Text eine zusätzliche historische Tiefenschärfe.
Das Romangeschehen spielt im Berlin des Jahres 1901. Der vom Herausgeber gewählte Titel geht darauf zurück, dass im Roman gesagt wird, Berlin habe Paris und London an freizügiger Lebensart in den Schatten gestellt und gelte unter Ausländern als "Weltpuff" Nummer eins. Und darauf liegt auch der Fokus; ein Gesellschaftsroman ist "Weltpuff Berlin" nicht. Von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929) unterscheidet er sich nicht nur durch den Mangel an sozialer Breite und soziologischer Eindringlichkeit, sondern auch durch den Verzicht auf jede Bemühung um eine spezifische Ästhetik der Großstadtdarstellung.
Der Held des Romans heißt wie der Verfasser Rudolf Borchardt und hat mit diesem einige lebensgeschichtliche Gemeinsamkeiten etwa im Studium der klassischen Philologie und wohl auch in den sexuellen Ausschweifungen junger Jahre. Zudem dürften sich in "Weltpuff Berlin" auch die libertinären Neigungen widerspiegeln, die Borchardt auch noch zur Entstehungszeit des Romans hatte. Aber all dies wird vielfach überrundet durch die Konstruktion eines sexuell besessenen jungen Mannes und die komplementäre Konstruktion einer figurenreichen, vom Ladenmädchen bis zur Fürstin reichenden Weiblichkeit, die sich den unstillbaren Begierden dieses vierundzwanzigjährigen Beaus und seiner unerschöpflichen Potenz zur Verfügung stellt, mit glühendem Verlangen und reichem sinnlichen Lohn, versteht sich. Widerstand, der mit einer Zudringlichkeit überwunden werden muss, die der Erzähler selbst mit der Vokabel "vergewaltigen" bedenkt, gibt es auch; aber auch diese Akte enden im beiderseitigen Glück und Verlangen nach Wiederholung. Wirklichkeit spiegelt sich in all dem nur bedingt. Alles ist hypertrophistische Konstruktion, die dazu dient, die üblicherweise verdrängten und verschwiegenen Begehrlichkeiten samt allen Befriedigungsphantasien mit frivolem Enthusiasmus auszustellen und aufzuwerten.
Bei den Dienst- und Ladenmädchen, die dem charmanten und spendablen jungen Herrn täglich zufliegen, muss er sich vor echter Liebe und Anhänglichkeit schützen. Seine idealen und ihm eigentlich adäquaten Partnerinnen sind junge Frauen auf Emanzipationskurs, die keine Ehe anstreben, sowie großbürgerliche oder aristokratische Libertinistinnen, die ein sexuelles Stundenglück außerhalb ihrer enttäuschenden Ehen suchen. Die Apologie der Libertinage als eigentlicher Form der reinen, artistisch perfektionierten und lebenspraktisch anspruchslosen Liebe, die dem Helden (gegen Ende des sechsten Teils) von einer jungen Frau im Lustgestühl eines Luxusbordells vorgetragen wird, gehört zu den Höhepunkten des Romans und pointiert den weiblichen Emanzipationsdiskurs, der sich literarisch im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts in Büchern etwa von Franziska Gräfin zu Reventlow und Irmgard Keun artikulierte. Dass Borchardt, wie ihm schon vorgeworfen wurde, in "Weltpuff Berlin" ein durch und durch reaktionäres Frauenbild vertrete, ist daher eine Fehleinschätzung. Richtig ist, dass das Ideal seines Helden die immer verfügbare, ganz und gar sich hingebende, bewundernde und dienende Frau ist; tatsächlich aber ist er am meisten von jenen anonymen Liebhaberinnen fasziniert, die sich seiner in souveräner Hingabe für ein paar Stunden bedienen und ihn dann ihrerseits ohne Versprechen auf Wiederholung entlassen.
Das Lebensprinzip dieser hedonistischen Schicht heißt Freiheit ohne Bindung. Ehe wird ausgeschlossen, Zeugung vermieden. "Treue" ist ein Wort, das etwas bezeichnet, was auch nach einem noch so innigen und glückseligen Zusammensein mit einer Frau durch den Anblick und Kuss der nächsten ausgelöscht wird. Das Begehren ist nicht nur grenzenlos, sondern auch rücksichtslos. Beides wird dem Helden gelegentlich zum Problem, aber die überlieferten Teile des Romans führen ihn nicht in eine wirkliche Krise.
Mit seinem hemmungslos sexistischen Blick auf die Frauenwelt und mit seiner Vorstellung, dass diese dem männlichen Zugriff zur Verfügung stehe, weil sie ihm aufgrund der weiblichen Begehrlichkeit ohnehin verfallen sei, wirkt der im vergangenen Herbst aus dem Nachlass herausgegebene Roman wie ein reaktionärer Faustschlag ins Gesicht des Feminismus (schon damals) und der aktuellen Me-too-Bewegung erst recht. Aber könnte er nicht trotzdem schätzenswert sein? Als monumentales Dokument eines historischen Verständnisses von Erotik, das zwar dazu angetan ist, Empörung hervorzurufen, aber gegenüber den medial induzierten Bedürfnissen und medial ermöglichten Befriedigungen, die Heike Melzer jüngst in ihrem Buch "Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution" beschrieben hat, hoffnungslos überholt ist und geradezu menschlich rührend wirkt. Zudem als Erinnerung an den Zauber der Schönheit, den Reiz der Erotik und die Macht der Sexualität, die sich wohl nie so werden einhegen lassen, wie viele dies wünschen und gerne verordnen würden.
Befremdend wirken an "Weltpuff Berlin" auch Momente, die als rassistisch zu indizieren sind. Der vierundzwanzigjährige Aufschneider weiß, wie "die Deutsche", "die Engländerin", "die Französin", "die Italienerin" und "die Jüdin" im Bett ist, und was er über die Mitglieder einer jüdischen Familie zum Besten gibt, lässt nicht vermuten, dass der Verfasser selbst jüdischer Abstammung war. Allerdings ist auch eine jener imposanten Frauen, die dem Helden an Haltung überlegen sind, eine Jüdin.
Befremdend ist schließlich auch, dass Borchardt diesen Roman als "rassisch" Verfolgter im italienischen Exil schrieb. Gab es kein wichtigeres Thema für ihn? Doch, natürlich! Die Gartenkunst, der Borchardt in ebenjenen Jahren unter dem Titel "Der leidenschaftliche Gärtner" ein kenntnisreiches und tiefsinniges Buch widmete. Und die Herrschaft der Nationalsozialisten, die Borchardt zu ebendieser Zeit mit Schmähgedichten ("Jamben") bedachte, die - ebenfalls dem Prinzip der exzessiven Häufung folgend - an verbaler Heftigkeit alles übertreffen, was an literarischen Invektiven gegen die Nazis geschleudert wurde, Gottfried Benns berühmtes "Monolog"-Gedicht eingeschlossen. Borchardt unter dem Titel "Nomina odiosa" über die Nazi-Bonzen:
Dreck. Trockener, angemachter, aufgeweichter Dreck,
Zerfallener Dreck, gepresster Dreck,
Gedruckter, Scheißdreck, Dreckgesinnung, dreckige
Visage, frech wie Straßendreck [...]
Gepatzt, gekitscht, gepfuscht, gestohlen, falschgemünzt,
Mit Dreck zu Dreck und wieder Dreck. [...]
Woher bezog Borchardt unter diesen Umständen die Energie für einen fast tausendseitigen Roman über die erotischen Vergnügungen der Belle Époque? Die Antwort "Eskapismus" liegt nahe. Aber vielleicht steckt darin auch ein gewaltiges Stück Protest gegen das, was die politisch Verantwortlichen aus den Möglichkeiten dieser prosperierenden Zeit gemacht haben. Vielleicht wollte der 1877 geborene Borchardt mit seinem Roman, der zu Beginn des vierten Teils beiläufig, aber unüberhörbar Kritik an der deutschen Flotten- und Machtpolitik übt, der Führungsschicht und seinen Zeitgenossen überhaupt zurufen: Ihr hättet ein goldenes Zeitalter haben können! Aber statt dieses auszubauen, habt ihr euch in einen mörderischen Krieg gestürzt, und jetzt bereitet ihr einen neuen vor. Ihr Idioten! Hättet ihr euch lieber der Venus an den Hals geworfen, als dem Mars hinterdrein zu laufen!
HELMUTH KIESEL
Rudolf Borchardt:
"Weltpuff Berlin".
Roman.
Aus dem Nachlass herausgegeben von Gerhard
Schuster. Edition Tenschert bei Rowohlt, Reinbek 2018, 1086 S., geb., 35,- [Euro].
Rudolf Borchardt:
"Sämtliche Werke".
Kritische Ausgabe. Band XIV/1: Erzählungen 2 (Text); Band XIV/2: Kommentar.
Herausgegeben von Gerhard Schuster. Edition Tenschert bei Rowohlt, Reinbek 2018. Zus. 1184 S., geb., 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main