Erzählungen in sumerischer Sprache sind die wahrscheinlich ältesten schriftlich überlieferten literarischen Zeugnisse der Menschheit. Die in Sumer im 3. und beginnenden 2. Jahrtausend v. Chr. verschrifteten Werke vermitteln einen nachhaltigen Eindruck vom Leben der Menschen in diesem Land: davon, wie sie sich mit ihrer natürlichen Umwelt auseinandergesetzt, die Anfänge des Kosmos und des Seins reflektiert und die mythisch-verklärte Vergangenheit rezipiert haben und wie sie mit Freuden und Widrigkeiten des Alltags umgegangen sind. Der Reichtum an literarischen Bildern lässt diese längst vergangene Welt wieder lebendig werden, und die kunstvolle Verknüpfung der einzelnen Motive, die sich immer wieder der modernen Kategorisierung im Sinne definierter literarischer Gattungen entzieht, zeugt von einer großen Gestaltungsfreiheit.
Die hier ausgewählten Erzählungen spannen einen thematischen Bogen zwischen Werden und Vergehen, zwischen Anfang und Ende, Leben und Tod, Gelingen und Scheitern. Illustrationen von Karl-Heinz Bohny - neben pointierend und verfremdend auf altorientalische Motive aus der Siegelkunst, der Rund- und Reliefplastik zurückgreifenden Bildern auch ganz eigenständige Motive - bringen die zentralen Themen in einen konkreten Bildzusammenhang.
Die hier ausgewählten Erzählungen spannen einen thematischen Bogen zwischen Werden und Vergehen, zwischen Anfang und Ende, Leben und Tod, Gelingen und Scheitern. Illustrationen von Karl-Heinz Bohny - neben pointierend und verfremdend auf altorientalische Motive aus der Siegelkunst, der Rund- und Reliefplastik zurückgreifenden Bildern auch ganz eigenständige Motive - bringen die zentralen Themen in einen konkreten Bildzusammenhang.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Susanne Klingenstein gerät bei der Besprechung dieses von Konrad Volk herausgegebenen Bandes ins Schwärmen: Die Übersetzungen dieser Sammlung sumerischer Literatur findet die Kritikerin lebhaft und brillant, auch die dem wunderschön gestalteten Band beigefügten Karten Mesopotamiens gefallen der Rezensentin ausgesprochen gut. Vor allem aber zeigt sich Klingenstein ganz begeistert von den gefühlvollen, bewegenden und intensiven Geschichten, die nicht nur zum Interpretieren und Nachdenken anregen, sondern auch Einblicke in die Frühgeschichte des Zweistromlandes gewähren. Wenn die Kritikerin etwa die Erzählung von Etana liest, der beim Versuch, für seine unfruchtbare Frau das Kraut des Gebärens vom Himmel zu holen, abstürzt, erscheinen ihr Dädalus und Ikarus geradezu wie "Frühlingshühner". Nach dem literarischen Ausflug in diesen paradiesischen Landstrich bedauert die Rezensentin umso mehr, was davon heute übriggeblieben ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2016Junge, da hast du vernünftig gehandelt!
Texte mit Dattelaroma aus der Wiege der Zivilisation: Konrad Volks Edition von sumerischen Erzählungen zeigt die Literatur des Zweistromlands in großer Form
Von einem Adler emporgetragen, will Etana für seine unfruchtbare Frau das Kraut des Gebärens vom Himmel holen. Kurz vor dem Ziel stürzt er mit seinem Adler in die Tiefe. Mit diesem fulminanten Fall des vermessenen Mannes beginnt zwei Jahrtausende vor Homer unsere Literatur. Dädalus und Ikarus sind Frühlingshühner verglichen mit Etana, dem ersten irdischen König nach der Flut und Begründer des Stadtstaates Kisch im Überschwemmungsgebiet des Euphrats. Sein Beiname: "der Hirte, der zum Himmel aufstieg".
Jahrhunderte später berichtet Enkidu seinem Freund Gilgamesch, dass er Etana in der Unterwelt gesehen habe: "Welch einen Traum, mein Freund, sah ich in der Nacht. Im Haus des Staubes, das ich betrat, sitzt Etana."
Gilgamesch und Enkidu sind das erste Freundespaar der Weltliteratur. Als Gilgamesch beim Polospielen auf den Straßen von Uruk nicht auf Pferden, sondern auf den Söhnen der Witwen von Uruk reitet, lassen die Götter Holzschläger und Kugel in die Unterwelt fallen. Gilgamesch klagt, und Enkidu bietet an, sie zu holen. Gilgamesch sagt ihm genau, wie er sich in der Unterwelt verhalten muss. Aber Enkidu tut das Gegenteil, vielleicht weil er endlich auch einmal frei handeln will, und sitzt in der Unterwelt fest. Gilgamesch läuft sich die Füße wund und schafft es schließlich, im Tempel von Eridu den Gott Enki zu überzeugen: Ein Loch wird in die Tiefe gebohrt, und Enkidu entkommt der Unterwelt. Er erzählt dann, wie es da unten zugeht - von Armen und Reichen, Unfruchtbaren, Kranken und Toten ist die Rede. Sie sind uns vertraut.
Diese Geschichte, die mit Gilgameschs Sturz ins Totenreich endet, wurde seinem schon abgeschlossenen Epos als zwölfte Tafel hinzugefügt. "Der, der die Tiefe sah" hieß das Epos seit der Mitte des zweiten Jahrtausends. Die Tiefe, das ist das Reich der Toten, das Elend der Menschen, das Herz des Freundes. Dass wir die Geschichte auf der zwölften Tafel jetzt in einem eleganten und lebendigen Deutsch lesen können, verdanken wir einer über Jahre hinweg entstandenen Sammlung sumerischer Literatur, die Konrad Volk unter dem trügerisch einfachen Titel "Erzählungen aus dem Land Sumer" herausgegeben hat.
Das Land der Sumerer lag im Südirak. Dort erfanden Geschäftsleute vor fünftausend Jahren die Verschriftlichung ihrer Anweisungen. Doch das Akkadische, eine semitische Sprache, breitete sich vom nördlichen Mesopotamien nach Süden hin aus. Ein Assimilations- und Integrationsprozess begann, der dazu führte, dass Sumerisch als tote Sprache mit hohem Kulturwert von Akkadisch, Amurritisch und endlich Babylonisch sprechenden Schülern in Schreibschulen gelernt wurde. Sumerisch war das Latein des Zweistromlandes.
Wer nach Ursprüngen und Anfängen hungert, kommt hier auf seine Kosten: Er begegnet einer von allen Monotheismen und ihren anstrengenden Prüderien unberührten Welt, in der Zivilisation erst entsteht und Städte die Götter selbst sind. Das ferne Dilmun, zum Beispiel, um dessen Erhebung es in der ersten Geschichte geht. "Das Land Dilmun war strahlend, das Land Dilmun war rein. In Dilmun krächzte kein Rabe, schrie kein Frankolin, griff kein Löwe an, raubte kein Wolf ein Lamm. Unbekannt war der Hund, der die Zicklein zum Gehorsam zwingt, unbekannt war das Schwein, das Gerste in Mengen frißt." Dilmun war steril. Die Göttin beschwert sich bei ihrem Vater Enki über das sterile Geschenk - eine Stadt ohne Süßwasser. Enki lässt sich das nicht zweimal sagen, begattet die Muttergöttin, begattet seine Töchter im Sumpf, ungebändigte Fruchtbarkeit folgt, bis die Frauen sich gegen die Vergewaltigungen wehren. Durch Bewässerung begann Dilmun zu leben, doch erst eine sozial geregelte Sexualität erlaubt Aufstieg zum Reichtum.
Die metaphorische Dichte der Erzählungen lädt zum interpretierenden Lesen ein und zum Nachdenken darüber, wie die Menschen sich sahen: Energiegeladen, optimistisch, männlich kommen sie daher, das Land bearbeitend, Städte erbauend, Feinde bezwingend durch List, durch Stärke oder durch Diplomatie. Dass wir als Leser so glatt in diese Welt eintreten und fast den Dattelsirup schmecken und den Mörtel knirschen hören, hat auch mit der Allgegenwart vertrauter Tiere zu tun: Rabe, Hund, Stier, Kuh, Esel, Schwein, Ente, Gans, Schlange, Skorpion bevölkern die Metaphern. Wir würden einen schnellen Boten nicht mehr mit einer Fliege vergleichen. Aber den sumerischen Boten, der auch etwas lästig ist, sehen wir sofort vor uns.
Der köstlichste Text der Sammlung ist die Erzählung eines altbabylonischen Schülers. In der Schule lassen die Diensthabenden, Schuloberen und Lehrer kein gutes Haar an ihm: Warum kommst du zu spät? Warum hast du auf der Straße umhergegafft? Warum hast du ohne Erlaubnis den Mund aufgemacht? Warum hast du ohne Erlaubnis Wasser erhalten? Warum hast du Akkadisch geredet? "Die Schreibkunst begann ich zu hassen, das Dasein als Schreiber." Der Meister selbst wendet sich ab; ohne die Unterstützung des Meisters läuft in einer alt-babylonischen Schule nichts.
Der Junge hat eine Idee: Er bittet seinen Vater um ein Geschenk für den Meister. Der Vater kapiert sofort. Ein Festessen wird ausgerichtet. Der Alkohol fließt, mit gutem Öl reibt man den Rücken des Meisters ein, in neue Gewänder wird er gekleidet, ein Reif erscheint an seinem Handgelenk. Auf dem Höhepunkt des Festmahls stellt der Meister seinem Schüler ein erstklassiges Zeugnis aus. Die Pointe liegt im Schlusswort des Meisters: "Junge, du hast vernünftig gehandelt."
Zwei Karten Mesopotamiens eröffnen und beschließen dieses ausgesprochen schön gestaltete und durch seine klaren Gefühle und menschliche Intensität berührende Buch. Die erste Karte zeigt die Lage der Städte von Ur im Südosten bis Akkad im Nordwesten, die zweite die Lage des riesigen Zweistromlands zwischen dem bergigen Iran und der Wüste Saudi-Arabien. Es war einmal ein fruchtbarer Landstrich, in dem man das Paradies vermutete. Geblieben ist davon nur die Literatur.
SUSANNE KLINGENSTEIN
"Erzählungen aus dem Land Sumer". Herausgegeben von Konrad Volk.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015. 467 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Texte mit Dattelaroma aus der Wiege der Zivilisation: Konrad Volks Edition von sumerischen Erzählungen zeigt die Literatur des Zweistromlands in großer Form
Von einem Adler emporgetragen, will Etana für seine unfruchtbare Frau das Kraut des Gebärens vom Himmel holen. Kurz vor dem Ziel stürzt er mit seinem Adler in die Tiefe. Mit diesem fulminanten Fall des vermessenen Mannes beginnt zwei Jahrtausende vor Homer unsere Literatur. Dädalus und Ikarus sind Frühlingshühner verglichen mit Etana, dem ersten irdischen König nach der Flut und Begründer des Stadtstaates Kisch im Überschwemmungsgebiet des Euphrats. Sein Beiname: "der Hirte, der zum Himmel aufstieg".
Jahrhunderte später berichtet Enkidu seinem Freund Gilgamesch, dass er Etana in der Unterwelt gesehen habe: "Welch einen Traum, mein Freund, sah ich in der Nacht. Im Haus des Staubes, das ich betrat, sitzt Etana."
Gilgamesch und Enkidu sind das erste Freundespaar der Weltliteratur. Als Gilgamesch beim Polospielen auf den Straßen von Uruk nicht auf Pferden, sondern auf den Söhnen der Witwen von Uruk reitet, lassen die Götter Holzschläger und Kugel in die Unterwelt fallen. Gilgamesch klagt, und Enkidu bietet an, sie zu holen. Gilgamesch sagt ihm genau, wie er sich in der Unterwelt verhalten muss. Aber Enkidu tut das Gegenteil, vielleicht weil er endlich auch einmal frei handeln will, und sitzt in der Unterwelt fest. Gilgamesch läuft sich die Füße wund und schafft es schließlich, im Tempel von Eridu den Gott Enki zu überzeugen: Ein Loch wird in die Tiefe gebohrt, und Enkidu entkommt der Unterwelt. Er erzählt dann, wie es da unten zugeht - von Armen und Reichen, Unfruchtbaren, Kranken und Toten ist die Rede. Sie sind uns vertraut.
Diese Geschichte, die mit Gilgameschs Sturz ins Totenreich endet, wurde seinem schon abgeschlossenen Epos als zwölfte Tafel hinzugefügt. "Der, der die Tiefe sah" hieß das Epos seit der Mitte des zweiten Jahrtausends. Die Tiefe, das ist das Reich der Toten, das Elend der Menschen, das Herz des Freundes. Dass wir die Geschichte auf der zwölften Tafel jetzt in einem eleganten und lebendigen Deutsch lesen können, verdanken wir einer über Jahre hinweg entstandenen Sammlung sumerischer Literatur, die Konrad Volk unter dem trügerisch einfachen Titel "Erzählungen aus dem Land Sumer" herausgegeben hat.
Das Land der Sumerer lag im Südirak. Dort erfanden Geschäftsleute vor fünftausend Jahren die Verschriftlichung ihrer Anweisungen. Doch das Akkadische, eine semitische Sprache, breitete sich vom nördlichen Mesopotamien nach Süden hin aus. Ein Assimilations- und Integrationsprozess begann, der dazu führte, dass Sumerisch als tote Sprache mit hohem Kulturwert von Akkadisch, Amurritisch und endlich Babylonisch sprechenden Schülern in Schreibschulen gelernt wurde. Sumerisch war das Latein des Zweistromlandes.
Wer nach Ursprüngen und Anfängen hungert, kommt hier auf seine Kosten: Er begegnet einer von allen Monotheismen und ihren anstrengenden Prüderien unberührten Welt, in der Zivilisation erst entsteht und Städte die Götter selbst sind. Das ferne Dilmun, zum Beispiel, um dessen Erhebung es in der ersten Geschichte geht. "Das Land Dilmun war strahlend, das Land Dilmun war rein. In Dilmun krächzte kein Rabe, schrie kein Frankolin, griff kein Löwe an, raubte kein Wolf ein Lamm. Unbekannt war der Hund, der die Zicklein zum Gehorsam zwingt, unbekannt war das Schwein, das Gerste in Mengen frißt." Dilmun war steril. Die Göttin beschwert sich bei ihrem Vater Enki über das sterile Geschenk - eine Stadt ohne Süßwasser. Enki lässt sich das nicht zweimal sagen, begattet die Muttergöttin, begattet seine Töchter im Sumpf, ungebändigte Fruchtbarkeit folgt, bis die Frauen sich gegen die Vergewaltigungen wehren. Durch Bewässerung begann Dilmun zu leben, doch erst eine sozial geregelte Sexualität erlaubt Aufstieg zum Reichtum.
Die metaphorische Dichte der Erzählungen lädt zum interpretierenden Lesen ein und zum Nachdenken darüber, wie die Menschen sich sahen: Energiegeladen, optimistisch, männlich kommen sie daher, das Land bearbeitend, Städte erbauend, Feinde bezwingend durch List, durch Stärke oder durch Diplomatie. Dass wir als Leser so glatt in diese Welt eintreten und fast den Dattelsirup schmecken und den Mörtel knirschen hören, hat auch mit der Allgegenwart vertrauter Tiere zu tun: Rabe, Hund, Stier, Kuh, Esel, Schwein, Ente, Gans, Schlange, Skorpion bevölkern die Metaphern. Wir würden einen schnellen Boten nicht mehr mit einer Fliege vergleichen. Aber den sumerischen Boten, der auch etwas lästig ist, sehen wir sofort vor uns.
Der köstlichste Text der Sammlung ist die Erzählung eines altbabylonischen Schülers. In der Schule lassen die Diensthabenden, Schuloberen und Lehrer kein gutes Haar an ihm: Warum kommst du zu spät? Warum hast du auf der Straße umhergegafft? Warum hast du ohne Erlaubnis den Mund aufgemacht? Warum hast du ohne Erlaubnis Wasser erhalten? Warum hast du Akkadisch geredet? "Die Schreibkunst begann ich zu hassen, das Dasein als Schreiber." Der Meister selbst wendet sich ab; ohne die Unterstützung des Meisters läuft in einer alt-babylonischen Schule nichts.
Der Junge hat eine Idee: Er bittet seinen Vater um ein Geschenk für den Meister. Der Vater kapiert sofort. Ein Festessen wird ausgerichtet. Der Alkohol fließt, mit gutem Öl reibt man den Rücken des Meisters ein, in neue Gewänder wird er gekleidet, ein Reif erscheint an seinem Handgelenk. Auf dem Höhepunkt des Festmahls stellt der Meister seinem Schüler ein erstklassiges Zeugnis aus. Die Pointe liegt im Schlusswort des Meisters: "Junge, du hast vernünftig gehandelt."
Zwei Karten Mesopotamiens eröffnen und beschließen dieses ausgesprochen schön gestaltete und durch seine klaren Gefühle und menschliche Intensität berührende Buch. Die erste Karte zeigt die Lage der Städte von Ur im Südosten bis Akkad im Nordwesten, die zweite die Lage des riesigen Zweistromlands zwischen dem bergigen Iran und der Wüste Saudi-Arabien. Es war einmal ein fruchtbarer Landstrich, in dem man das Paradies vermutete. Geblieben ist davon nur die Literatur.
SUSANNE KLINGENSTEIN
"Erzählungen aus dem Land Sumer". Herausgegeben von Konrad Volk.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015. 467 S., geb., 38,- [Euro].
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