Noch immer wird die Novelle im Publikum nicht für voll angesehen. Und doch ist es eine Kunst von geschlossener Eigenart mit einer ganz andern Technik als der Roman, und da, wo sie von einem Künstler geübt wird, von einer Kraft und Schönheit, die sie der gebundenen Form näher bringt. Man hat zwar zu lange die Novelle als Romanskizze behandelt, um nun gleich alle Reize dieser Prosaform entfalten und verstehen zu können. Die Zukunft wird erst lehren, daß in der Kunst der Novelle Kräfte schlummern von märchenhafter Schönheit und einem Sprachglanz, der das poetische in konzentrierter Form zu geben vermag. Auf dem Wege zur modernen Novelle und der der Zukunft, die eine Verbindung zwischen epischer Prosa und Lyrik herzustellen berufen ist, begegnen wir einigen Künstlern, die heute, da man solche Zusammenhänge kaum erst ahnt, nur wenig Beachtung gefunden haben. Künstler, die aber erkannt zu haben scheinen, daß die Novelle ihre eigenen künstlerischen Gesetze hat, ein angestrengtes Sehen, ein scharfes Kombinieren und eine dramatische Schürzung des Knotens verlangt, wie sie dem breiteren Roman leider abgeht. Rudolph Lindau ist einer von jenen Autoren, die sich an russischen und französischen Vorbildern einen solchen eigenen Novellenstil geschaffen haben. Und wenn er auch in der Sprachbehandlung noch nicht jenen Reichtum und jene psychologische Beweglichkeit erreicht, die die Novelle erst ganz über ihre Nachbarkunst, den Roman, erhebt, so bleibt doch in seinen Novellen aus dem Osten soviel stilleuchtende Schönheit und Vertiefung des Problems, daß man unschwer seine überragende Stellung unter den Novellenschreibern seiner Zeit erkennen kann.
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