Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2021Späte Rache des Trabanten
Wilhelm Raabes "Deutscher Mondschein"
Wenn einer gleich zu Beginn seines Berichts betont, er sei "ein selbst für Deutschland außergewöhnlich nüchterner Mensch", der seine "fünf Sinne zusammenzuhalten" wisse, der weckt den Argwohn seiner Zuhörer. Oder der Leser, in diesem Fall, denn man kann sich den Erzähler von Wilhelm Raabes 1872 verfasster Geschichte "Deutscher Mondschein" kaum anders vorstellen als schreibend, am Arbeitstisch sitzend, wahrscheinlich Pfeife rauchend - und dabei versuchend, die Ungeheuerlichkeit, die er im Urlaub erlebt hat, irgendwie dadurch zu bannen, indem er sie schriftlich fixiert und bisweilen den "geehrten Leser" seines, wie er schreibt, Protokolls, direkt anspricht.
Was also ist geschehen? Der Erzähler, ein offenbar angesehener Jurist und Familienvater, fährt 1867 zur Erholung nach Sylt. Was es mit der Erholung auf sich hat, verrät ein Satz wie "Daheim säge und spalte ich in meinen Mußestunden mein Brennholz, hier trieb ich Allotria oder studierte einige vorsichtigerweise im Gepäck mitgeführte Abhandlungen über die braunschweigische Erbfolge", und natürlich wird überdeutlich, wie Raabe seinen Erzähler verstanden wissen will.
Doch der Staatsdiener im Urlaub macht bei einem abendlichen Spaziergang in den Dünen die Bekanntschaft eines anderen, ihm durchaus ähnlichen Kollegen namens Löhnefinke, der panische Angst vor dem Mondlicht erkennen lässt und erst beruhigt ist, als er unter dem praktischerweise mitgeführten Regenschirm seines Kollegen Schutz vor den Mondstrahlen findet. Bei mehreren Gläsern Grog erzählt Löhnefinke seine Geschichte: wie er als junger Mann, bezeichnenderweise im Jahr 1848, in einer Mondnacht die Ahnung eines ganz anderen Lebens als das eines in der Familientradition zum Beamten bestimmten Mannes erhielt. "Sie sehen von Ihrem Kopfkissen aus nach Ihrer Bibliothek hinüber, und plötzlich ergreift Sie eine kaum zu bezwingende Lust aufzuspringen, den ganzen Trödel in die Arme zu fassen - und - und - und - Dinge - unsagbare Dinge damit vorzunehmen."
An Stellen wie diesen kommt die Erzählung zu sich selbst, und die Erschütterung im Mondlicht wird zur Erschütterung des Textes selbst, der weit mehr zeichnet als nur ein Bild zweier Beamter. "Deutscher Mondschein" ist eine wunderbare Entdeckung, der gediegene schmale Band von Jung und Jung wird von einem profunden Nachwort von Jochen Missfeldt begleitet, das den Text in dessen Entstehungszeit verortet und zugleich klarmacht, dass die geschilderten Phänomene und Spannungen bis heute relevant geblieben sind. TILMAN SPRECKELSEN
Wilhelm Raabe: "Deutscher Mondschein".
Mit einem Nachwort von Jochen Missfeldt. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2021. 64 S., geb., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wilhelm Raabes "Deutscher Mondschein"
Wenn einer gleich zu Beginn seines Berichts betont, er sei "ein selbst für Deutschland außergewöhnlich nüchterner Mensch", der seine "fünf Sinne zusammenzuhalten" wisse, der weckt den Argwohn seiner Zuhörer. Oder der Leser, in diesem Fall, denn man kann sich den Erzähler von Wilhelm Raabes 1872 verfasster Geschichte "Deutscher Mondschein" kaum anders vorstellen als schreibend, am Arbeitstisch sitzend, wahrscheinlich Pfeife rauchend - und dabei versuchend, die Ungeheuerlichkeit, die er im Urlaub erlebt hat, irgendwie dadurch zu bannen, indem er sie schriftlich fixiert und bisweilen den "geehrten Leser" seines, wie er schreibt, Protokolls, direkt anspricht.
Was also ist geschehen? Der Erzähler, ein offenbar angesehener Jurist und Familienvater, fährt 1867 zur Erholung nach Sylt. Was es mit der Erholung auf sich hat, verrät ein Satz wie "Daheim säge und spalte ich in meinen Mußestunden mein Brennholz, hier trieb ich Allotria oder studierte einige vorsichtigerweise im Gepäck mitgeführte Abhandlungen über die braunschweigische Erbfolge", und natürlich wird überdeutlich, wie Raabe seinen Erzähler verstanden wissen will.
Doch der Staatsdiener im Urlaub macht bei einem abendlichen Spaziergang in den Dünen die Bekanntschaft eines anderen, ihm durchaus ähnlichen Kollegen namens Löhnefinke, der panische Angst vor dem Mondlicht erkennen lässt und erst beruhigt ist, als er unter dem praktischerweise mitgeführten Regenschirm seines Kollegen Schutz vor den Mondstrahlen findet. Bei mehreren Gläsern Grog erzählt Löhnefinke seine Geschichte: wie er als junger Mann, bezeichnenderweise im Jahr 1848, in einer Mondnacht die Ahnung eines ganz anderen Lebens als das eines in der Familientradition zum Beamten bestimmten Mannes erhielt. "Sie sehen von Ihrem Kopfkissen aus nach Ihrer Bibliothek hinüber, und plötzlich ergreift Sie eine kaum zu bezwingende Lust aufzuspringen, den ganzen Trödel in die Arme zu fassen - und - und - und - Dinge - unsagbare Dinge damit vorzunehmen."
An Stellen wie diesen kommt die Erzählung zu sich selbst, und die Erschütterung im Mondlicht wird zur Erschütterung des Textes selbst, der weit mehr zeichnet als nur ein Bild zweier Beamter. "Deutscher Mondschein" ist eine wunderbare Entdeckung, der gediegene schmale Band von Jung und Jung wird von einem profunden Nachwort von Jochen Missfeldt begleitet, das den Text in dessen Entstehungszeit verortet und zugleich klarmacht, dass die geschilderten Phänomene und Spannungen bis heute relevant geblieben sind. TILMAN SPRECKELSEN
Wilhelm Raabe: "Deutscher Mondschein".
Mit einem Nachwort von Jochen Missfeldt. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2021. 64 S., geb., 12,- Euro.
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