Was wäre geschehen, wenn die Römer 9 n. Chr. den Cherusker-Fürsten Arminius besiegt hätten? Wenn Karl Martell 732 den Arabern unterlegen wäre? Wenn der Bauernkrieg von 1525 Erfolg gehabt hätte? Wenn der Erste Weltkrieg vermieden und Hitler einem Attentat zum Opfer gefallen wäre? Was auf den ersten Blick als müßiges Gedankenspiel erscheinen mag, entpuppt sich rasch als überaus anregende, unterhaltsame Einführung in die komplexe und so schicksalhafte deutsche Vergangenheit.
Alexander Demandt unternimmt einen Parforceritt durch die 2000-jährige Geschichte der Deutschen, an dessen Ende man um viele Erkenntnisse reicher ist. Er zeigt Irrwege und 'Sonderwege' auf, beleuchtet ungenutzte Chancen und vermeidbare Katastrophen. Eine Reise in unsere Vergangenheit, die informiert, bildet, unterhält und zum Nachdenken anregt.
Alexander Demandt unternimmt einen Parforceritt durch die 2000-jährige Geschichte der Deutschen, an dessen Ende man um viele Erkenntnisse reicher ist. Er zeigt Irrwege und 'Sonderwege' auf, beleuchtet ungenutzte Chancen und vermeidbare Katastrophen. Eine Reise in unsere Vergangenheit, die informiert, bildet, unterhält und zum Nachdenken anregt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2010Frankreich heißt nun Allemagne
Was wäre geschehen, wenn Jesus freigesprochen worden wäre? Wenn Bayern Großmacht
geworden wäre? Alexander Demandt betreibt virtuelle Geschichte Von Johannes Willms
Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorangegangenen Jahrhunderte angestrengt.“ Das war die programmatische Pointe, auf die Friedrich Schillers am 26. Mai 1789 in Jena gehaltene Antrittsvorlesung hinauslief. Auf solche dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung verhaftete Gewissheit können heutige Historiker nicht mehr rekurrieren. Moderne Geschichtsschreibung lässt sich vielmehr als eine Reflexionswissenschaft verstehen, deren Aussagen und Urteile nach kritischer Auswertung der Quellen und Zeugnisse den Zusammenhang zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem ohne teleologische Gewissheit immer wieder von neuem abwägen und interpretieren.
Bei diesem Tun naht sich dem Historiker, der stets überblickt, welchen weiteren Gang die Entwicklung nahm, bisweilen die Versuchung: Was wäre gewesen, wenn diese oder jene Entscheidung anders gefallen wäre, der Krieg nicht stattgefunden hätte, die Niederlage ein Sieg gewesen oder der Diktator Opfer eines Anschlags geworden wäre? Das Muster für solche kontrafaktischen Gedankenspiele liefert die Vermutung, die Blaise Pascal mit der Nase der Cleopatra verknüpfte: Wäre diese kürzer gewesen, „hätte die Weltgeschichte einen ganz anderen Verlauf genommen.“ Allein dieses bekannte Beispiel zeigt aber auch, dass die Spekulation über historische Eventualitäten in ein letztlich nur ermüdendes Hin und Her einmündete. Es hätte zur Folge, dass die wirkliche, quellenkritisch erarbeitete und faktengestützte Geschichte nur als eine Folge nicht realisierter Möglichkeiten erschiene.
Dessen ungeachtet versucht der Althistoriker Alexander Demandt diese virtuelle Geschichte für das eigene Fach methodisch fruchtbar zu machen. In dem 1984 erschienenen Traktat „Ungeschehene Geschichte“ unternahm er bereits den Versuch, kontrafaktische Überlegungen über Handlungsspielräume methodologisch zu rechtfertigen. Das Verständnis von Geschichte, so Demandt, fände stets, wenn auch unausgesprochen, im Möglichkeitsraum statt. Das Erkenntnisinteresse zwinge den Historiker dazu, auch über das Ungeschehene nachzudenken, weshalb auch in den quellenkritisch abgestützten Urteilen der Geschichtswissenschaft stets die Annahmen virtueller Geschichte mitenthalten seien. Nach Demandt könne diese „ungeschehene Geschichte“ im Einzelnen wertvolle Aufschlüsse geben für die Gewichtung und Interpretation von Entscheidungssituationen und Kausalfaktoren sowie für die Begründung von Werturteilen.
Demandt formulierte damit Einsichten, derer sich zumal eine ältere, auf einer eher bescheidenen Quellengrundlage fußende Geschichtsschreibung bei ihrer Interpretation des Geschehenen schon immer befleißigt hat, ohne dies zu explizieren. Darauf machte schon Goethe in einer seiner Maximen aufmerksam: „Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muss er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muss er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum muss aber nicht in das Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.“
In seinem neuesten Buch „Es hätte auch anders kommen können“ geht Alexander Demandt noch einen Schritt weiter und betritt den Möglichkeitsraum virtueller Geschichtsschreibung. Am Beispiel von fünfzehn Wendepunkten deutscher Geschichte wird die Hypothese eines kontrafaktischen Verlaufs des tatsächlichen Geschehens durchspielt. Das Unterfangen sorgt gleichermaßen für Anregung wie Verblüffung. Beides gelingt am überzeugendsten bei der Erörterung der Möglichkeiten, die sich ergeben hätten, wenn Pontius Pilatus den Angeklagten Jesus freigesprochen oder ihn jedenfalls nicht zum Tod am Kreuz verurteilt hätte. Ohne den Kreuzestod, so folgert Demandt überzeugend, hätte das von Paulus durch die Deutung dieses Justizmords maßgeblich fassonierte Christentum kaum die Chance gehabt, zur Religion des Römischen Reichs und damit zur Weltreligion zu werden.
Es ist, wie Demandt selbst schreibt, „das in der Geschichte mitunter zu beobachtende Missverhältnis zwischen kleiner Ursache und großer Wirkung (. . .) in keinem Falle so krass wie in diesem.“ Allen weiteren Fallbeispielen indes, die Demandt durchspielt, eignet eine im Vergleich dazu nachteilige große Komplexität. Die spekulative Ausdifferenzierung in Alternativen gerät mit wachsender Entfernung vom real Geschehenen ins Uferlose. Um dem zu steuern, müssen immer wieder neue Annahmen und Vermutungen eingeführt werden, um einen plausiblen und überschaubaren anderen Verlauf konstruieren zu können, der sich über den Leisten der vorhandenen Quellen schlagen lässt.
Hätten etwa die Alamanen 497 die Franken besiegt und nicht umgekehrt, dann hieße Frankreich heute vermutlich „Allemagne“, und hätten sich diese Alamanen dann nach ihrem Sieg mit den ihnen stammesverwandten Bayern verständigt, und wenn und wenn, dann hätte Bayern vielleicht eine Chance gehabt, im 19. Jahrhundert zur deutschen Führungsmacht aufzusteigen. Wahrscheinlich ließe sich eine solche Spekulation aber gar nicht anstellen, hätten die römischen Legionen des Varus und nicht die von Arminius geführten Cherusker im Jahr 9 nach Christus die Varusschlacht gewonnen. Dann wäre Germanien romanisiert worden, wäre das Mittelalter nicht gar so „finster“ ausgefallen oder hätte überhaupt nicht stattgefunden, weil das Altertum dann trotz der Völkerwanderung möglicherweise nahtlos in die Neuzeit übergegangen wäre . . .
Gewiss, Demandts kontrafaktische Glasperlenspiele sind ein unterhaltsames historisches Divertimento. Das ist aber eigentlich nicht die Absicht des Autors, der, wie er im Vorwort betont, für die kontrafaktische Geschichte deshalb eintritt, weil sie Einsicht vermitteln und überzeugen könne, „indem sie nicht einfach erzählt, sondern faktennah argumentiert“. Einen methodisch wie inhaltlich überzeugenden Nachweis dafür bleibt das Buch jedoch schuldig – mit Ausnahme des einen Fallbeispiels, „Pontius Pilatus begnadigt Jesus“.
Alexander Demandt
Es hätte auch anders
kommen können
Wendepunkte deutscher Geschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2010.
286 Seiten, 19,95 Euro.
Der Möglichkeitsraum
ungeschehener Geschichte
droht uferlos zu werden
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Was wäre geschehen, wenn Jesus freigesprochen worden wäre? Wenn Bayern Großmacht
geworden wäre? Alexander Demandt betreibt virtuelle Geschichte Von Johannes Willms
Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorangegangenen Jahrhunderte angestrengt.“ Das war die programmatische Pointe, auf die Friedrich Schillers am 26. Mai 1789 in Jena gehaltene Antrittsvorlesung hinauslief. Auf solche dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung verhaftete Gewissheit können heutige Historiker nicht mehr rekurrieren. Moderne Geschichtsschreibung lässt sich vielmehr als eine Reflexionswissenschaft verstehen, deren Aussagen und Urteile nach kritischer Auswertung der Quellen und Zeugnisse den Zusammenhang zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem ohne teleologische Gewissheit immer wieder von neuem abwägen und interpretieren.
Bei diesem Tun naht sich dem Historiker, der stets überblickt, welchen weiteren Gang die Entwicklung nahm, bisweilen die Versuchung: Was wäre gewesen, wenn diese oder jene Entscheidung anders gefallen wäre, der Krieg nicht stattgefunden hätte, die Niederlage ein Sieg gewesen oder der Diktator Opfer eines Anschlags geworden wäre? Das Muster für solche kontrafaktischen Gedankenspiele liefert die Vermutung, die Blaise Pascal mit der Nase der Cleopatra verknüpfte: Wäre diese kürzer gewesen, „hätte die Weltgeschichte einen ganz anderen Verlauf genommen.“ Allein dieses bekannte Beispiel zeigt aber auch, dass die Spekulation über historische Eventualitäten in ein letztlich nur ermüdendes Hin und Her einmündete. Es hätte zur Folge, dass die wirkliche, quellenkritisch erarbeitete und faktengestützte Geschichte nur als eine Folge nicht realisierter Möglichkeiten erschiene.
Dessen ungeachtet versucht der Althistoriker Alexander Demandt diese virtuelle Geschichte für das eigene Fach methodisch fruchtbar zu machen. In dem 1984 erschienenen Traktat „Ungeschehene Geschichte“ unternahm er bereits den Versuch, kontrafaktische Überlegungen über Handlungsspielräume methodologisch zu rechtfertigen. Das Verständnis von Geschichte, so Demandt, fände stets, wenn auch unausgesprochen, im Möglichkeitsraum statt. Das Erkenntnisinteresse zwinge den Historiker dazu, auch über das Ungeschehene nachzudenken, weshalb auch in den quellenkritisch abgestützten Urteilen der Geschichtswissenschaft stets die Annahmen virtueller Geschichte mitenthalten seien. Nach Demandt könne diese „ungeschehene Geschichte“ im Einzelnen wertvolle Aufschlüsse geben für die Gewichtung und Interpretation von Entscheidungssituationen und Kausalfaktoren sowie für die Begründung von Werturteilen.
Demandt formulierte damit Einsichten, derer sich zumal eine ältere, auf einer eher bescheidenen Quellengrundlage fußende Geschichtsschreibung bei ihrer Interpretation des Geschehenen schon immer befleißigt hat, ohne dies zu explizieren. Darauf machte schon Goethe in einer seiner Maximen aufmerksam: „Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muss er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muss er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum muss aber nicht in das Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.“
In seinem neuesten Buch „Es hätte auch anders kommen können“ geht Alexander Demandt noch einen Schritt weiter und betritt den Möglichkeitsraum virtueller Geschichtsschreibung. Am Beispiel von fünfzehn Wendepunkten deutscher Geschichte wird die Hypothese eines kontrafaktischen Verlaufs des tatsächlichen Geschehens durchspielt. Das Unterfangen sorgt gleichermaßen für Anregung wie Verblüffung. Beides gelingt am überzeugendsten bei der Erörterung der Möglichkeiten, die sich ergeben hätten, wenn Pontius Pilatus den Angeklagten Jesus freigesprochen oder ihn jedenfalls nicht zum Tod am Kreuz verurteilt hätte. Ohne den Kreuzestod, so folgert Demandt überzeugend, hätte das von Paulus durch die Deutung dieses Justizmords maßgeblich fassonierte Christentum kaum die Chance gehabt, zur Religion des Römischen Reichs und damit zur Weltreligion zu werden.
Es ist, wie Demandt selbst schreibt, „das in der Geschichte mitunter zu beobachtende Missverhältnis zwischen kleiner Ursache und großer Wirkung (. . .) in keinem Falle so krass wie in diesem.“ Allen weiteren Fallbeispielen indes, die Demandt durchspielt, eignet eine im Vergleich dazu nachteilige große Komplexität. Die spekulative Ausdifferenzierung in Alternativen gerät mit wachsender Entfernung vom real Geschehenen ins Uferlose. Um dem zu steuern, müssen immer wieder neue Annahmen und Vermutungen eingeführt werden, um einen plausiblen und überschaubaren anderen Verlauf konstruieren zu können, der sich über den Leisten der vorhandenen Quellen schlagen lässt.
Hätten etwa die Alamanen 497 die Franken besiegt und nicht umgekehrt, dann hieße Frankreich heute vermutlich „Allemagne“, und hätten sich diese Alamanen dann nach ihrem Sieg mit den ihnen stammesverwandten Bayern verständigt, und wenn und wenn, dann hätte Bayern vielleicht eine Chance gehabt, im 19. Jahrhundert zur deutschen Führungsmacht aufzusteigen. Wahrscheinlich ließe sich eine solche Spekulation aber gar nicht anstellen, hätten die römischen Legionen des Varus und nicht die von Arminius geführten Cherusker im Jahr 9 nach Christus die Varusschlacht gewonnen. Dann wäre Germanien romanisiert worden, wäre das Mittelalter nicht gar so „finster“ ausgefallen oder hätte überhaupt nicht stattgefunden, weil das Altertum dann trotz der Völkerwanderung möglicherweise nahtlos in die Neuzeit übergegangen wäre . . .
Gewiss, Demandts kontrafaktische Glasperlenspiele sind ein unterhaltsames historisches Divertimento. Das ist aber eigentlich nicht die Absicht des Autors, der, wie er im Vorwort betont, für die kontrafaktische Geschichte deshalb eintritt, weil sie Einsicht vermitteln und überzeugen könne, „indem sie nicht einfach erzählt, sondern faktennah argumentiert“. Einen methodisch wie inhaltlich überzeugenden Nachweis dafür bleibt das Buch jedoch schuldig – mit Ausnahme des einen Fallbeispiels, „Pontius Pilatus begnadigt Jesus“.
Alexander Demandt
Es hätte auch anders
kommen können
Wendepunkte deutscher Geschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2010.
286 Seiten, 19,95 Euro.
Der Möglichkeitsraum
ungeschehener Geschichte
droht uferlos zu werden
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