Wie stellt sich die Lage in islamisch geprägten Ländern beim Thema Religionsfreiheit, Religionskritik und dem Abfall vom Islam, der Apostasie, dar? Per Gesetz bekennen sich die meisten dieser Länder ausdrücklich zur Religionsfreiheit - praktisch aber erleiden kritische Intellektuelle, progressive Koranwissenschaftler, Frauen- und Menschenrechtler, Konvertiten vom Islam sowie Angehörige nicht-anerkannter Minderheiten vielerorts Diskriminierung, Ächtung, Bedrohung, Inhaftierung oder sogar den Tod.
Bei der Ursachenforschung für diese Diskrepanz werden die drei heute vertretenen Hauptpositionen islamischer Gelehrter zur Apostasie erläutert, die von deren global einflussreichsten Vertretern, Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926), Abdullah Saeed (geb. 1960) und Abu l-A'la Maududi (1903-1979), verfochten werden. Die Studie beschäftigt sich anhand ihrer Veröffentlichungen zu Religionsfreiheit und Apostasie mit dem ideengeschichtlichen Transfer der "Saat ihrer Worte" (Hrant Dink) in die Gesellschaft sowie mit ihrem weltweit immensen Einfluss auf Theologie, Recht und Politik. Am Ende steht die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit Verfechter unbeschränkter Religionsfreiheit und Menschenrechte in diesem Teil der Welt vermehrt Gehör finden.
Bei der Ursachenforschung für diese Diskrepanz werden die drei heute vertretenen Hauptpositionen islamischer Gelehrter zur Apostasie erläutert, die von deren global einflussreichsten Vertretern, Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926), Abdullah Saeed (geb. 1960) und Abu l-A'la Maududi (1903-1979), verfochten werden. Die Studie beschäftigt sich anhand ihrer Veröffentlichungen zu Religionsfreiheit und Apostasie mit dem ideengeschichtlichen Transfer der "Saat ihrer Worte" (Hrant Dink) in die Gesellschaft sowie mit ihrem weltweit immensen Einfluss auf Theologie, Recht und Politik. Am Ende steht die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit Verfechter unbeschränkter Religionsfreiheit und Menschenrechte in diesem Teil der Welt vermehrt Gehör finden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2015Religion als Waffe
Christine Schirrmacher über Apostasie im Islam
Religionsfreiheit ist ein Gradmesser, wie es in einem Land um persönliche und politische Freiheitsrechte bestellt ist. Die islamische Welt schneidet dabei schlecht ab. Das betrifft die Ausübung anderer Religionen als des Islams und auch die Möglichkeit, sich als Muslim für eine andere Religion zu entscheiden. Zwar besteht in kaum einem islamischen Land ein Gesetz, das den Abfall vom Islam regelt; einige Verfassungen erkennen sogar ausdrücklich Religionsfreiheit an. Aber wer sich vom Islam abwendet, wird meist gesellschaftlich geächtet und setzt sich der Gefahr aus, von Fanatikern getötet zu werden.
Eines der bekanntesten Beispiele ist der ägyptische Intellektuelle Farag Foda. Er wurde 1992 in Kairo auf offener Straße ermordet, nachdem einflussreiche Theologen ihn der Apostasie und des Unglaubens bezichtigt hatten. Dabei hatte Foda lediglich die Trennung von Religion und Politik gefordert, mehr Rechte für die koptische Minderheit sowie Meinungsfreiheit und Demokratie. Zudem sagte er, die Anwendung des klassischen Schariarechts führe nicht zu der behaupteten Läuterung der Menschen. Nicht der ägyptische Staat hatte zur Jagd auf Foda aufgerufen, sondern islamische Theologen.
Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher untersucht in ihrer umfangreichen Studie deshalb die Diskurse von drei einflussreichen zeitgenössischen Theologen zum Abfall vom Islam. An konkreten Fällen zeigt sie, dass Apostasie in der islamischen Welt eher eine gesellschaftliche und politische als eine religiöse Dimension hat. Die Forderung nach der Todesstrafe für Apostasie lässt sich kaum mit dem Koran begründen, nur mit der Geschichte des frühen Islams. So war die junge muslimische Gemeinde in den Jahren nach dem Tod ihres Propheten Mohammed im Jahr 632 damit konfrontiert, dass sich einzelne Gruppen wieder vom Islam lossagten. Deshalb setzte die strenge Verfolgung der Apostaten ein. Dieser Abfall sei im kollektiven Gedächtnis der Umma mit einer Gefährdung der Gemeinschaft und mit der Berechtigung zu einem militärischen Vorgehen verknüpft, schreibt Schirrmacher.
Gerade die fehlende theologische Fassung, so Schirrmacher, mache aber den Vorwurf der ridda (Abfall vom Glauben) "zu einer scharfen Waffe im Kampf gegen unliebsame politische oder theologische Gegenspieler". Eine realistische Chance, einen solchen Vorwurf zu entkräften, besteht - was der Fall Farag Foda zeigt - kaum. Betrieben werden die Klagen der Apostasie von islamistischen Akteuren, die vorgeben, es sei ihre Pflicht, Schädliches von der Gesellschaft abzuwenden.
Die größte Reichweite aller islamischen Theologen hat der weltweit operierende Yusuf al Qaradawi, der 1926 in Ägypten geboren wurde und in Qatar lebt. Bekannt wurde er für seine Theologie der "Mitte" (wasatiyya), die seine Anhänger als Brückenschlag zwischen dem Ur-Islam und der Moderne feiern. In Sachen Apostasie ist das jedoch nur bedingt der Fall. Zwar akzeptiert Qaradawi den inneren Zweifel oder den Abfall, solange er nicht sichtbar wird; da offen gezeigte Apostasie aber ein Verbrechen gegen Gott und die Gemeinschaft sei, müsse diese handeln. Qaradawi befürwortet bei Apostasie die Anwendung der Todesstrafe.
Anders als der Pakistaner Abul Ala Maududi (1903 bis 1979) kennt Qaradawi indes Fälle, bei denen ein Apostat nicht hingerichtet werden soll. Maududi, einer der radikalsten islamischen Denker der Moderne, lehnte alles Westliche ab und forderte die Schaffung einer Ordnung, die sich am Vorbild der Urgemeinde in Medina orientiert. Apostaten waren für Maududi zwar auch religiöse Abweichler, vor allem aber politische Verräter, die gegen die göttliche Ordnung rebellierten und gegen die ohne Milde vorgegangen werden müsse. Die Kampagnen in Pakistan wegen angeblicher Blasphemie, die vielen den Tod gebracht haben, sind ohne Maududi, der den Nährboden für Intoleranz und Verfolgung bereitet hatte, nicht denkbar.
Schirrmachers Studie zu lesen lohnte allein schon das Kapitel über den hierzulande unbekannten Theologen Abdullah Saeed. Er wurde 1960 auf den Malediven geboren, studierte in Saudi-Arabien und Pakistan islamische Theologie und ist heute in Australien Professor an der Universität Melbourne. Er lehnt die Scharia des frühen Islams als "vormodern" ab: Jede Generation habe das Recht, den Koran aus dem Kontext ihrer Zeit neu auszulegen. Heute gelte es, Lösungen zu finden, die die Freiheitsrechte der Menschen garantierten und ein friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft mündiger Bürger ermöglichten. Saeed kritisiert den Missbrauch des Apostasievorwurfs für politische Zwecke und begründet aus den islamischen Quellentexten heraus eine völlige Religionsfreiheit.
Saeed lehrt in Australien und publiziert auf Englisch. Religionsgelehrte wie Qaradawi und Maududi haben im Kerngebiet der islamischen Welt einen ungleich größeren Einfluss. So wundert es nicht, dass 2010 bei einer Umfrage des Pew Research Center 84 Prozent aller Muslime in Ägypten und 76 Prozent aller Muslime in Pakistan die Todesstrafe für Apostasie befürwortet haben.
RAINER HERMANN.
Christine Schirrmacher: "Es ist kein Zwang in der Religion" (Sure 2,256). Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologen. Diskurse zu Apostasie, Religionsfreiheit und Menschenrechten. Ergon Verlag, Würzburg 2015. 550 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christine Schirrmacher über Apostasie im Islam
Religionsfreiheit ist ein Gradmesser, wie es in einem Land um persönliche und politische Freiheitsrechte bestellt ist. Die islamische Welt schneidet dabei schlecht ab. Das betrifft die Ausübung anderer Religionen als des Islams und auch die Möglichkeit, sich als Muslim für eine andere Religion zu entscheiden. Zwar besteht in kaum einem islamischen Land ein Gesetz, das den Abfall vom Islam regelt; einige Verfassungen erkennen sogar ausdrücklich Religionsfreiheit an. Aber wer sich vom Islam abwendet, wird meist gesellschaftlich geächtet und setzt sich der Gefahr aus, von Fanatikern getötet zu werden.
Eines der bekanntesten Beispiele ist der ägyptische Intellektuelle Farag Foda. Er wurde 1992 in Kairo auf offener Straße ermordet, nachdem einflussreiche Theologen ihn der Apostasie und des Unglaubens bezichtigt hatten. Dabei hatte Foda lediglich die Trennung von Religion und Politik gefordert, mehr Rechte für die koptische Minderheit sowie Meinungsfreiheit und Demokratie. Zudem sagte er, die Anwendung des klassischen Schariarechts führe nicht zu der behaupteten Läuterung der Menschen. Nicht der ägyptische Staat hatte zur Jagd auf Foda aufgerufen, sondern islamische Theologen.
Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher untersucht in ihrer umfangreichen Studie deshalb die Diskurse von drei einflussreichen zeitgenössischen Theologen zum Abfall vom Islam. An konkreten Fällen zeigt sie, dass Apostasie in der islamischen Welt eher eine gesellschaftliche und politische als eine religiöse Dimension hat. Die Forderung nach der Todesstrafe für Apostasie lässt sich kaum mit dem Koran begründen, nur mit der Geschichte des frühen Islams. So war die junge muslimische Gemeinde in den Jahren nach dem Tod ihres Propheten Mohammed im Jahr 632 damit konfrontiert, dass sich einzelne Gruppen wieder vom Islam lossagten. Deshalb setzte die strenge Verfolgung der Apostaten ein. Dieser Abfall sei im kollektiven Gedächtnis der Umma mit einer Gefährdung der Gemeinschaft und mit der Berechtigung zu einem militärischen Vorgehen verknüpft, schreibt Schirrmacher.
Gerade die fehlende theologische Fassung, so Schirrmacher, mache aber den Vorwurf der ridda (Abfall vom Glauben) "zu einer scharfen Waffe im Kampf gegen unliebsame politische oder theologische Gegenspieler". Eine realistische Chance, einen solchen Vorwurf zu entkräften, besteht - was der Fall Farag Foda zeigt - kaum. Betrieben werden die Klagen der Apostasie von islamistischen Akteuren, die vorgeben, es sei ihre Pflicht, Schädliches von der Gesellschaft abzuwenden.
Die größte Reichweite aller islamischen Theologen hat der weltweit operierende Yusuf al Qaradawi, der 1926 in Ägypten geboren wurde und in Qatar lebt. Bekannt wurde er für seine Theologie der "Mitte" (wasatiyya), die seine Anhänger als Brückenschlag zwischen dem Ur-Islam und der Moderne feiern. In Sachen Apostasie ist das jedoch nur bedingt der Fall. Zwar akzeptiert Qaradawi den inneren Zweifel oder den Abfall, solange er nicht sichtbar wird; da offen gezeigte Apostasie aber ein Verbrechen gegen Gott und die Gemeinschaft sei, müsse diese handeln. Qaradawi befürwortet bei Apostasie die Anwendung der Todesstrafe.
Anders als der Pakistaner Abul Ala Maududi (1903 bis 1979) kennt Qaradawi indes Fälle, bei denen ein Apostat nicht hingerichtet werden soll. Maududi, einer der radikalsten islamischen Denker der Moderne, lehnte alles Westliche ab und forderte die Schaffung einer Ordnung, die sich am Vorbild der Urgemeinde in Medina orientiert. Apostaten waren für Maududi zwar auch religiöse Abweichler, vor allem aber politische Verräter, die gegen die göttliche Ordnung rebellierten und gegen die ohne Milde vorgegangen werden müsse. Die Kampagnen in Pakistan wegen angeblicher Blasphemie, die vielen den Tod gebracht haben, sind ohne Maududi, der den Nährboden für Intoleranz und Verfolgung bereitet hatte, nicht denkbar.
Schirrmachers Studie zu lesen lohnte allein schon das Kapitel über den hierzulande unbekannten Theologen Abdullah Saeed. Er wurde 1960 auf den Malediven geboren, studierte in Saudi-Arabien und Pakistan islamische Theologie und ist heute in Australien Professor an der Universität Melbourne. Er lehnt die Scharia des frühen Islams als "vormodern" ab: Jede Generation habe das Recht, den Koran aus dem Kontext ihrer Zeit neu auszulegen. Heute gelte es, Lösungen zu finden, die die Freiheitsrechte der Menschen garantierten und ein friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft mündiger Bürger ermöglichten. Saeed kritisiert den Missbrauch des Apostasievorwurfs für politische Zwecke und begründet aus den islamischen Quellentexten heraus eine völlige Religionsfreiheit.
Saeed lehrt in Australien und publiziert auf Englisch. Religionsgelehrte wie Qaradawi und Maududi haben im Kerngebiet der islamischen Welt einen ungleich größeren Einfluss. So wundert es nicht, dass 2010 bei einer Umfrage des Pew Research Center 84 Prozent aller Muslime in Ägypten und 76 Prozent aller Muslime in Pakistan die Todesstrafe für Apostasie befürwortet haben.
RAINER HERMANN.
Christine Schirrmacher: "Es ist kein Zwang in der Religion" (Sure 2,256). Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologen. Diskurse zu Apostasie, Religionsfreiheit und Menschenrechten. Ergon Verlag, Würzburg 2015. 550 S., geb., 78,- [Euro].
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