»Es war einmal ein Land« - wie der Anfang eines Märchens klingt der Titel von Sari Nusseibehs Autobiografie, der Chronik eines Lebens in Palästina, einem »zerrissenen, geschändeten Land«, die sich wie ein unvollendeter Roman aus dem 19. Jahrhundert liest. Der von Schurken und Opfern handelt, von Patrioten und Betrogenen, Krieg und Frieden, Verrat und Korruption und von einer Liebesgeschichte. Wird es - wie im Märchen - gut ausgehen? Man weiß es nicht. Aber man versteht nach dieser bewegten und bewegenden Lebensgeschichte Sari Nusseibehs, der heute Rektor der al-Quds-Universität in Jerusalem ist, etwas ganz Einfaches: nämlich dass die Kenntnis des Lebens der »anderen« eine Voraussetzung für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist. Sari Nusseibeh, Jahrgang 1949, wuchs im arabischen Teil von Jerusalem auf, in einer alteingesessenen, wohlhabenden Familie, die von dem Kalifen Omar im Jahre 638 zu den Wächtern der Grabeskirche gemacht wurde. Ein Amt, das sich bis heute in der Familie befindet. Seine Eltern erzogen ihn im Geist der Ökumene, und er war sich stets bewusst, dass auch die jüdischen Propheten durch die engen Gassen Jerusalems gewandelt waren. Als er in England studierte, eroberte die israelische Armee den Ostteil Jerusalems. Und anders als die Kinder der gebildeten und privilegierten Palästinenser, die in Scharen das Land verließen, entschloss er sich, zurückzukehren und die Zukunft seiner Heimat mitzugestalten. Ein »leidenschaftliches, wunderbar erzähltes Buch« (Amos Elon), eine »bemerkenswerte Chronik des Israel-Palästina-Konflikts aus einem ganz und gar ungewöhnlichen Blickwinkel« (Washington Post) - ein »Gegenleben« zu Amos Oz' großartigem autobiografischem Roman »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2008Hauptstadt der Verrückten
Sari Nusseibeh beschreibt mit Weisheit und Humor, wie sich in seiner Heimatstadt Jerusalem der Irrsinn breitmacht. Er zeigt die Ähnlichkeiten von Israelis und Palästinensern und verurteilt jeden Kult religiöser und ethnischer Reinheit, der den Eifer der Extremisten auf beiden Seiten immer wieder anfacht
Im frühneuzeitlichen Deutsch hieß das "Andere" bloß das "Zweite". Rudolf der Zweite unterschrieb gewöhnlich mit Rudolf der Andere, und wenn man Besuch hatte, besorgte man sich ein anderes Brot, im Sinne von zusätzlich. Heute ist das Andere kein Zusatz, sondern ein Gegenüber, manchmal witzig, meist aber unheimlich. Die Konstruktion des Anderen nimmt bei fortschreitender Globalisierung sogar zu: Je öfter man einander begegnet und je ähnlicher die Gewohnheiten und Marken, desto größer die Ideologien, die vom Anderssein der Anderen künden.
Kaum jemand ist derzeit so anders wie die Araber. Keiner versteht sie - und wie auch, sieht man sie doch dauernd Fahnen verbrennen und Irrsinn skandieren. Es ist auch nicht besonders riskant, die Araber zu ignorieren; sie sind unterlegen und stehen auf der anderen Seite, da kommt also alles zusammen, was vom Nachdenken entbindet. Es sei denn, man hat es irgendwann satt: Die ewig gleichen Berichte über den Palästinakonflikt, die immer verrückteren Aktionen der Hamas, die völlige Wirkungslosigkeit der EU-Hilfe, die Aussichtslosigkeit, die Lügen, die Korruption des handelnden Personals.
Dann mag man zu diesem Buch greifen. Es kommt daher und wird beworben wie die palästinensische Antwort auf die "Geschichte von Liebe und Finsternis" von Amos Oz, aber das trifft es nicht ganz. Es ist zugleich ein literarisch weniger prätentiöses und politisch-philosophisch ambitionierteres Werk.
Sari Nusseibeh, Jahrgang 1949, ein Hochschullehrer und PLO-Diplomat aus Jerusalem, erzählt von seiner Familie, die seit dem Mittelalter in der Heiligen Stadt lebt und deren Mitglieder es halt seltsam finden, von achtzehnjährigen russischen Emigranten in israelischen Uniformen kontrolliert zu werden, wenn sie nach Hause wollen. Doch ist dies kein Buch über die bösen Israelis und die Ungerechtigkeit, die den Palästinensern widerfährt, sondern eine erzählende Studie über den Fortschritt des Wahnsinns. Nusseibeh schildert mit viel Wärme und Humor eine unübersichtliche Schar von Personen, die auf beiden Seiten der Front am Fortschritt herumwerkelt. Leider wird immer weniger klar, worin der besteht. Korruption, Verrat, Bespitzelung, Mord und Terror sind nichts Besonderes mehr, die Front verläuft längst nicht mehr zwischen Israelis und Palästinensern, sondern zwischen denen, die die Reinheit suchen, und denen, die Jerusalem so lieben, wie es war und ist, nämlich gemischt, unübersichtlich und lebenswert.
Sari Nusseibeh schreibt schonungslose Porträts der palästinensischen Führung, schildert ihre Geldgier und Inkompetenz sowie Arafats Wankelmut. Für die Schreihälse der Hamas, die glauben, dass die Juden Hörner hätten, hat er nur bitteren Spott übrig. Und er erzählt albtraumhafte Geschichten von seinen Erlebnissen mit israelischen Sicherheitsbehörden, die es besonders auf die moderaten Palästinenser abgesehen haben. Dabei verlässt ihn aber nie seine mit humorvoller Weisheit vorgetragene Überzeugung von der Ähnlichkeit der Menschen im Heiligen Land, in dem die Israelis ihre Zukunft verraten, wenn sie sich bloß als Annex der Europäer und Amerikaner begreifen, so wie die Palästinenser sich betrügen, wenn sie auf Unterstützung arabischer Bruderstaaten oder auf himmlische Gerechtigkeit warten.
Hilfe von außen wird nicht kommen. Das ist die Botschaft, die Nusseibeh mantraartig wiederholt: Wir werden auf diesem heiligen, blutigen Stück Land miteinander auskommen müssen. Aber die Vernunft ist nur eine von vielen Stimmen auf dem Suk von Jerusalem. Mancher hoffnungsvolle Mitstreiter dreht einfach durch, so wie Marwan Barghouti, den Nusseibeh als Student kennenlernte und der auch im Westen ein gewisses Ansehen genoss: Seinen Weg zum Mörder beschreibt Nusseibeh mit kaum verhohlenem Ekel.
"Es war einmal ein Land" ist keine Vertriebenenprosa. Es handelt sich um eine Alltagsgeschichte des politischen Aktivismus, in einem Umfeld aus Spitzeln, Killern und ganz normalen Feiglingen, die szenenweise an einen Film der Gebrüder Coen erinnert. Hinzu kommt eine poetische, zugleich komplexe Darstellung der Rolle der Religionen im Jerusalemer Alltag, die allein schon die Lektüre lohnt, weil sie den Islam gegen die Islamisten verteidigt.
Es ist eigentlich zum Heulen, wenn die "Washington Post" den "ganz und gar ungewöhnlichen Blickwinkel" des Buches preist, wo es doch bloß der des Anderen ist - der zweite Blick, der unser Bild erst vervollständigt und die Dreidimensionalität, also die normale menschliche Natur des Problems, begreifbar macht. Wer verstehen will, warum er in den Nachrichten nichts mehr versteht, sollte eine Fernsehpause einlegen und lieber zu diesem unvergesslichen Buch greifen.
NILS MINKMAR
Sari Nusseibeh: "Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina". Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Katharina Förs und Thomas Wollermann. Kunstmann-Verlag 2008, 526 Seiten, 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sari Nusseibeh beschreibt mit Weisheit und Humor, wie sich in seiner Heimatstadt Jerusalem der Irrsinn breitmacht. Er zeigt die Ähnlichkeiten von Israelis und Palästinensern und verurteilt jeden Kult religiöser und ethnischer Reinheit, der den Eifer der Extremisten auf beiden Seiten immer wieder anfacht
Im frühneuzeitlichen Deutsch hieß das "Andere" bloß das "Zweite". Rudolf der Zweite unterschrieb gewöhnlich mit Rudolf der Andere, und wenn man Besuch hatte, besorgte man sich ein anderes Brot, im Sinne von zusätzlich. Heute ist das Andere kein Zusatz, sondern ein Gegenüber, manchmal witzig, meist aber unheimlich. Die Konstruktion des Anderen nimmt bei fortschreitender Globalisierung sogar zu: Je öfter man einander begegnet und je ähnlicher die Gewohnheiten und Marken, desto größer die Ideologien, die vom Anderssein der Anderen künden.
Kaum jemand ist derzeit so anders wie die Araber. Keiner versteht sie - und wie auch, sieht man sie doch dauernd Fahnen verbrennen und Irrsinn skandieren. Es ist auch nicht besonders riskant, die Araber zu ignorieren; sie sind unterlegen und stehen auf der anderen Seite, da kommt also alles zusammen, was vom Nachdenken entbindet. Es sei denn, man hat es irgendwann satt: Die ewig gleichen Berichte über den Palästinakonflikt, die immer verrückteren Aktionen der Hamas, die völlige Wirkungslosigkeit der EU-Hilfe, die Aussichtslosigkeit, die Lügen, die Korruption des handelnden Personals.
Dann mag man zu diesem Buch greifen. Es kommt daher und wird beworben wie die palästinensische Antwort auf die "Geschichte von Liebe und Finsternis" von Amos Oz, aber das trifft es nicht ganz. Es ist zugleich ein literarisch weniger prätentiöses und politisch-philosophisch ambitionierteres Werk.
Sari Nusseibeh, Jahrgang 1949, ein Hochschullehrer und PLO-Diplomat aus Jerusalem, erzählt von seiner Familie, die seit dem Mittelalter in der Heiligen Stadt lebt und deren Mitglieder es halt seltsam finden, von achtzehnjährigen russischen Emigranten in israelischen Uniformen kontrolliert zu werden, wenn sie nach Hause wollen. Doch ist dies kein Buch über die bösen Israelis und die Ungerechtigkeit, die den Palästinensern widerfährt, sondern eine erzählende Studie über den Fortschritt des Wahnsinns. Nusseibeh schildert mit viel Wärme und Humor eine unübersichtliche Schar von Personen, die auf beiden Seiten der Front am Fortschritt herumwerkelt. Leider wird immer weniger klar, worin der besteht. Korruption, Verrat, Bespitzelung, Mord und Terror sind nichts Besonderes mehr, die Front verläuft längst nicht mehr zwischen Israelis und Palästinensern, sondern zwischen denen, die die Reinheit suchen, und denen, die Jerusalem so lieben, wie es war und ist, nämlich gemischt, unübersichtlich und lebenswert.
Sari Nusseibeh schreibt schonungslose Porträts der palästinensischen Führung, schildert ihre Geldgier und Inkompetenz sowie Arafats Wankelmut. Für die Schreihälse der Hamas, die glauben, dass die Juden Hörner hätten, hat er nur bitteren Spott übrig. Und er erzählt albtraumhafte Geschichten von seinen Erlebnissen mit israelischen Sicherheitsbehörden, die es besonders auf die moderaten Palästinenser abgesehen haben. Dabei verlässt ihn aber nie seine mit humorvoller Weisheit vorgetragene Überzeugung von der Ähnlichkeit der Menschen im Heiligen Land, in dem die Israelis ihre Zukunft verraten, wenn sie sich bloß als Annex der Europäer und Amerikaner begreifen, so wie die Palästinenser sich betrügen, wenn sie auf Unterstützung arabischer Bruderstaaten oder auf himmlische Gerechtigkeit warten.
Hilfe von außen wird nicht kommen. Das ist die Botschaft, die Nusseibeh mantraartig wiederholt: Wir werden auf diesem heiligen, blutigen Stück Land miteinander auskommen müssen. Aber die Vernunft ist nur eine von vielen Stimmen auf dem Suk von Jerusalem. Mancher hoffnungsvolle Mitstreiter dreht einfach durch, so wie Marwan Barghouti, den Nusseibeh als Student kennenlernte und der auch im Westen ein gewisses Ansehen genoss: Seinen Weg zum Mörder beschreibt Nusseibeh mit kaum verhohlenem Ekel.
"Es war einmal ein Land" ist keine Vertriebenenprosa. Es handelt sich um eine Alltagsgeschichte des politischen Aktivismus, in einem Umfeld aus Spitzeln, Killern und ganz normalen Feiglingen, die szenenweise an einen Film der Gebrüder Coen erinnert. Hinzu kommt eine poetische, zugleich komplexe Darstellung der Rolle der Religionen im Jerusalemer Alltag, die allein schon die Lektüre lohnt, weil sie den Islam gegen die Islamisten verteidigt.
Es ist eigentlich zum Heulen, wenn die "Washington Post" den "ganz und gar ungewöhnlichen Blickwinkel" des Buches preist, wo es doch bloß der des Anderen ist - der zweite Blick, der unser Bild erst vervollständigt und die Dreidimensionalität, also die normale menschliche Natur des Problems, begreifbar macht. Wer verstehen will, warum er in den Nachrichten nichts mehr versteht, sollte eine Fernsehpause einlegen und lieber zu diesem unvergesslichen Buch greifen.
NILS MINKMAR
Sari Nusseibeh: "Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina". Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Katharina Förs und Thomas Wollermann. Kunstmann-Verlag 2008, 526 Seiten, 24,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Einen derart "erlebten und reflektierten Durchgang" durch die letzten sechs Jahrzehnte palästinensischer Geschichte wie diese Lebenserinnerungen des in Jerusalem geborenen palästinensischen Philosophieprofessors hat Rezensentin Bernadette Conrad noch nie gelesen. Wie einen Krimi kam ihr diese Lebensgeschichte außerdem mitunter vor, in dem ihr die dort geschilderte Kontinuität von Leiden, Lebensgefahr und dem ständigen Druck, existenzielle Entscheidungen zu treffen, mitunter fast unwahrscheinlich erschien. Der als Sohn eines jordanischen Ministers und Exilpalästinensers aufgewachsene Sari Nusseibeh sei immer wieder Berater sowohl Israels als auch Arafats gewesen, dem er den Informationen der Rezensentin zufolge bei Aufbau einer Zivilverwaltung geholfen hat, und am Ende umsonst gegen die korrupte Guerillamentalität des legendären Palästinenserführers kämpfte. Die Rezensentin zeigt sich immer wieder fasziniert von historischen, religiösen und politischen Lesarten der verhängnisvollen Affäre dreier Weltreligionen mit seiner Geburtsstadt, aber auch von der Radikalität, mit der Nusseibeh seine Standpunkte fern ab aller Ideologie und Parteinahme definiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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