Hamburger Ausgabe der Werke. Eine lesefreundliche Studienausgabe, alle Texte durchgesehen und mit den Originaltyposkripten und Erstdrucken verglichen. Jeder Band erhält einen ausführlichen Kommentar zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte.
Mit seinem Debüt »Es waren Habichte in der Luft« etablierte sich Siegfried Lenz 1951 mit einem Schlag als eine der großen Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Roman spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg im russisch-finnischen Grenzgebiet. Der finnische Dorfschullehrer Stenka wird nach dem politischen Umsturz von der Revolutionsregierung verfolgt. Er versucht, in die Anonymität des Untergrunds abzutauchen, aber seine Tarnungsmanöver werden von den Bewohnern des Grenzdorfes durchschaut. In seinem ersten Roman befasst Lenz sich mit der Erfahrung totalitärer Herrschaft, eines der wichtigsten Themen in seinem Werk.
Mit seinem Debüt »Es waren Habichte in der Luft« etablierte sich Siegfried Lenz 1951 mit einem Schlag als eine der großen Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Roman spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg im russisch-finnischen Grenzgebiet. Der finnische Dorfschullehrer Stenka wird nach dem politischen Umsturz von der Revolutionsregierung verfolgt. Er versucht, in die Anonymität des Untergrunds abzutauchen, aber seine Tarnungsmanöver werden von den Bewohnern des Grenzdorfes durchschaut. In seinem ersten Roman befasst Lenz sich mit der Erfahrung totalitärer Herrschaft, eines der wichtigsten Themen in seinem Werk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2016Was immer seine Protagonisten tun, sie machen sich schuldig
Mit dem Erstlingsroman "Es waren Habichte in der Luft" beginnt der Verlag Hoffmann und Campe eine große kommentierte Werkausgabe von Siegfried Lenz
Erstaunlich ist das schon. Da macht sich 1949 ein gerade Dreiundzwanzigjähriger, seit einem Jahr bei einer "überparteilichen Zeitung für die gesamte britische Zone" tätig, an seinen freien Vormittagen daran, in ein leeres Kontobuch einen Roman zu schreiben. Die Zeitung trägt den Namen "Die Welt" und druckt den Roman nach Fertigstellung im Herbst des Folgejahres in Fortsetzungen ab, auf Betreiben unter anderem von Willy Haas, dem legendären Begründer der "Literarischen Welt". Zugleich hat der junge Mann einen Verlagsvertrag mit Hoffmann und Campe abgeschlossen, der seinen Roman 1951 veröffentlicht und ihm die für damalige Verhältnisse beachtliche Summe von dreitausend Mark als Vorschuss zahlt. Der Roman verkauft sich zufriedenstellend, erscheint 1966 in einer Neuausgabe und ist nun im selben Verlag auch der Eröffnungsband einer auf 25 Bände angelegten Werkausgabe dieses Autors, der einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Bundesrepublik werden sollte. Die Rede ist natürlich von Siegfried Lenz.
Dessen eigener Essay über die Entstehung des Debütromans, erschienen am 11. Mai 1974 in dieser Zeitung, beginnt mit den Worten: "Mutlos wird man erst später. Natürlich wusste ich mit dreiundzwanzig, dass es eine Literatur gab . . . Und ich kannte bereits Schriftsteller, die dem Menschen auf so kunstvolle und abschließende Weise seine Untauglichkeit bescheinigt hatten, dass nichts mehr hinzuzufügen war . . . Doch obwohl Klassiker mich warnend umstellten, resignierte ich nicht."
Diese Frische des Debütanten spürt man beim Wiederlesen von "Es waren Habichte in der Luft" noch immer, und das ist nicht despektierlich gemeint. Zwar offenbart der Roman hier und da Anfängerschwächen, die auch dem Lektorat nicht aufgefallen sind. Die Dialoge sind zuweilen etwas papieren, was nicht nur daran liegt, dass sie gelegentlich zu viel Gedankenschwere transportieren müssen, sondern auch daran, dass an einigen Stellen in der wörtlichen Rede das Präteritum ganz ungewohnt anstelle des gebräuchlichen Perfekts auftaucht. Recht unmotiviert wird manchmal, wenn von Stenka, dem eigentlichen Protagonisten des Romans, die Rede ist, sein Name plötzlich durch "der Mann" ersetzt, so dass man stutzt und sich unwillkürlich fragt, um welchen Mann es sich denn jetzt handelt. Fast so, als habe der junge Lenz sich an den Deutschunterricht in der Schule erinnert, wo er gewiss wie wir alle von um guten Stil bemühten Lehrern vor Wortwiederholungen gewarnt wurde.
Aber jetzt ist mit der Mäkelei auch Schluss. Gegen diese Petitessen steht nämlich auf der anderen Seite eine enorme Sicherheit bei den Naturbeschreibungen, die alle gängigen Floskeln vermeiden und stattdessen wirklich poetische Kraft entfalten, ohne dabei jemals gesucht zu wirken. "Sätze von wunderbarer Schönheit" entdeckte der Kritiker Paul Hühnerfeld damals für die "Zeit". Ebenso fällt die Genauigkeit bei der Darstellung von Situationen auf. Dieser Roman ist letztlich ein Kammerspiel mit einer überschaubaren Anzahl von Figuren, die in verschiedenen Konstellationen aufeinandertreffen. Wie Figuren sich bewegen, auf andere reagieren, wie in einem Raum ein Klimawechsel entsteht, wenn eine neue Person hinzukommt, das beschreibt Lenz mit großer Präzision, ohne zu sehr mit dem Zeigefinger darauf zu deuten. Dass er zuweilen den "symbolischen Realismus", den er bei Dostojewskij abgeguckt hat, übertreibt, das gesteht der Autor in dem schon genannten Aufsatz ohne Weiteres zu.
In diesem Essay fällt aber auch der entscheidende Satz: "Ich merkte früh, dass Erfahrungen allein nicht ausreichen, wenn sie nicht durch Erfindung beglaubigt werden." Damit sind wir bei dem zweiten erstaunlichen Faktum, diesen Erstling betreffend, angelangt. Lenz' Roman ist eine Fluchtgeschichte - insofern besonders aktuell -, und sie hat einen deutlich autobiographischen Hintergrund, war der Autor doch selbst kurz vor Kriegsende als Soldat in Dänemark desertiert und auf der Flucht in Schleswig-Holstein in britische Gefangenschaft geraten. Erstaunlich ist nun, dass der Debütant nicht in die bereitstehende autobiographische Falle tappt, die sich ihm anbietet, sondern die ganze Situation so weit von sich abrückt, wie es gerade noch möglich ist, um eine glaubwürdige Geschichte erzählen zu können.
"Es waren Habichte in der Luft" ist zeitlich gegen Ende des Ersten Weltkriegs angesiedelt und örtlich in Finnland, das Lenz damals nicht kannte, das er aber, salopp gesprochen, auf Basis der Erinnerung an seine verlorene Heimat Masuren sehr gut "hingekriegt" hat. Wir befinden uns in der Zeit des Finnischen Bürgerkriegs zwischen den dortigen Rotgardisten, die mit Unterstützung Lenins ein kommunistisches Regime errichten wollen, und den weißen Garden. Dieser historische Hintergrund ist indes nur angedeutet, er verbleibt auf einer abstrakten Ebene. Jahreszahlen werden nicht genannt, die genannten Ortschaften in Karelien sind fiktiv. Damit verankert Lenz seine Geschichte einerseits in einer bestimmten Zeit und in einem geographischen Raum, erhält aber zugleich die allgemeine Geltung seiner Themen und Motive, die sich anschließend durch sein gesamtes Werk ziehen werden: die Erfahrung der Flucht, der Verfolgung und des Verlusts und die Situierung seiner Menschen in Extremsituationen, bei denen sie, was immer sie auch tun, schuldig werden müssen.
Was geschieht, lässt sich so beschreiben: Der Lehrer Stenka wird - wie übrigens alle Lehrer - von der Revolutionsregierung verfolgt und versucht, in einem Grenzdorf unterzutauchen. Er gibt sich als ehemaliger Buchhalter eines Sägewerks aus und arbeitet für einen Blumenhändler. Im Grunde wissen alle im Dorf, wer er ist: der Blumenhändler, dessen junger Gehilfe Erkki, der Wirt der Dorfkneipe, Erkkis Geliebte Manja, die auf Seiten der neuen Regierung steht, und auch der Funktionär Aati, eine sehr treffend gezeichnete Figur, eine abstoßende Mischung aus Chefideologe und Tschekist, der einfach nur abwartet, bis Stenka sich im Netz verfangen wird, obwohl alle anderen ihm helfen. Dessen Flucht misslingt. Vor Stenka sterben noch zwei andere Menschen eines gewaltsamen Todes, eine junge Frau und ein Wahnsinniger. Die Geschichte macht wenig Hoffnung, was den Zustand der Welt und die Beziehungen unter den Menschen betrifft. Vollends düster ist sie aber nicht, sie endet immerhin glücklich für den jungen Erkki, der Stenka geholfen hat und selbst angeschossen über die Grenze entkommen kann. Aber was danach geschieht, diesseits und jenseits der Grenze, bleibt offen.
Es gebe ein bisschen zu viele Habichte in diesem Buch, die drohend über der Szenerie schwebten, merkte der damals achtundvierzigjährige Lenz in seinem Essay von 1974 selbstkritisch an. Überhaupt hat er in diesem Aufsatz eine gewisse Neigung, zu hart mit sich ins Gericht zu gehen, spricht etwa abfällig von einer "dunklen Feier der Natur", die er veranstaltet habe. Allerdings lässt er auch die Leser nicht ungeschoren, die sich den Titel, genauer: den Titelvogel, nicht merken konnten, denn die "warteten mit allem auf, was die Ornithologie in nördlichen Breiten für möglich hält: Krähen, Elstern, Möwen, Kolkraben, Bussarde, Seeadler . . . Der Text der zweiten Auflage wurde nicht verändert. Der Umschlag allerdings zeigt kreisende Vögel, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Sperbern haben - Habichte sind es jedenfalls nicht."
Der Umschlag des ersten Bandes der neuen "Hamburger Ausgabe" verzichtet auf Bilder und ist rein typographisch gehalten. Dem Text der Buchfassung von 1951 (die Fassung des Fortsetzungsromans in der "Welt" wich leicht ab) folgen gut siebzig Seiten Kommentar, Materialien und Dokumente sowie eine Bibliographie. So oder so ähnlich darf man sich wohl auch die folgenden Bände der von Günter Berg und Heinrich Detering herausgegebenen Lenz-Werkausgabe vorstellen und wünschen. Der Preis ist käuferfreundlich, das Ganze ist für Leser gemacht und nicht nur für Bibliotheken. Dass es mit dem Erstling des Autors beginnt, ist sinnvoll und macht Lust auf mehr.
JOCHEN SCHIMMANG
Siegfried Lenz: "Es waren Habichte in der Luft". Roman. Hamburger Ausgabe, Band 1. Hrsg. von Astrid Roffmann. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 332 S., geb., 19,90 [Euro].
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Mit dem Erstlingsroman "Es waren Habichte in der Luft" beginnt der Verlag Hoffmann und Campe eine große kommentierte Werkausgabe von Siegfried Lenz
Erstaunlich ist das schon. Da macht sich 1949 ein gerade Dreiundzwanzigjähriger, seit einem Jahr bei einer "überparteilichen Zeitung für die gesamte britische Zone" tätig, an seinen freien Vormittagen daran, in ein leeres Kontobuch einen Roman zu schreiben. Die Zeitung trägt den Namen "Die Welt" und druckt den Roman nach Fertigstellung im Herbst des Folgejahres in Fortsetzungen ab, auf Betreiben unter anderem von Willy Haas, dem legendären Begründer der "Literarischen Welt". Zugleich hat der junge Mann einen Verlagsvertrag mit Hoffmann und Campe abgeschlossen, der seinen Roman 1951 veröffentlicht und ihm die für damalige Verhältnisse beachtliche Summe von dreitausend Mark als Vorschuss zahlt. Der Roman verkauft sich zufriedenstellend, erscheint 1966 in einer Neuausgabe und ist nun im selben Verlag auch der Eröffnungsband einer auf 25 Bände angelegten Werkausgabe dieses Autors, der einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Bundesrepublik werden sollte. Die Rede ist natürlich von Siegfried Lenz.
Dessen eigener Essay über die Entstehung des Debütromans, erschienen am 11. Mai 1974 in dieser Zeitung, beginnt mit den Worten: "Mutlos wird man erst später. Natürlich wusste ich mit dreiundzwanzig, dass es eine Literatur gab . . . Und ich kannte bereits Schriftsteller, die dem Menschen auf so kunstvolle und abschließende Weise seine Untauglichkeit bescheinigt hatten, dass nichts mehr hinzuzufügen war . . . Doch obwohl Klassiker mich warnend umstellten, resignierte ich nicht."
Diese Frische des Debütanten spürt man beim Wiederlesen von "Es waren Habichte in der Luft" noch immer, und das ist nicht despektierlich gemeint. Zwar offenbart der Roman hier und da Anfängerschwächen, die auch dem Lektorat nicht aufgefallen sind. Die Dialoge sind zuweilen etwas papieren, was nicht nur daran liegt, dass sie gelegentlich zu viel Gedankenschwere transportieren müssen, sondern auch daran, dass an einigen Stellen in der wörtlichen Rede das Präteritum ganz ungewohnt anstelle des gebräuchlichen Perfekts auftaucht. Recht unmotiviert wird manchmal, wenn von Stenka, dem eigentlichen Protagonisten des Romans, die Rede ist, sein Name plötzlich durch "der Mann" ersetzt, so dass man stutzt und sich unwillkürlich fragt, um welchen Mann es sich denn jetzt handelt. Fast so, als habe der junge Lenz sich an den Deutschunterricht in der Schule erinnert, wo er gewiss wie wir alle von um guten Stil bemühten Lehrern vor Wortwiederholungen gewarnt wurde.
Aber jetzt ist mit der Mäkelei auch Schluss. Gegen diese Petitessen steht nämlich auf der anderen Seite eine enorme Sicherheit bei den Naturbeschreibungen, die alle gängigen Floskeln vermeiden und stattdessen wirklich poetische Kraft entfalten, ohne dabei jemals gesucht zu wirken. "Sätze von wunderbarer Schönheit" entdeckte der Kritiker Paul Hühnerfeld damals für die "Zeit". Ebenso fällt die Genauigkeit bei der Darstellung von Situationen auf. Dieser Roman ist letztlich ein Kammerspiel mit einer überschaubaren Anzahl von Figuren, die in verschiedenen Konstellationen aufeinandertreffen. Wie Figuren sich bewegen, auf andere reagieren, wie in einem Raum ein Klimawechsel entsteht, wenn eine neue Person hinzukommt, das beschreibt Lenz mit großer Präzision, ohne zu sehr mit dem Zeigefinger darauf zu deuten. Dass er zuweilen den "symbolischen Realismus", den er bei Dostojewskij abgeguckt hat, übertreibt, das gesteht der Autor in dem schon genannten Aufsatz ohne Weiteres zu.
In diesem Essay fällt aber auch der entscheidende Satz: "Ich merkte früh, dass Erfahrungen allein nicht ausreichen, wenn sie nicht durch Erfindung beglaubigt werden." Damit sind wir bei dem zweiten erstaunlichen Faktum, diesen Erstling betreffend, angelangt. Lenz' Roman ist eine Fluchtgeschichte - insofern besonders aktuell -, und sie hat einen deutlich autobiographischen Hintergrund, war der Autor doch selbst kurz vor Kriegsende als Soldat in Dänemark desertiert und auf der Flucht in Schleswig-Holstein in britische Gefangenschaft geraten. Erstaunlich ist nun, dass der Debütant nicht in die bereitstehende autobiographische Falle tappt, die sich ihm anbietet, sondern die ganze Situation so weit von sich abrückt, wie es gerade noch möglich ist, um eine glaubwürdige Geschichte erzählen zu können.
"Es waren Habichte in der Luft" ist zeitlich gegen Ende des Ersten Weltkriegs angesiedelt und örtlich in Finnland, das Lenz damals nicht kannte, das er aber, salopp gesprochen, auf Basis der Erinnerung an seine verlorene Heimat Masuren sehr gut "hingekriegt" hat. Wir befinden uns in der Zeit des Finnischen Bürgerkriegs zwischen den dortigen Rotgardisten, die mit Unterstützung Lenins ein kommunistisches Regime errichten wollen, und den weißen Garden. Dieser historische Hintergrund ist indes nur angedeutet, er verbleibt auf einer abstrakten Ebene. Jahreszahlen werden nicht genannt, die genannten Ortschaften in Karelien sind fiktiv. Damit verankert Lenz seine Geschichte einerseits in einer bestimmten Zeit und in einem geographischen Raum, erhält aber zugleich die allgemeine Geltung seiner Themen und Motive, die sich anschließend durch sein gesamtes Werk ziehen werden: die Erfahrung der Flucht, der Verfolgung und des Verlusts und die Situierung seiner Menschen in Extremsituationen, bei denen sie, was immer sie auch tun, schuldig werden müssen.
Was geschieht, lässt sich so beschreiben: Der Lehrer Stenka wird - wie übrigens alle Lehrer - von der Revolutionsregierung verfolgt und versucht, in einem Grenzdorf unterzutauchen. Er gibt sich als ehemaliger Buchhalter eines Sägewerks aus und arbeitet für einen Blumenhändler. Im Grunde wissen alle im Dorf, wer er ist: der Blumenhändler, dessen junger Gehilfe Erkki, der Wirt der Dorfkneipe, Erkkis Geliebte Manja, die auf Seiten der neuen Regierung steht, und auch der Funktionär Aati, eine sehr treffend gezeichnete Figur, eine abstoßende Mischung aus Chefideologe und Tschekist, der einfach nur abwartet, bis Stenka sich im Netz verfangen wird, obwohl alle anderen ihm helfen. Dessen Flucht misslingt. Vor Stenka sterben noch zwei andere Menschen eines gewaltsamen Todes, eine junge Frau und ein Wahnsinniger. Die Geschichte macht wenig Hoffnung, was den Zustand der Welt und die Beziehungen unter den Menschen betrifft. Vollends düster ist sie aber nicht, sie endet immerhin glücklich für den jungen Erkki, der Stenka geholfen hat und selbst angeschossen über die Grenze entkommen kann. Aber was danach geschieht, diesseits und jenseits der Grenze, bleibt offen.
Es gebe ein bisschen zu viele Habichte in diesem Buch, die drohend über der Szenerie schwebten, merkte der damals achtundvierzigjährige Lenz in seinem Essay von 1974 selbstkritisch an. Überhaupt hat er in diesem Aufsatz eine gewisse Neigung, zu hart mit sich ins Gericht zu gehen, spricht etwa abfällig von einer "dunklen Feier der Natur", die er veranstaltet habe. Allerdings lässt er auch die Leser nicht ungeschoren, die sich den Titel, genauer: den Titelvogel, nicht merken konnten, denn die "warteten mit allem auf, was die Ornithologie in nördlichen Breiten für möglich hält: Krähen, Elstern, Möwen, Kolkraben, Bussarde, Seeadler . . . Der Text der zweiten Auflage wurde nicht verändert. Der Umschlag allerdings zeigt kreisende Vögel, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Sperbern haben - Habichte sind es jedenfalls nicht."
Der Umschlag des ersten Bandes der neuen "Hamburger Ausgabe" verzichtet auf Bilder und ist rein typographisch gehalten. Dem Text der Buchfassung von 1951 (die Fassung des Fortsetzungsromans in der "Welt" wich leicht ab) folgen gut siebzig Seiten Kommentar, Materialien und Dokumente sowie eine Bibliographie. So oder so ähnlich darf man sich wohl auch die folgenden Bände der von Günter Berg und Heinrich Detering herausgegebenen Lenz-Werkausgabe vorstellen und wünschen. Der Preis ist käuferfreundlich, das Ganze ist für Leser gemacht und nicht nur für Bibliotheken. Dass es mit dem Erstling des Autors beginnt, ist sinnvoll und macht Lust auf mehr.
JOCHEN SCHIMMANG
Siegfried Lenz: "Es waren Habichte in der Luft". Roman. Hamburger Ausgabe, Band 1. Hrsg. von Astrid Roffmann. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 332 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wie Figuren sich bewegen, auf andere reagieren, wie in einem Raum ein Klimawechsel entsteht, wenn eine neue Person hinzukommt, das beschreibt Lenz mit großer Präzision, ohne zu sehr mit dem Zeigefinger darauf zu deuten.« Jochen Schimmang FAZ 20161205