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Bei den Eselsfesten des Mittelalters war jedes Tabu außer Kraft gesetzt. Auch im Berlin der Gegenwart haben Sex und Machtspiele Konjunktur. Da ist der exzentrische Philosoph Konstantin Escher mit seinem Hang zum Kleinbürgerlichen, der fasziniert ist von erotischen Unterwerfungsritualen. In der irritierend schönen Übersetzerin Alva konzentrieren sich seine sexuellen Phantasien und Begierden. Doch Alva befindet sich in einer fatalen Abhängigkeit zu dem Architekten Bredow, einem eiskalten Machtmenschen, der als perfekter Liebhaber Sex einsetzt, um Nähe zu verhindern. Christa Schmidt erzählt…mehr

Produktbeschreibung
Bei den Eselsfesten des Mittelalters war jedes Tabu außer Kraft gesetzt. Auch im Berlin der Gegenwart haben Sex und Machtspiele Konjunktur. Da ist der exzentrische Philosoph Konstantin Escher mit seinem Hang zum Kleinbürgerlichen, der fasziniert ist von erotischen Unterwerfungsritualen. In der irritierend schönen Übersetzerin Alva konzentrieren sich seine sexuellen Phantasien und Begierden. Doch Alva befindet sich in einer fatalen Abhängigkeit zu dem Architekten Bredow, einem eiskalten Machtmenschen, der als perfekter Liebhaber Sex einsetzt, um Nähe zu verhindern. Christa Schmidt erzählt spannend und ohne Rücksicht auf Tabus, wie diese Virtuosen des Scheiterns auf eine tödliche Karambolage zusteuern.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2000

Die Geschichte der Nymphe
Christa Schmidts Roman „Eselsfest”: Rituale zerstörerischer Entgrenzung
Zu den provozierenden Aspekten von Michel Houllebecqs viel diskutierten Romanen Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen gehört, wie sie den Erfolg der Befreiung der Menschen in der westlichen Welt von der Last repressiv sexueller Moralvorstellungen einschätzen. Unter dem ewig blauen Himmel einer hedonistischen Lebensauffassung wird der Einzelne, seiner unstillbaren Gier ausgesetzt, in einen erbarmungslosen erotischen Konkurrenzkampf verstrickt, den nur Wenige erfolgreich überstehen. Die Meisten macht er zu hoffnungslosen Verlierern, die auch das, was ihnen zufällt, nicht genießen können.
Einen verwandten Blick auf das Triebschicksal seiner Figuren wirft Christa Schmidts dritter Roman Eselsfest – nach Die Wahlverwandten (1992) und Rauhnächte (1996) –, der schon im Titel auf dionysische, ekstatisch-promiskuitive Entgrenzungsrituale verweist, mittelalterliche Feste, die den antiken Saturnalien nachempfunden wurden. Eine der beiden männlichen Hauptfiguren des in Berlin und im Rheinland angesiedelten Romans, der spät berufene Philosophieprofessor Escher, forscht im Denken wie in seinem Leben den Riten des Sexuellen nach, zwischen Foucault-Lektüre, den sado-masochistischen Begegnungen mit Charlotte und den Besuchen in einem Kreuzberger Szene-Club, in dem an bestimmten Tagen voyeuristische, exhibitionistische, promiskuitive und SM-Wünsche ähnlich wild ausgelebt werden dürfen wie bei den Dionysos-Kulten. In Escher, der ewig in einem Kleinverlag jobbte, eine Kneipe führte und als allein erziehender Vater jahrelang Taxi fuhr, um sich dann doch noch zu habilitieren und sogar berufen zu werden, in Escher, dessen inzwischen zwanzigjähriger Sohn ihn halbwegs zum Erwachsenen zu erziehen und doch an der Beziehungsstörung des Vaters nichts zu ändern vermochte, zeichnet Christa Schmidt genau ein Porträt jener Generation nach, wie sie Houllebecq mit den Halbbrüdern Bruno und Michel in Elementarteilchen beschreibt. Mit Bredow, der noch geschickter, härter und ungebrochener seinem Begehren folgt, ein süchtiger Besucher des schon erwähnten Kreuzberger Clubs, wird der zweite männliche Part dieses Romans besetzt.
Seine Dramatik erhält er durch die weibliche Hauptfigur, die irritierend schöne Alva, die italienische Literatur übersetzt, von Bredow, ihrem Freund, schwanger ist und sich zu Beginn des Romans in Escher verliebt; er hat in Berlin seit langem ganz in ihrer Nähe gewohnt und sie beobachtet, ohne sie je kennen zu lernen. Wie in einen Krater stürzen die beiden aufeinander zu, ohne sich wirklich lieben zu können, lieben zu dürfen.
Alva übersetzt das Buch einer römischen Autorin über die Geschichte einer Nymphe, die sich nach menschlicher Liebe sehnt, aber deren Geliebte nur Station bei ihr machen, eroi di passaggio, Helden auf der Durchreise. Mit dem mythischen Motiv dieser verzweifelten Liebe der Nymphe wird sowohl die Gestalt der klugen und abgeklärten, aber in ihrer Abhängigkeit von Bredow gefangenen Alva motiviert als auch der Schluss des Romans, in dem all das, was von den Figuren und der Erzählerin gesagt und gedacht und scheinbar in Balance gehalten wird, in tödlichem Verhängnis endet.
Christa Schmidt wechselt in der Erzählerperspektive zwischen Escher und Alva, ihre Sprache ist präzis, wach, analytisch, mit der Fähigkeit zu einem schnellen Wechsel ins Poetische wie ins Komische. Mühelos gelangt man von der genauen Beschreibung Berliner Kneipen, Wohnungen, Straßen und Plätze zu Gesprächen über Foucault und die Saturnalien, den Auseinandersetzungen Eschers mit Freunden oder mit seinem Sohn, den Texten über die Geschichte der Nymphe oder zu den mitunter durchaus sarkastisch kommentierten Liebesritualen Eschers und der willigen Gefährtin Charlotte und dem Treiben im Kreuzberger Club. Während Eschers Sohn Sebastian sich in eine cool gehandhabte Normalität hinein entwickelt hat, die vielleicht trügerisch ist, repräsentiert der gut aussehende Escher den gerade noch im bürgerlichen Leben untergekommenen Selbstverwirklicher, der das Leben und die Liebe als einen ewigen „Forschungsauftrag” betrachtet hatte und trotz Enttäuschung und Auszehrung aus dieser „experimentellen Haltung” nicht mehr hinausgelangt. Bredow übt einfach Macht aus, ist ein so perfekter und zugleich kalter Liebhaber, dass er zerstört, was er liebt, oder selbst wünscht, zerstört zu werden. Anders als Houllebecqs Bruno und Michel sind Escher und Bredow als Liebhaber eher auf der Siegerseite, aber sie können mit dem Glück, das ihnen zufällt, nichts anfangen.
Das ist vielleicht die männliche Fixierung aufs Unglück – die Unfähigkeit des Mannes, in seinem Streben, auch dem erotischen, an irgendein Ziel zu gelangen, gepaart mit dem Verlust einer Form von Familienstruktur. Eschers Sohn hat ihm nicht helfen können, Bredow bringt Alva dazu, ihr Kind abzutreiben.
„Eselsfest ist immer”, sagt Alva, aber der Unterschied zwischen den antiken Saturnalien, dem mittelalterlichen Eselsfest und den Orgien im Kreuzberger Club oder in irgendwelchen Hotels und Salons ist, dass das ursprünglich kollektiv und öffentlich inszenierte Ritual in seiner ins Private, in das bürgerliche Ich und seine subjektiven Erlebnisräume, gewendeten Form zerstörerisch wird. Die in der Erlebnisgesellschaft freigesetzte, zum gesunden Spaß verkommene sexuelle Energie, die in den Dionysosfesten in ihrer Janusköpfigkeit entfesselt und beschworen wurde, zerstört die kleinen Subjekte, die nicht einmal sich selbst mehr gewachsen sind. Für diesen Vitalitätsschwund steht in Christa Schmidts Roman das Sterben von Alvas Vater, das mit ähnlicher, traumhaft-überwirklicher Präzision beschrieben wird wie die Begegnungen mit Escher und die Sehnsüchte der Nymphe. Christa Schmidt, die ihre Welt glasklar und zugleich komisch zu durchleuchten vermag, ist eine bemerkenswerte Autorin.
MARTIN HIELSCHER
CHRISTA SCHMIDT: Eselsfest. Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 1999. 220 Seiten, 36,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ziemlich angetan äußert sich Klaus Modick über diesen Roman, obwohl seine Anmerkung, dass es sich fast eher um einen "kühl kalkulierten Figurenessay" handele, nicht unbedingt auf jeden Leser motivierend wirken mag. Schmidt stelle die Frage nach dem Verhältnis von Liebe und Tod neu und setze sich dabei über die Hauptfigur, einen Philosophiedozenten, mit den Thesen Michel Foucaults zu diesem Thema auseinander - nebenbei verspricht Modick dabei aber auch eindringliche Milieuszenen aus der Berliner Sadomasoszene.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Christa Schmidt, die ihre Welt glasklar und zugleich komisch zu durchleuchten vermag, ist eine bemerkenswerte Autorin."
(Süddeutsche Zeitung)