Thomas Manns essayistische Arbeiten aus den Jahren 1914-1926 dokumentieren eine entscheidende Phase im Schaffen und in der Biografie des Autors. Den zustimmenden Reaktionen auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Verteidigung der wilhelminischen Gesellschaft folgt 1922 das öffentliche Bekenntnis zur Demokratie (»Von deutscher Republik«). Die Essayistik dieser Jahre ist eng verknüpft mit den gleichzeitig entstehenden Großwerken, den »Betrachtungen eines Unpolitischen« und dem »Zauberberg«. Die Essay-Bände dieser Edition enthalten zum ersten Mal sämtliche Essays, Reden und persönliche Stellungnahmen aller Art. In »Essays II« finden sich rund 200 Texte, darunter »Friedrich und die große Koalition«, »Goethe und Tolstoi« und »Pariser Rechenschaft«. Der reichhaltige Kommentar stellt die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieser Texte dar und trägt mit detaillierten Sachinformationen zu ihrem tieferen Verständnis bei.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2002Ein Mann in geordneten Verhältnissen
Endlich fester Boden unter den Füßen: Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Thomas Manns
Am 20. November 1921 kommt ihm ein Paket ins Haus: "Die Neudrucke von Fischer sind da", notiert das Tagebuch. ",Rede und Antwort' und ,Buddenbrooks' in den Einzelbänden der ,Gesammelten Werke'. Sie sind hübsch. Ich habe jedoch an dem neuen Buch, das schon im Vorwort drei Druckfehler enthält, nicht die geringste Freude." Es gab Weiteres zu beanstanden: "Auch leide ich seelisch und körperlich darunter, daß No 4 aller Unterkleider mir zu klein, No 5 mir zu groß ist." Eine peinliche Lage. Daß aber Thomas Mann nicht von Unterhosen spricht, hat mit einer Gepflogenheit zu tun, deren Gründe nicht jedermann einsichtig sind. Schon der junge Autor redet von Beinkleidern: "Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz zwischen den Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen."
Der alte Buddenbrook wurzelt tief im 18. Jahrhundert und kleidet sich entsprechend, auch wenn inzwischen, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, in welchen die Romanhandlung einsetzt, eine andere Mode herrscht. Johann Buddenbrook ist eine Figur wie aus der Zeit gefallen, für deren Beharrlichkeit Thomas Mann Sympathie hatte und die er später anhand seines Hausgottes eindringlich beschreiben sollte. Sein "Schopenhauer"-Essay aus dem Jahre 1938 nämlich nimmt das Motiv von der Treue, die sich auch auf die Garderobe erstreckt, wieder auf. Hier sehen wir den Philosophen als älteren Herrn mit "altmodischer Eleganz" durch Frankfurt laufen.
Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns im S. Fischer Verlag ist da. Und was wir dem "Buddenbrooks"-Kommentar von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski (Mitarbeit Herbert Lehnert) zum Thema Hosen entnehmen können, verweist auf eine sprachliche Sorgfalt bereits des jungen Romanciers, die zwar auch bisher nicht verborgen geblieben war, die aber nun, durch den üppigen Kommentar, erheblich transparenter wird: "lange Beinkleider] Der alte Buddenbrook trägt Kniehosen nach der Mode der höheren Stände aus der vorrevolutionären Zeit des 18. Jahrhunderts. ,Beinkleid' diente vor allem im 19. Jahrhundert in der gehobenen Sprache dazu, das auf weibliche Unterwäsche beziehbare und somit tabuisierte Wort ,Hose' zu vermeiden." So steht es auf Seite 231 des Kommentars, der den Band 1.2 in der auf 38 Bände (in 58 Teilbänden) angelegten Ausgabe bildet.
Es hat seinen guten Sinn, daß die "Buddenbrooks" den ersten Band, Band 1.1 bilden - mit dem Buch fing alles an, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Und mit ihnen fängt nun etwas an, das lange brauchte, bis es begann, und das vermutlich, wenn sich der - angesichts der Monumentalität der Aufgabe keineswegs großzügige - Zeitplan durchhalten läßt, erst im Jahre 2015 aufgehört haben wird, wenn wir den sechzigsten Todestag Thomas Manns begehen. Dieser hatte, im Alter von gut siebzig Jahren, mit seinem literarischen Leben abgeschlossen, obwohl noch manches kam nach dem "Doktor Faustus", zu dessen Fertigstellung ihn Katia am 29. Januar 1947 in Kalifornien beglückwünschte. Das Tagebuch fragt: "Mit Grund?" Er weiß es nicht; nur soviel: "Ich anerkenne die moralische Leistung."
Der von Heftrich (unter Mitarbeit von Stachorski und Lehnert) herausgegebene und textkritisch durchgesehene Text der "Buddenbrooks" ist mit 837 Seiten etwa um ein Zehntel länger als die bisher in der Forschung gebräuchliche, von Hans Bürgin besorgte Ausgabe der "Gesammelten Werke". Er folgt, auch das hat seine guten Gründe, dem Druck der Erstausgabe von 1901, deren Jubiläum im vergangenen Herbst (F.A.Z. vom 20. Oktober 2001) gefeiert wurde. Die Briefe, die dazu gewechselt wurden, sind in der "Entstehungsgeschichte" genauso ausführlich zitiert und kommentiert wie alles übrige, das dazu zu sagen ist - es ist eine Menge.
Mit einer Entstehungsgeschichte im engeren Sinne, die anhand der Korrespondenz, in der Thomas Mann über seine Pläne und Fortschritte Auskunft gab, leicht zu skizzieren und in vielen Ausgaben auch schon skizziert worden ist, begnügt sich Heftrich aber nicht und werden sich wohl auch die Herausgeber der anderen erzählerischen Werke nicht begnügen. Wir bekommen hier, in einer essayistischen, also ungemein lesbaren und großangelegten Chronik, alle wichtigen literarischen wie überhaupt geistesgeschichtlichen Quellen und Anregungen aufgezeigt, die bekannten wie auch die unbekannten oder bisher nur in der Fachliteratur mitgeteilten. Daß etwa Szenen aus Tolstois "Anna Karenina" anregend auf die landwirtschaftlichen Passagen in Thomas Manns Erstling gewirkt haben könnten, war bisher nur an entlegener Stelle mitgeteilt worden. Quellenkritisch läßt sich dergleichen fürs Frühwerk nur schwer nachweisen; aber es ist ohne Zweifel ein Gewinn, wenn solche Überlegungen Eingang in den Kommentar finden.
Doch es arbeiten nicht alle gleich, und die Unterschiede im Vorgehen sind temperamentsabhängig. So steht zu vermuten, daß der im kommenden Herbst erscheinende "Zauberberg", den Michael Neumann herausgibt und kommentiert, in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte anders ausbalanciert sein wird als bei Heftrich, der die grundlegenden Quellen und Anregungen ausführlich behandelt und die "Entstehungsgeschichte" zu einer weit ausholenden Interpretation nutzt, aber dafür im Stellenkommentar wohltuend knapp bleibt. Roland Spahr, der für die Gesamtausgabe verantwortliche Lektor, ist der Ansicht, daß es aufgrund der unterschiedlichen Forschungspositionen ein "Spannungsfeld" gibt. Denn es kommen drei Generationen zusammen: Neben Forschern wie Heftrich und Lehnert, die seit den sechziger und siebziger Jahren publizieren, stehen solche der mittleren Generation wie Neumann und Werner Frizen, daneben wiederum Wissenschaftler wie Heinrich Detering, die mit ihrer Arbeit begonnen haben, als Heftrich und Lehnert emeritiert wurden.
In jedem Fall bekommen wir einen Thomas Mann, der von seinen bedeutendsten Erforschern bearbeitet ist, kein Werk aus einem Guß - aber wie wäre das auch möglich bei diesem Werk? Es handelt sich um die erste kommentierte und, im erzählerischen Werk sowie den Essays, auch vollständige Ausgabe, die für die Forschung, aber auch für die tiefer interessierte Leserschaft gedacht ist und diese, den bisherigen Eindrücken nach zu urteilen, auch erreichen wird.
Ob der Strom der Sekundärliteratur jetzt abschwillt, wird man sehen, wenn mehr Bände dieser Ausgabe erschienen sind. Was Editionsphilologie zu leisten imstande ist, läßt sich beispielhaft an den "Buddenbrooks"-Bänden illustrieren. Wir haben hier, neben den Familienchroniken, den Briefen und einem Auszug aus Meyers Konversations-Lexikon, das fürs Typhuskapitel genutzt wurde, auch die Textstellen, die im Roman dann doch nicht auftauchen. Wer die "Ausgeschiedenen Blätter" liest, wird dankbar sein für manche Aussortierung, die Thomas Mann vorgenommen hat und die dem Werk zugute gekommen ist. Insbesondere die Passagen mit dem Makler Gosch sind in der Dialogführung weniger elegant, als es der Roman zur Gänze ist; sie hätten sich, in der überlieferten Form, teilweise wie ein Fremdkörper ausgenommen.
Daß die Rechtschreibung einer Regelung folgt, wie sie bis zur Reform von 1903 bestand, erzwingt mit dem häufigen "th" in "thun" und "That", dem großgeschriebenen "Alles" und manchem "Anderen" eine Umstellung, die der Leser leicht leisten wird. Es wird, auch dadurch, vieles transparenter. Daß etwa der betrügerische Bankrotteur Hugo Weinschenk "Orangenmarmelade" für eine Mehlspeise hält, ist ein Witz, der so recht erst verständlich wird, wenn man das Wort in der nun präsentierten Form liest und merkt, daß es sich dabei um einen englischen und von den Buddenbrooks vermutlich auch so ausgesprochenen Ausdruck handelt: "orange-marmelade". Die französischen Ausdrücke, die Legion sind, werden natürlich ebenfalls alle in der ursprünglichen Schreibung präsentiert, also statt "Kontor" nun wieder "Comptoir"; und das hat etwas zur Folge, das wiederum in die Interpretation hineinspielt: Der europäische Charakter des Romans, den Thomas Mann in seinen Rezensionsanordnungen an den Freund Otto Grautoff zunächst heruntergespielt hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Wir haben, nach all den geglätteten Fassungen der vergangenen hundert Jahre, nun wieder die etwas rauhere, kulturgeschichtlich gewissermaßen nach hinten offene vor uns.
Die Entscheidung, auch in allen übrigen Bänden keine Mischtexte zu bieten, erweist sich als wahrer Segen; daß auch sie nicht ideal ist, liegt daran, daß es die Vorlagen selbst nicht sind. Es ist aber die einzig richtige und gehört zu den "philologischen Grundprinzipien" der neuen Ausgabe. Daß in einzelnen Fällen nicht der Erstdruck zugrunde gelegt wird, sondern eine andere, philologisch-historisch zuverlässige und geprüfte Fassung, ließ sich nicht vermeiden.
"Die Welt ist meine Vorstellung" - so ist die "Einführung in die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" überschrieben, die der S. Fischer Verlag im Herbst vergangenen Jahres herausgegeben hat. Eigentlich hätten die "Buddenbrooks" schon zu diesem Zeitpunkt, dem großen Jubiläum, herauskommen sollen. Nun haben wir sie wie auch die von Detering (unter Mitarbeit von Stachorski) herausgegebenen und kommentierten frühen Essays von 1893 bis 1914 (Essays I, Band 14.1 und 14.2) - einen Bruchteil der insgesamt rund zwölfhundert, die alle publiziert werden. Von den rund fünfundzwanzigtausend Briefen wird es eine Auswahl von dreitausend geben. Die Tagebücher werden in revidierter Fassung erscheinen.
Im ersten Essayband findet sich auch der programmatische Aufsatz "Bilse und ich" von 1906. "Wie aber", fragt Thomas Mann dort, "kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist?" Das fußt auf Schopenhauers Dichotomie von Wille und Vorstellung, die Nietzsche umwandelte ins Dionysische und Apollinische; letzteres prangte symbolhaft als Bogen und Leier auf einer alten Thomas-Mann-Ausgabe und war Gegenstand schon mancher akademischen Prüfung. Jetzt, dank der vorliegenden, der ersten wirklich und richtig kommentierten Ausgabe, dringen solche Dinge auf dezente, aber unaufhaltsame Weise in den außerakademischen Bereich vor, und es ist zu hoffen, daß die Schnittmenge, die seit je aus Forschern und Liebhabern bestand, noch größer wird. Thomas Manns Vorstellungswelt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird uns nun noch klarer; die Ausgabe stiftet, was Thomas Mann selbst so liebte: ein Beziehungsfest.
Wer sich klarmachen will, wie tief der Grund zur Freude über diese Ausgabe reicht, der halte sich die Defizite manch früherer vor Augen, auch wenn man damit an alte Wunden rührt. Es war Hermann Kurzke, der zum siebenköpfigen Hauptherausgeber-Gremium gehört und unter anderem die "Betrachtungen eines Unpolitischen" bearbeitet, der anläßlich der zwanzigbändigen Frankfurter Ausgabe von Peter de Mendelssohn harte, aber nicht ungerechte Worte in dieser Zeitung fand. Er attestierte dem damals schon verstorbenen Herausgeber eine "philologische Bankrotterklärung" und sprach hinsichtlich der auch sonst komplett uneinheitlichen Textüberlieferung von einem "sumpfigen Grund" (F.A.Z. vom 23. August 1986). Nun bekommen wir festen Boden unter die Füße. Die neue Ausgabe ist, darauf läuft es hinaus, für die Forschung, was Thomas Mann über seinen "Doktor Faustus" sagte: "Werk letzter Konsequenz, Endwerk in jedem Sinn". Mehr brauchen wir nicht. Wir anerkennen die philologische Leistung.
Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff.
Band 1.1.: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie". Roman. Band 1.2: "Kommentar". 844 S. u. 748 S., geb., zus. 76,- [Euro].
Band 14.1: "Essays I 1893-1914". Band 14.2: "Kommentar". 420 S. u. 686 S., geb., zus. 82,- [Euro].
Band 21: "Briefe I 1889-1913". 936 S., geb., 95,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich fester Boden unter den Füßen: Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Thomas Manns
Am 20. November 1921 kommt ihm ein Paket ins Haus: "Die Neudrucke von Fischer sind da", notiert das Tagebuch. ",Rede und Antwort' und ,Buddenbrooks' in den Einzelbänden der ,Gesammelten Werke'. Sie sind hübsch. Ich habe jedoch an dem neuen Buch, das schon im Vorwort drei Druckfehler enthält, nicht die geringste Freude." Es gab Weiteres zu beanstanden: "Auch leide ich seelisch und körperlich darunter, daß No 4 aller Unterkleider mir zu klein, No 5 mir zu groß ist." Eine peinliche Lage. Daß aber Thomas Mann nicht von Unterhosen spricht, hat mit einer Gepflogenheit zu tun, deren Gründe nicht jedermann einsichtig sind. Schon der junge Autor redet von Beinkleidern: "Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz zwischen den Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen."
Der alte Buddenbrook wurzelt tief im 18. Jahrhundert und kleidet sich entsprechend, auch wenn inzwischen, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, in welchen die Romanhandlung einsetzt, eine andere Mode herrscht. Johann Buddenbrook ist eine Figur wie aus der Zeit gefallen, für deren Beharrlichkeit Thomas Mann Sympathie hatte und die er später anhand seines Hausgottes eindringlich beschreiben sollte. Sein "Schopenhauer"-Essay aus dem Jahre 1938 nämlich nimmt das Motiv von der Treue, die sich auch auf die Garderobe erstreckt, wieder auf. Hier sehen wir den Philosophen als älteren Herrn mit "altmodischer Eleganz" durch Frankfurt laufen.
Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns im S. Fischer Verlag ist da. Und was wir dem "Buddenbrooks"-Kommentar von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski (Mitarbeit Herbert Lehnert) zum Thema Hosen entnehmen können, verweist auf eine sprachliche Sorgfalt bereits des jungen Romanciers, die zwar auch bisher nicht verborgen geblieben war, die aber nun, durch den üppigen Kommentar, erheblich transparenter wird: "lange Beinkleider] Der alte Buddenbrook trägt Kniehosen nach der Mode der höheren Stände aus der vorrevolutionären Zeit des 18. Jahrhunderts. ,Beinkleid' diente vor allem im 19. Jahrhundert in der gehobenen Sprache dazu, das auf weibliche Unterwäsche beziehbare und somit tabuisierte Wort ,Hose' zu vermeiden." So steht es auf Seite 231 des Kommentars, der den Band 1.2 in der auf 38 Bände (in 58 Teilbänden) angelegten Ausgabe bildet.
Es hat seinen guten Sinn, daß die "Buddenbrooks" den ersten Band, Band 1.1 bilden - mit dem Buch fing alles an, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Und mit ihnen fängt nun etwas an, das lange brauchte, bis es begann, und das vermutlich, wenn sich der - angesichts der Monumentalität der Aufgabe keineswegs großzügige - Zeitplan durchhalten läßt, erst im Jahre 2015 aufgehört haben wird, wenn wir den sechzigsten Todestag Thomas Manns begehen. Dieser hatte, im Alter von gut siebzig Jahren, mit seinem literarischen Leben abgeschlossen, obwohl noch manches kam nach dem "Doktor Faustus", zu dessen Fertigstellung ihn Katia am 29. Januar 1947 in Kalifornien beglückwünschte. Das Tagebuch fragt: "Mit Grund?" Er weiß es nicht; nur soviel: "Ich anerkenne die moralische Leistung."
Der von Heftrich (unter Mitarbeit von Stachorski und Lehnert) herausgegebene und textkritisch durchgesehene Text der "Buddenbrooks" ist mit 837 Seiten etwa um ein Zehntel länger als die bisher in der Forschung gebräuchliche, von Hans Bürgin besorgte Ausgabe der "Gesammelten Werke". Er folgt, auch das hat seine guten Gründe, dem Druck der Erstausgabe von 1901, deren Jubiläum im vergangenen Herbst (F.A.Z. vom 20. Oktober 2001) gefeiert wurde. Die Briefe, die dazu gewechselt wurden, sind in der "Entstehungsgeschichte" genauso ausführlich zitiert und kommentiert wie alles übrige, das dazu zu sagen ist - es ist eine Menge.
Mit einer Entstehungsgeschichte im engeren Sinne, die anhand der Korrespondenz, in der Thomas Mann über seine Pläne und Fortschritte Auskunft gab, leicht zu skizzieren und in vielen Ausgaben auch schon skizziert worden ist, begnügt sich Heftrich aber nicht und werden sich wohl auch die Herausgeber der anderen erzählerischen Werke nicht begnügen. Wir bekommen hier, in einer essayistischen, also ungemein lesbaren und großangelegten Chronik, alle wichtigen literarischen wie überhaupt geistesgeschichtlichen Quellen und Anregungen aufgezeigt, die bekannten wie auch die unbekannten oder bisher nur in der Fachliteratur mitgeteilten. Daß etwa Szenen aus Tolstois "Anna Karenina" anregend auf die landwirtschaftlichen Passagen in Thomas Manns Erstling gewirkt haben könnten, war bisher nur an entlegener Stelle mitgeteilt worden. Quellenkritisch läßt sich dergleichen fürs Frühwerk nur schwer nachweisen; aber es ist ohne Zweifel ein Gewinn, wenn solche Überlegungen Eingang in den Kommentar finden.
Doch es arbeiten nicht alle gleich, und die Unterschiede im Vorgehen sind temperamentsabhängig. So steht zu vermuten, daß der im kommenden Herbst erscheinende "Zauberberg", den Michael Neumann herausgibt und kommentiert, in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte anders ausbalanciert sein wird als bei Heftrich, der die grundlegenden Quellen und Anregungen ausführlich behandelt und die "Entstehungsgeschichte" zu einer weit ausholenden Interpretation nutzt, aber dafür im Stellenkommentar wohltuend knapp bleibt. Roland Spahr, der für die Gesamtausgabe verantwortliche Lektor, ist der Ansicht, daß es aufgrund der unterschiedlichen Forschungspositionen ein "Spannungsfeld" gibt. Denn es kommen drei Generationen zusammen: Neben Forschern wie Heftrich und Lehnert, die seit den sechziger und siebziger Jahren publizieren, stehen solche der mittleren Generation wie Neumann und Werner Frizen, daneben wiederum Wissenschaftler wie Heinrich Detering, die mit ihrer Arbeit begonnen haben, als Heftrich und Lehnert emeritiert wurden.
In jedem Fall bekommen wir einen Thomas Mann, der von seinen bedeutendsten Erforschern bearbeitet ist, kein Werk aus einem Guß - aber wie wäre das auch möglich bei diesem Werk? Es handelt sich um die erste kommentierte und, im erzählerischen Werk sowie den Essays, auch vollständige Ausgabe, die für die Forschung, aber auch für die tiefer interessierte Leserschaft gedacht ist und diese, den bisherigen Eindrücken nach zu urteilen, auch erreichen wird.
Ob der Strom der Sekundärliteratur jetzt abschwillt, wird man sehen, wenn mehr Bände dieser Ausgabe erschienen sind. Was Editionsphilologie zu leisten imstande ist, läßt sich beispielhaft an den "Buddenbrooks"-Bänden illustrieren. Wir haben hier, neben den Familienchroniken, den Briefen und einem Auszug aus Meyers Konversations-Lexikon, das fürs Typhuskapitel genutzt wurde, auch die Textstellen, die im Roman dann doch nicht auftauchen. Wer die "Ausgeschiedenen Blätter" liest, wird dankbar sein für manche Aussortierung, die Thomas Mann vorgenommen hat und die dem Werk zugute gekommen ist. Insbesondere die Passagen mit dem Makler Gosch sind in der Dialogführung weniger elegant, als es der Roman zur Gänze ist; sie hätten sich, in der überlieferten Form, teilweise wie ein Fremdkörper ausgenommen.
Daß die Rechtschreibung einer Regelung folgt, wie sie bis zur Reform von 1903 bestand, erzwingt mit dem häufigen "th" in "thun" und "That", dem großgeschriebenen "Alles" und manchem "Anderen" eine Umstellung, die der Leser leicht leisten wird. Es wird, auch dadurch, vieles transparenter. Daß etwa der betrügerische Bankrotteur Hugo Weinschenk "Orangenmarmelade" für eine Mehlspeise hält, ist ein Witz, der so recht erst verständlich wird, wenn man das Wort in der nun präsentierten Form liest und merkt, daß es sich dabei um einen englischen und von den Buddenbrooks vermutlich auch so ausgesprochenen Ausdruck handelt: "orange-marmelade". Die französischen Ausdrücke, die Legion sind, werden natürlich ebenfalls alle in der ursprünglichen Schreibung präsentiert, also statt "Kontor" nun wieder "Comptoir"; und das hat etwas zur Folge, das wiederum in die Interpretation hineinspielt: Der europäische Charakter des Romans, den Thomas Mann in seinen Rezensionsanordnungen an den Freund Otto Grautoff zunächst heruntergespielt hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Wir haben, nach all den geglätteten Fassungen der vergangenen hundert Jahre, nun wieder die etwas rauhere, kulturgeschichtlich gewissermaßen nach hinten offene vor uns.
Die Entscheidung, auch in allen übrigen Bänden keine Mischtexte zu bieten, erweist sich als wahrer Segen; daß auch sie nicht ideal ist, liegt daran, daß es die Vorlagen selbst nicht sind. Es ist aber die einzig richtige und gehört zu den "philologischen Grundprinzipien" der neuen Ausgabe. Daß in einzelnen Fällen nicht der Erstdruck zugrunde gelegt wird, sondern eine andere, philologisch-historisch zuverlässige und geprüfte Fassung, ließ sich nicht vermeiden.
"Die Welt ist meine Vorstellung" - so ist die "Einführung in die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" überschrieben, die der S. Fischer Verlag im Herbst vergangenen Jahres herausgegeben hat. Eigentlich hätten die "Buddenbrooks" schon zu diesem Zeitpunkt, dem großen Jubiläum, herauskommen sollen. Nun haben wir sie wie auch die von Detering (unter Mitarbeit von Stachorski) herausgegebenen und kommentierten frühen Essays von 1893 bis 1914 (Essays I, Band 14.1 und 14.2) - einen Bruchteil der insgesamt rund zwölfhundert, die alle publiziert werden. Von den rund fünfundzwanzigtausend Briefen wird es eine Auswahl von dreitausend geben. Die Tagebücher werden in revidierter Fassung erscheinen.
Im ersten Essayband findet sich auch der programmatische Aufsatz "Bilse und ich" von 1906. "Wie aber", fragt Thomas Mann dort, "kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist?" Das fußt auf Schopenhauers Dichotomie von Wille und Vorstellung, die Nietzsche umwandelte ins Dionysische und Apollinische; letzteres prangte symbolhaft als Bogen und Leier auf einer alten Thomas-Mann-Ausgabe und war Gegenstand schon mancher akademischen Prüfung. Jetzt, dank der vorliegenden, der ersten wirklich und richtig kommentierten Ausgabe, dringen solche Dinge auf dezente, aber unaufhaltsame Weise in den außerakademischen Bereich vor, und es ist zu hoffen, daß die Schnittmenge, die seit je aus Forschern und Liebhabern bestand, noch größer wird. Thomas Manns Vorstellungswelt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird uns nun noch klarer; die Ausgabe stiftet, was Thomas Mann selbst so liebte: ein Beziehungsfest.
Wer sich klarmachen will, wie tief der Grund zur Freude über diese Ausgabe reicht, der halte sich die Defizite manch früherer vor Augen, auch wenn man damit an alte Wunden rührt. Es war Hermann Kurzke, der zum siebenköpfigen Hauptherausgeber-Gremium gehört und unter anderem die "Betrachtungen eines Unpolitischen" bearbeitet, der anläßlich der zwanzigbändigen Frankfurter Ausgabe von Peter de Mendelssohn harte, aber nicht ungerechte Worte in dieser Zeitung fand. Er attestierte dem damals schon verstorbenen Herausgeber eine "philologische Bankrotterklärung" und sprach hinsichtlich der auch sonst komplett uneinheitlichen Textüberlieferung von einem "sumpfigen Grund" (F.A.Z. vom 23. August 1986). Nun bekommen wir festen Boden unter die Füße. Die neue Ausgabe ist, darauf läuft es hinaus, für die Forschung, was Thomas Mann über seinen "Doktor Faustus" sagte: "Werk letzter Konsequenz, Endwerk in jedem Sinn". Mehr brauchen wir nicht. Wir anerkennen die philologische Leistung.
Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff.
Band 1.1.: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie". Roman. Band 1.2: "Kommentar". 844 S. u. 748 S., geb., zus. 76,- [Euro].
Band 14.1: "Essays I 1893-1914". Band 14.2: "Kommentar". 420 S. u. 686 S., geb., zus. 82,- [Euro].
Band 21: "Briefe I 1889-1913". 936 S., geb., 95,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Den 1.250 Seiten dicken Essayband lobt Rolf Vollmann trotz der "Namen über Namen, Charakteristiken, Anekdoten, Referate der Reden", mit denen Thomas Mann sein Vergnügen "an sich selber" zu Papier bringt. Nach anfänglichem Staunen über die "unverhüllt eitlen" Beschreibungen lässt sich Vollmann durch die Prosa wie von einer "sanften Strömung" mitnehmen, "stundenlang, ganz ruhig". Denn der Autor ist "wirklich aufmerksam, wirklich klug", wie der Rezensent findet, und so lässt er sich gerne von ihm durch die literarische Landschaft "wie über einen schönen See" führen. Die Kommentare des Herausgebers Hermann Kurzke allerdings, mit 1000 Seiten fast ebenso umfangreich wie der Textband selbst, sind ihm bereits zu viel des Guten. Denn die Texte "haben das wirklich nicht mehr nötig", sagt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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