In der siebenbändigen Wolfgang-Hilbig-Werkausgabe ist dieser umfangreiche Band mit Essays, Reden und Interviews der unverzichtbare Schlussstein. Zu den mehr als zwanzig Essays gehören Texte über Literatur - auch die Frankfurter Poetikvorlesungen Hilbigs sind hier enthalten -, aber auch über Heimat und die eigene Herkunft. Zu den gesammelten Reden gehören zahlreiche Dankreden für erhaltene Literaturpreise, die weit mehr sind als Danksagungen: Hatte seine »Kamenzer Rede« mit ihrer herben Kritik an der deutschen Wiedervereinigung 1997 noch für einen Skandal gesorgt, wurde die Büchner-Preis-Rede von 2002 zu einem melancholischen Rückblick auf die Rolle der Literatur.
36 Interviews und Gespräche mit Wolfgang Hilbig bilden den dritten Teil dieses Bandes. Des öfteren weist er in ihnen darauf hin, dass solche Interviews ihn vom eigentlichen Schreiben abhalten - zugleich bilden sie, wie nun in der Gesamtschau deutlich wird, einen Teil des Werkes. Sie enthalten wichtige Selbstaussagen zur Person und zum literarischen Schaffen, aber auch zahlreiche Stellungnahmen zur DDR, zur Wende von 1989 und dem wiedervereinigten Deutschland - sie sind die beeindruckende Selbstauskunft eines unverwechselbaren Dichters.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
36 Interviews und Gespräche mit Wolfgang Hilbig bilden den dritten Teil dieses Bandes. Des öfteren weist er in ihnen darauf hin, dass solche Interviews ihn vom eigentlichen Schreiben abhalten - zugleich bilden sie, wie nun in der Gesamtschau deutlich wird, einen Teil des Werkes. Sie enthalten wichtige Selbstaussagen zur Person und zum literarischen Schaffen, aber auch zahlreiche Stellungnahmen zur DDR, zur Wende von 1989 und dem wiedervereinigten Deutschland - sie sind die beeindruckende Selbstauskunft eines unverwechselbaren Dichters.
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Ein Klartext in Essays, Reden und Interviews, der den Leser immer neu in ein herausforderndes Gespräch verwickelt. Christian Eger Mitteldeutsche Zeitung 20210831
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus verehrt den schreibenden Arbeiter Wolfgang Hilbig. Dass zu dessen achtzigsten Geburtstag der Abschlussband zur Werkausgabe vorliegt, weiß Platthaus daher sehr zu würdigen: Welchem Autor wird heute noch eine Werkausgabe zuteil? Als "intellektuelles Herzstück" des Bandes hebt Platthaus die Frankfurter Poetikvorlesung von 1995 hervor, in der Hilbig scharf mit der Literaturkritik ins Gericht ging (und die vom damaligen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher recht harsch beantwortet wurde, wie Platthaus einräumt). Dass Hilbigs umfangreiche Korrespondenz nicht Teil der Werkausgabe wurde, kann der Rezensent angesichts ihres Umfangs verstehen. Umso wertvoller findet er den sorgsam zusammengetragenen Band der Neuen Rundschau, der dieses Manko wettmacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2021Der Mann auf der Grenze
Ein Festtag für die Leser von Wolfgang Hilbig: Seine Werkausgabe kommt zum Abschluss, und sie wird ergänzt durch die vom Dichter mit größtem Geschick geführte Korrespondenz mit DDR-Kulturgewaltigen
Wolfgang Hilbig hatte bedauerlicherweise einmal mehr recht, als er bereits früh in seiner Schriftstellerexistenz auf eine Frage von Karl Corino nach der Zukunft seines Schreibens antwortete: "Da gibt es sehr viel Stoff, das schafft man wahrscheinlich gar nicht, denn man kann nicht damit rechnen, daß noch mal vierzig Jahre hinzukommen." Das war 1984, und ihm waren in der Tat nur noch deren dreiundzwanzig beschieden: 2007 starb Hilbig fünfundsechzigjährig. Heute wäre er achtzig geworden.
Aus diesem Anlass wird am Vormittag in der Leipziger Spittastraße eine Gedenktafel für ihn enthüllt; "an seinem Wohnhaus", wie die Stadt mitteilt, doch in Wahrheit war Hilbig dort nur jahrelanger Gast in der winzigen Wohnung seiner damaligen Partnerin. Wenn es so etwas wie ein Hilbig-Haus gibt, dann steht es im thüringischen Meuselwitz, fünfunddreißig Kilometer südwestlich, in der Breitscheidstraße 19 b: das Großelternhaus, in dem der 1941 geborene Hilbig als Halbwaise aufwuchs - der Vater galt seit dem Kampf um Stalingrad als vermisst. "Die DDR und die Landschaft um Meuselwitz werden für mich unausrottbar vorhanden sein; ich habe ja geradezu fiebrige Wurzeln in diese schwarze Erde geschlagen. Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat, was man durchleiden mußte. Alles ist immer wieder in mir gegenwärtig", sagte er 1990, als die DDR gerade dabei war, Geschichte zu werden. In seinen Büchern war sie es da im literarischen Sinne schon lange.
Beide zitierten Äußerungen stammen aus dem schönsten Geschenk, das Hilbigs Hausverlag, S. Fischer, den Lesern nun zum achtzigsten Geburtstag des toten Autors macht: dem Abschlussband der siebenbändigen Werkausgabe, bestehend aus Essays, Reden und Gesprächen, wobei die Letzteren den größten Platz im voluminösen Buch einnehmen - Hilbig war buchstäblich ein gefragter Mann. Denn als S. Fischer 1979 in der Bundesrepublik sein Debüt herausbrachte, den Gedichtband "abwesenheit", geschah das ohne die dafür erforderliche Zustimmung der DDR-Kulturbehörden. Fortan galt Hilbig im Westen als Dissident, obwohl er gar kein anders Ziel gehabt hatte, als endlich das publiziert zu sehen, woran er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr gearbeitet hatte.
Bizarrerweise war er eigentlich das, was die DDR zum bevorzugten Gegenstand ihrer Literaturförderung erklärt hatte: ein schreibender Arbeiter. Wobei man eher sagen müsste: ein arbeitender Schreiber, denn seine Literatur war Hilbig so wichtig, dass er sich vom privilegierten Werkzeugmacher zum Heizer zurückstufen ließ, um im Kesselhaus seines Meuselwitzer Kombinats während der Arbeitszeit ungestört schreiben zu können. Weil er dabei die ausgelaugte Landschaft im umgebenden Braunkohleabbaugebiet zum Thema machte und seine literarischen Vorbilder nicht im Sozialistischen Realismus, sondern in der Romantik suchte, fand er in der DDR keinen Verlag. Aber Corino hatte 1977 Gedichtlesungen von ihm aufgenommen, außer Landes geschmuggelt und sie im Hessischen Rundfunk gesendet. So kam Hilbig zu seinem Frankfurter Verlag.
Was das für sein Leben in der DDR bedeutete, merkte er bald. Schon nach der Kontaktaufnahme mit S. Fischer war er unter einem Vorwand für zwei Wochen inhaftiert worden, um ihn für die Stasi anzuwerben. Hilbig weigerte sich, und nach Freilassung und erfolgter Buchpublikation fand er in Franz Fühmann einen gewichtigen literarischen Fürsprecher, der dafür sorgte, dass auch in der DDR 1983 ein Auswahlband mit Gedichten und Kurzprosa erscheinen konnte: "Stimme Stimme". Aber das sorgte nicht für Frieden daheim, denn um diese Auswahl wurde hart gerungen, während im Westen munter weitere Bücher ganz nach den Vorstellungen von Hilbig erschienen. Wie geschickt sich der mittlerweile zwischen Leipzig und Ost-Berlin wechselnde Dichter beim Kontakt mit DDR-Stellen dumm stellte, um dann plötzlich ans Selbstverständnis des selbstdeklarierten "Leselandes" zu appellieren, zeigt die jüngste Ausgabe der Literaturzeitschrift Neue Rundschau, die erstmals in ihrer 132 Jahre währenden Geschichte ein ganzes Heft einem einzigen Autor widmet: in Gestalt von Hilbigs Briefwechsel mit den DDR-Kulturgewaltigen - bis hoch zu Erich Honecker.
Diese von Michael Opitz sorgsam zusammengetragene, wenn auch etwas redundant kommentierte Veröffentlichung stellt die perfekte Ergänzung zum Abschlussband der bereits ein Jahr nach dem Tod begonnenen Werkausgabe dar, für dessen Texte die Politik - auch noch nach der Wiedervereinigung - oft größere Bedeutung hat als die Literatur. Die Gedichte, Erzählungen und drei Romane Hilbigs kamen in den ersten sechs Bänden zum Abdruck, nun geht es zur Sache, obwohl es gar nicht primär um das geht, was er liebte. Seine Frankfurter Poetikvorlesung von 1995, das intellektuelle Herzstück des neuen Buchs, nutzte er zu einem Generalangriff auf die Literaturkritik, und man kann kaum umhin, in Frank Schirrmachers zwei Jahre danach erfolgter harscher Reaktion auf Hilbigs Dankesrede zum Lessing-Preis die Reaktion eines schwer Getroffenen zu sehen. Heute liest man diese Rede als Vorwegnahme des jüngst erst entbrannten Streits um die Demokratiefähigkeit von Menschen, die in der DDR aufwuchsen. Hilbig bezweifelte sie. In den neunziger Jahren wurde er so zur Symbolfigur des mühsamen Wegs zu einem vereinten Deutschland - gerade, weil er den Mauerfall noch uneingeschränkt begrüßt hatte. Damals lebte er schon in Westdeutschland, wohin die DDR ihn 1985 hatte ausreisen lassen. Das Pokerspiel um diese Erlaubnis war ein Bubenstück. Und ist nun ein Glanzstück in der Korrespondenzsammlung der Neuen Rundschau.
Ihre Veröffentlichung macht allerdings auch klar, was der Werkausgabe trotz ihrem planmäßigen Ende noch fehlt: ein Briefband. Mindestens einer. Hilbig war auch auf diesem Feld ein eifriger Schreiber, nur sind seine Briefe weit verstreut. Es wäre eine editorische Herkulesaufgabe (auch personenrechtlich), sie zusammenzutragen und zu publizieren.
Aber was für ein Glück, dass es die Werkausgabe überhaupt gibt! Welcher Gegenwartsautor bekäme denn sonst noch eine? Selbst Martin Walser (der allerdings zuvor schon zweimal in solchen Genuss gekommen war) blitzte vor wenigen Jahren bei Rowohlt mit diesem Ansinnen ab. Suhrkamp setzt derzeit nur bereits Begonnenes fort. Mit den sieben Hilbig-Bänden beweist Fischer, was dieser Autor immer noch bedeutet. Und stellt womöglich einen Ansporn dar für Erwartungen anderer Büchnerpreisträger an ihre Verlage. Das hätte Wolfgang Hilbig, der nicht für seine eigene Literatur gekämpft hat, gefallen.
Wobei er biographisch, geographisch, ästhetisch und werkgeschichtlich etwas brauchte, das er bekämpfte: die Grenze. "Die oft gehörte, gute Meinung, daß Literatur sich bis zu Grenzen vorwage, ist ein schlichtes Klischee: die Literatur beginnt auf der Grenze. Oft genug widerspricht sie auch noch solcher Festlegung; in ihren besten Beispielen verkörpert sie geradezu Grenzfälle." Das schrieb er im Herbst 1990, als gerade alle politischen Grenzen gefallen schienen. Doch Hilbig machte weiter; so treu wie Meuselwitz als Ursprung seines Schreibens, blieb er sich selbst stilistisch. Das zeigt die Werkausgabe, das zeigt sein ganzes, für dieses Können viel zu kurzes Leben. ANDREAS PLATTHAUS.
Wolfgang Hilbig: "Werke". Band VII: Essays, Reden, Interviews.
Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 768 S., geb., 34,- Euro.
Wolfgang Hilbig: "Ich unterwerfe mich nicht der Zensur". Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden. In: Neue Rundschau, 132. Jg., Heft 2.
Hrsg. und kommentiert von Michael Opitz. Verlag S.Fischer, Frankfurt am Main 2021 208 S., Abb., br., 17,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Festtag für die Leser von Wolfgang Hilbig: Seine Werkausgabe kommt zum Abschluss, und sie wird ergänzt durch die vom Dichter mit größtem Geschick geführte Korrespondenz mit DDR-Kulturgewaltigen
Wolfgang Hilbig hatte bedauerlicherweise einmal mehr recht, als er bereits früh in seiner Schriftstellerexistenz auf eine Frage von Karl Corino nach der Zukunft seines Schreibens antwortete: "Da gibt es sehr viel Stoff, das schafft man wahrscheinlich gar nicht, denn man kann nicht damit rechnen, daß noch mal vierzig Jahre hinzukommen." Das war 1984, und ihm waren in der Tat nur noch deren dreiundzwanzig beschieden: 2007 starb Hilbig fünfundsechzigjährig. Heute wäre er achtzig geworden.
Aus diesem Anlass wird am Vormittag in der Leipziger Spittastraße eine Gedenktafel für ihn enthüllt; "an seinem Wohnhaus", wie die Stadt mitteilt, doch in Wahrheit war Hilbig dort nur jahrelanger Gast in der winzigen Wohnung seiner damaligen Partnerin. Wenn es so etwas wie ein Hilbig-Haus gibt, dann steht es im thüringischen Meuselwitz, fünfunddreißig Kilometer südwestlich, in der Breitscheidstraße 19 b: das Großelternhaus, in dem der 1941 geborene Hilbig als Halbwaise aufwuchs - der Vater galt seit dem Kampf um Stalingrad als vermisst. "Die DDR und die Landschaft um Meuselwitz werden für mich unausrottbar vorhanden sein; ich habe ja geradezu fiebrige Wurzeln in diese schwarze Erde geschlagen. Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat, was man durchleiden mußte. Alles ist immer wieder in mir gegenwärtig", sagte er 1990, als die DDR gerade dabei war, Geschichte zu werden. In seinen Büchern war sie es da im literarischen Sinne schon lange.
Beide zitierten Äußerungen stammen aus dem schönsten Geschenk, das Hilbigs Hausverlag, S. Fischer, den Lesern nun zum achtzigsten Geburtstag des toten Autors macht: dem Abschlussband der siebenbändigen Werkausgabe, bestehend aus Essays, Reden und Gesprächen, wobei die Letzteren den größten Platz im voluminösen Buch einnehmen - Hilbig war buchstäblich ein gefragter Mann. Denn als S. Fischer 1979 in der Bundesrepublik sein Debüt herausbrachte, den Gedichtband "abwesenheit", geschah das ohne die dafür erforderliche Zustimmung der DDR-Kulturbehörden. Fortan galt Hilbig im Westen als Dissident, obwohl er gar kein anders Ziel gehabt hatte, als endlich das publiziert zu sehen, woran er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr gearbeitet hatte.
Bizarrerweise war er eigentlich das, was die DDR zum bevorzugten Gegenstand ihrer Literaturförderung erklärt hatte: ein schreibender Arbeiter. Wobei man eher sagen müsste: ein arbeitender Schreiber, denn seine Literatur war Hilbig so wichtig, dass er sich vom privilegierten Werkzeugmacher zum Heizer zurückstufen ließ, um im Kesselhaus seines Meuselwitzer Kombinats während der Arbeitszeit ungestört schreiben zu können. Weil er dabei die ausgelaugte Landschaft im umgebenden Braunkohleabbaugebiet zum Thema machte und seine literarischen Vorbilder nicht im Sozialistischen Realismus, sondern in der Romantik suchte, fand er in der DDR keinen Verlag. Aber Corino hatte 1977 Gedichtlesungen von ihm aufgenommen, außer Landes geschmuggelt und sie im Hessischen Rundfunk gesendet. So kam Hilbig zu seinem Frankfurter Verlag.
Was das für sein Leben in der DDR bedeutete, merkte er bald. Schon nach der Kontaktaufnahme mit S. Fischer war er unter einem Vorwand für zwei Wochen inhaftiert worden, um ihn für die Stasi anzuwerben. Hilbig weigerte sich, und nach Freilassung und erfolgter Buchpublikation fand er in Franz Fühmann einen gewichtigen literarischen Fürsprecher, der dafür sorgte, dass auch in der DDR 1983 ein Auswahlband mit Gedichten und Kurzprosa erscheinen konnte: "Stimme Stimme". Aber das sorgte nicht für Frieden daheim, denn um diese Auswahl wurde hart gerungen, während im Westen munter weitere Bücher ganz nach den Vorstellungen von Hilbig erschienen. Wie geschickt sich der mittlerweile zwischen Leipzig und Ost-Berlin wechselnde Dichter beim Kontakt mit DDR-Stellen dumm stellte, um dann plötzlich ans Selbstverständnis des selbstdeklarierten "Leselandes" zu appellieren, zeigt die jüngste Ausgabe der Literaturzeitschrift Neue Rundschau, die erstmals in ihrer 132 Jahre währenden Geschichte ein ganzes Heft einem einzigen Autor widmet: in Gestalt von Hilbigs Briefwechsel mit den DDR-Kulturgewaltigen - bis hoch zu Erich Honecker.
Diese von Michael Opitz sorgsam zusammengetragene, wenn auch etwas redundant kommentierte Veröffentlichung stellt die perfekte Ergänzung zum Abschlussband der bereits ein Jahr nach dem Tod begonnenen Werkausgabe dar, für dessen Texte die Politik - auch noch nach der Wiedervereinigung - oft größere Bedeutung hat als die Literatur. Die Gedichte, Erzählungen und drei Romane Hilbigs kamen in den ersten sechs Bänden zum Abdruck, nun geht es zur Sache, obwohl es gar nicht primär um das geht, was er liebte. Seine Frankfurter Poetikvorlesung von 1995, das intellektuelle Herzstück des neuen Buchs, nutzte er zu einem Generalangriff auf die Literaturkritik, und man kann kaum umhin, in Frank Schirrmachers zwei Jahre danach erfolgter harscher Reaktion auf Hilbigs Dankesrede zum Lessing-Preis die Reaktion eines schwer Getroffenen zu sehen. Heute liest man diese Rede als Vorwegnahme des jüngst erst entbrannten Streits um die Demokratiefähigkeit von Menschen, die in der DDR aufwuchsen. Hilbig bezweifelte sie. In den neunziger Jahren wurde er so zur Symbolfigur des mühsamen Wegs zu einem vereinten Deutschland - gerade, weil er den Mauerfall noch uneingeschränkt begrüßt hatte. Damals lebte er schon in Westdeutschland, wohin die DDR ihn 1985 hatte ausreisen lassen. Das Pokerspiel um diese Erlaubnis war ein Bubenstück. Und ist nun ein Glanzstück in der Korrespondenzsammlung der Neuen Rundschau.
Ihre Veröffentlichung macht allerdings auch klar, was der Werkausgabe trotz ihrem planmäßigen Ende noch fehlt: ein Briefband. Mindestens einer. Hilbig war auch auf diesem Feld ein eifriger Schreiber, nur sind seine Briefe weit verstreut. Es wäre eine editorische Herkulesaufgabe (auch personenrechtlich), sie zusammenzutragen und zu publizieren.
Aber was für ein Glück, dass es die Werkausgabe überhaupt gibt! Welcher Gegenwartsautor bekäme denn sonst noch eine? Selbst Martin Walser (der allerdings zuvor schon zweimal in solchen Genuss gekommen war) blitzte vor wenigen Jahren bei Rowohlt mit diesem Ansinnen ab. Suhrkamp setzt derzeit nur bereits Begonnenes fort. Mit den sieben Hilbig-Bänden beweist Fischer, was dieser Autor immer noch bedeutet. Und stellt womöglich einen Ansporn dar für Erwartungen anderer Büchnerpreisträger an ihre Verlage. Das hätte Wolfgang Hilbig, der nicht für seine eigene Literatur gekämpft hat, gefallen.
Wobei er biographisch, geographisch, ästhetisch und werkgeschichtlich etwas brauchte, das er bekämpfte: die Grenze. "Die oft gehörte, gute Meinung, daß Literatur sich bis zu Grenzen vorwage, ist ein schlichtes Klischee: die Literatur beginnt auf der Grenze. Oft genug widerspricht sie auch noch solcher Festlegung; in ihren besten Beispielen verkörpert sie geradezu Grenzfälle." Das schrieb er im Herbst 1990, als gerade alle politischen Grenzen gefallen schienen. Doch Hilbig machte weiter; so treu wie Meuselwitz als Ursprung seines Schreibens, blieb er sich selbst stilistisch. Das zeigt die Werkausgabe, das zeigt sein ganzes, für dieses Können viel zu kurzes Leben. ANDREAS PLATTHAUS.
Wolfgang Hilbig: "Werke". Band VII: Essays, Reden, Interviews.
Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 768 S., geb., 34,- Euro.
Wolfgang Hilbig: "Ich unterwerfe mich nicht der Zensur". Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden. In: Neue Rundschau, 132. Jg., Heft 2.
Hrsg. und kommentiert von Michael Opitz. Verlag S.Fischer, Frankfurt am Main 2021 208 S., Abb., br., 17,- Euro.
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