In der siebenbändigen Wolfgang-Hilbig-Werkausgabe ist dieser umfangreiche Band mit Essays, Reden und Interviews der unverzichtbare Schlussstein. Zu den mehr als zwanzig Essays gehören Texte über Literatur - auch die Frankfurter Poetikvorlesungen Hilbigs sind hier enthalten -, aber auch über Heimat und die eigene Herkunft. Zu den gesammelten Reden gehören zahlreiche Dankreden für erhaltene Literaturpreise, die weit mehr sind als Danksagungen: Hatte seine »Kamenzer Rede« mit ihrer herben Kritik an der deutschen Wiedervereinigung 1997 noch für einen Skandal gesorgt, wurde die Büchner-Preis-Rede von 2002 zu einem melancholischen Rückblick auf die Rolle der Literatur.
36 Interviews und Gespräche mit Wolfgang Hilbig bilden den dritten Teil dieses Bandes. Des öfteren weist er in ihnen darauf hin, dass solche Interviews ihn vom eigentlichen Schreiben abhalten - zugleich bilden sie, wie nun in der Gesamtschau deutlich wird, einen Teil des Werkes. Sie enthalten wichtige Selbstaussagen zur Person und zum literarischen Schaffen, aber auch zahlreiche Stellungnahmen zur DDR, zur Wende von 1989 und dem wiedervereinigten Deutschland - sie sind die beeindruckende Selbstauskunft eines unverwechselbaren Dichters.
36 Interviews und Gespräche mit Wolfgang Hilbig bilden den dritten Teil dieses Bandes. Des öfteren weist er in ihnen darauf hin, dass solche Interviews ihn vom eigentlichen Schreiben abhalten - zugleich bilden sie, wie nun in der Gesamtschau deutlich wird, einen Teil des Werkes. Sie enthalten wichtige Selbstaussagen zur Person und zum literarischen Schaffen, aber auch zahlreiche Stellungnahmen zur DDR, zur Wende von 1989 und dem wiedervereinigten Deutschland - sie sind die beeindruckende Selbstauskunft eines unverwechselbaren Dichters.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus verehrt den schreibenden Arbeiter Wolfgang Hilbig. Dass zu dessen achtzigsten Geburtstag der Abschlussband zur Werkausgabe vorliegt, weiß Platthaus daher sehr zu würdigen: Welchem Autor wird heute noch eine Werkausgabe zuteil? Als "intellektuelles Herzstück" des Bandes hebt Platthaus die Frankfurter Poetikvorlesung von 1995 hervor, in der Hilbig scharf mit der Literaturkritik ins Gericht ging (und die vom damaligen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher recht harsch beantwortet wurde, wie Platthaus einräumt). Dass Hilbigs umfangreiche Korrespondenz nicht Teil der Werkausgabe wurde, kann der Rezensent angesichts ihres Umfangs verstehen. Umso wertvoller findet er den sorgsam zusammengetragenen Band der Neuen Rundschau, der dieses Manko wettmacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2021Der letzte Einsame der deutschen Literatur Am 31. August wäre Wolfgang Hilbig 80 Jahre alt geworden
Erinnerung und
Fantasie
Als Lyriker und Erzähler wurde
Wolfgang Hilbig berühmt, jetzt ist er auch
als Essayist und Redner zu entdecken
VON NICO BLEUTGE
Irgendwann gegen Ende der Neunzigerjahre, schreibt Wolfgang Hilbig in einem Essay, sei er in einen der stillgelegten Industriebetriebe eingedrungen, wo er zu Zeiten der DDR gearbeitet hatte. Die riesigen Fertigungshallen waren leer, alle Apparaturen und Werkbänke aus dem Boden gebrochen und abtransportiert worden. Die Szenerie erinnerte an ein Geröllfeld. Doch zugleich schien sich etwas anderes erhalten zu haben, Spuren einer zweiten Welt, die tief in die Imagination führte: „Es war die Ausdünstung der Wände, jener vielleicht nur eingebildete brandige, schwärzliche Geruch von altem Maschinenöl, der sich im Verputz der Mauern, seit Unzeiten, wie es mir vorkam, festgesetzt hatte.“
Erinnerung und Einbildungskraft waren die beiden Vermögen, aus denen sich Wolfgang Hilbigs Literatur speiste. Mit ihrer Hilfe destillierte er seine Texturen, Sphären voller Metamorphosen und sensorischer Reste, die nicht selten „Traumlandschaften im Kleinformat“ glichen. In seinem Roman „Ich“ etwa verwandelte er den Keller eines Berliner Wohnhauses ins Zentrum einer metaphorisch aufgeladenen Welt, eines Tunnelbaus unter der Stadt, der nicht nur das weitverzweigte Netz der Stasi verkörpert, sondern auch ein großes Bild für das Bewusstsein ist, mitsamt seinem Wahrnehmungsschlick und den Katakomben des Unbewussten.
Dass dabei Gedichte und Prosa im losen Wechsel entstanden, wusste man, nur fanden sich kaum Selbstkommentare zu seinem Schreiben. Man kenne den Lyriker und den Prosaisten, aber kaum den Essayisten Hilbig, meinte ein Interviewer noch 1992. Und Hilbig antwortete: „Ja, ich bin wahrscheinlich nicht so sehr geeignet.“ Doch hier täuschte er sich. Seine Essays zeigen Hilbig als ebenso gedankenklugen wie stilistisch versierten Schriftsteller, der noch der unscheinbarsten Äußerung eine ganz eigene sprachliche Gestalt zu geben verstand.
In diesem dicken Buch mit Essays, Reden und Gesprächen, das nach mehreren Verschiebungen nun endlich erschienen ist, als Abschluss der siebenbändigen Werkausgabe und gerade noch pünktlich zum Gedenken an Hilbigs 80. Geburtstag, kann man nachverfolgen, wie sehr Hilbig nach seiner Übersiedlung in den Westen 1985 vom Literaturbetrieb aufgesaugt wurde. Aber auch, dass er diese Rolle, allen Lamentationen zum Trotz, durchaus annahm und nutzte, um eben den Betrieb kritisch zu kommentieren. Und um sich fortan verstärkt Gedanken über sein Schreiben zu machen und allzu plane Lesarten zu relativieren.
Das Verhältnis von Literatur und sogenannter Wirklichkeit ist bei Hilbig eine verzwickte Angelegenheit. Schreiben hatte für ihn stets einen „autobiographischen Anlass“, es ging ihm darum, sich bestimmte unverstandene Lebensabschnitte zu erschließen, vor allem sein Leben als Arbeiter, als Werkzeugmacher, Monteur, Heizer in den Industriebetrieben rund um seine Geburtsstadt Meuselwitz. Das hat er immer wieder in Interviews und Essays betont. Gleichzeitig wusste er nur zu gut um die Eigenkraft der Sprache. „Ich bin ein Schriftsteller, der von der Sprache ausgeht“, erzählte er schon 1984 einem Gesprächspartner. Sprache schaffe eine neue Wirklichkeit, und dieser Wirklichkeit könne man sich nicht entziehen.
Die Anziehungskraft von Hilbigs atmosphärischen Wirklichkeiten verdankt sich nicht zuletzt seiner Satzkunst, in den Gedichten genauso wie in den Erzählungen und Romanen. Sein erstes veröffentlichtes Buch war ein Gedichtband, „abwesenheit“, 1979 im Westen bei S. Fischer erschienen. Begonnen aber hatte er mit Prosa. An erzählerischen Formen hat er auch am intensivsten gearbeitet. Seine Prosa besteht aus langen, verzweigten Sätzen, die Gedanken, Wahrnehmungen und Bilder ineinanderschlingen und zuweilen jenem „Gemisch aus einem pflanzlichen Filz“ gleichen, das er einmal beschreibt.
Diese weit ausgreifenden Sätze lassen sich nun auch in den Essays entdecken. Sie nehmen damals gängige Begriffe wie „Bewusstseinsindustrie“ auf, wenden sie oder lagern sie in Atmosphären ein, sodass eine ganz eigene Denkbewegung entsteht. Mit dieser Bewegung gelingt es Hilbig gleichermaßen, ein emphatisches Porträt seines großen Förderers Franz Fühmann anzulegen wie den Hintergrund eigener Erzählungen auszuleuchten, von der Spaltung in Industriearbeiter und Schriftsteller zu erzählen und sich vom „Bitterfelder Weg“ mit seiner Vorstellung einer Arbeiterliteratur im Sinne der DDR-Kulturpolitik abzugrenzen. In der Zusammenschau der Essays und Reden werden die entscheidenden Erfahrungen seines Lebens noch einmal deutlich. Die frühen Jahre als Schlüsselkind, mit der alleinerziehenden Mutter und dem harten Großvater, der im Tagebau arbeitete und ein Analphabet war. Das Schreiben im Kesselhaus. Das Ende dieser Doppelexistenz, nachdem Franz Fühmann eine Veröffentlichung in „Sinn und Form“ durchgesetzt hatte und Hilbig eine Steuernummer bekam – Voraussetzung dafür, dass er fortan als „freischaffender Schriftsteller“ leben konnte. Die Ausreise in den Westen. Die Bekanntschaft mit dem literarischen Betrieb.
Wie genau er sich mit allem beschäftigt hat, das mit diesem Betrieb zusammenhängt, führen seine Interviews und Poetik-Vorlesungen vor Augen. Hier seziert er den Begriff der Öffentlichkeit, die Medien, den Buchmarkt und vor allem die Kritik. Kritik hielt Hilbig für eine der großen Errungenschaften der Moderne, sie gehörte für ihn wesentlich zum Denken und Schreiben. Zugleich warf er der Literaturkritik seiner Gegenwart vor, keine Maßstäbe zu haben und nur ein verlängerter Arm der Werbeindustrie zu sein, ein Markt, auf dem die Bücher „so widerstandslos und glatt wie ein feuchtes Stück Seife über die Bühne (...) flitzen und wieder verschwinden“.
Der Dichter zeigt sich hier als genauer Beobachter seiner Zeit und der Geschichte der DDR und der BRD. Dabei fühlte sich Hilbig mindestens ebenso stark der Aufklärung wie der Romantik verpflichtet. Er war ein großer Verteidiger der Demokratie, untersuchte Begriffe wie „Freiheit“ oder „Macht“, schrieb früh über die Zerstörung von Landschaften oder setzte sich für obdachlose Jugendliche ein. Seine Dankesrede zum Peter-Huchel-Preis (2002), traditionell eine Gelegenheit, sich mit Huchels Gedichten zu beschäftigen, nutzte er, um eine allgemeine „Demokratie-Verdrossenheit“ in Deutschland zu konstatieren.
Diese meinungsstarke Seite seines Schreiblebens war freilich ihrerseits nicht ohne Vereinfachungen und Pointierungen zu haben. Für seine „Kamenzer Rede“ (1997) etwa mit ihren Thesen von der alternativlosen „Herrschaft des Profits und seiner Mechanismen“ bekam er heftigen Gegenwind, vor allem von konservativer Seite. Übersehen wurde dabei nicht selten die ironische Färbung mancher Passagen und Hilbigs gutes Gespür für kommende Entwicklungen. Egal, ob Berlin, Potsdam oder Leipzig, die Verwandlung von Stadtteilen in „eine Art Pseudo-Schwabing“, mit all den Folgen sozialer Verdrängung, sah er früh voraus. Auch ahnte er, dass die deutsch-deutsche Teilung in den Köpfen keineswegs vorbei ist, sondern es „noch Generationen dauern wird, bevor die Wende von den Leuten nicht mehr erlebt wird“.
Natürlich führten die Stellungnahmen auch dazu, dass Hilbig regelmäßig als DDR-Experte herhalten musste. Wie ermüdend er die dauernden Interviews fand, die ihren Höhepunkt rund um die Verleihung des Büchnerpreises im Jahr 2002 hatten, kann man an den zunehmend ähnlicher werdenden Antworten auf die immer gleichen Fragen ablesen. Für Hilbig war der Weg durch den Literaturbetrieb ein Weg der Ernüchterung. Seine anfängliche Überzeugung vom dialogischen Charakter der Literatur gab er nach und nach auf, in seinen späten Jahren dachte er Literatur vornehmlich als Monolog, daran konnten auch die vielen Lesungen und Preise nichts ändern, die er gewann.
Bei alldem wusste er doch immer, dass er Teil des Betriebs war – und spielte das Spiel mit. Und er spielte es nicht nur mit, sondern nutzte Reden und Interviews auch, um ein bestimmtes Bild von sich festzuschreiben. Das Alleinsein, das Schreiben als „Wortkampf“, die Fixierung auf die „Altlasten“ der Vergangenheit – Vorstellungen wie diese wurden für die Selbstinszenierung verwendet. Wenig hingegen erzählte Hilbig über seine Partnerschaften, über das Zusammenleben mit Margret Franzlik und der gemeinsamen Tochter Constance etwa, die er beide 1982 verlässt, über Silvia Morawetz, Natascha Wodin oder Christiane Rusch. Geschichten über das Soziale bei Hilbig kann man nur anderswo nachlesen, Franzlik wie Wodin haben darüber geschrieben.
Fast zwei Jahrzehnte lang schrieb Wolfgang Hilbig, ohne dass seine Texte eine breitere Öffentlichkeit erreichten. Danach begann der Aufstieg zu einem der eigensinnigsten und gefeiertsten Autoren seiner Zeit. Der Ruhm hielt auch über den Tod im Jahr 2007 hinaus an. Inzwischen ist es ein wenig ruhiger geworden um diesen großen Dichter. In einem seiner frühen Essays träumt er von einem dystopischen Rom, in dem alle Archive und Bibliotheken geschlossen sind. Dieser schillernde Band sollte dazu anregen, Hilbig erst gar nicht im Archiv verschwinden zu lassen, sondern: ihn zu lesen.
Sein erstes Buch war
ein Gedichtband,
begonnen aber hatte er mit Prosa
Der Literaturkritik warf er vor,
nur ein verlängerter Arm
der Werbeindustrie zu sein
Wolfgang Hilbig: Essays – Reden – Interviews. Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. In Zusammenarbeit mit Volker Hanisch und mit einem Nachwort von Wilhelm Bartsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 768 Seiten, 34 Euro.
Wolfgang Hilbig in Berlin-Mitte im Februar 2000. Die Stadt bewegte ihn immer.
Foto: Ute Mahler/Ostkreuz
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Erinnerung und
Fantasie
Als Lyriker und Erzähler wurde
Wolfgang Hilbig berühmt, jetzt ist er auch
als Essayist und Redner zu entdecken
VON NICO BLEUTGE
Irgendwann gegen Ende der Neunzigerjahre, schreibt Wolfgang Hilbig in einem Essay, sei er in einen der stillgelegten Industriebetriebe eingedrungen, wo er zu Zeiten der DDR gearbeitet hatte. Die riesigen Fertigungshallen waren leer, alle Apparaturen und Werkbänke aus dem Boden gebrochen und abtransportiert worden. Die Szenerie erinnerte an ein Geröllfeld. Doch zugleich schien sich etwas anderes erhalten zu haben, Spuren einer zweiten Welt, die tief in die Imagination führte: „Es war die Ausdünstung der Wände, jener vielleicht nur eingebildete brandige, schwärzliche Geruch von altem Maschinenöl, der sich im Verputz der Mauern, seit Unzeiten, wie es mir vorkam, festgesetzt hatte.“
Erinnerung und Einbildungskraft waren die beiden Vermögen, aus denen sich Wolfgang Hilbigs Literatur speiste. Mit ihrer Hilfe destillierte er seine Texturen, Sphären voller Metamorphosen und sensorischer Reste, die nicht selten „Traumlandschaften im Kleinformat“ glichen. In seinem Roman „Ich“ etwa verwandelte er den Keller eines Berliner Wohnhauses ins Zentrum einer metaphorisch aufgeladenen Welt, eines Tunnelbaus unter der Stadt, der nicht nur das weitverzweigte Netz der Stasi verkörpert, sondern auch ein großes Bild für das Bewusstsein ist, mitsamt seinem Wahrnehmungsschlick und den Katakomben des Unbewussten.
Dass dabei Gedichte und Prosa im losen Wechsel entstanden, wusste man, nur fanden sich kaum Selbstkommentare zu seinem Schreiben. Man kenne den Lyriker und den Prosaisten, aber kaum den Essayisten Hilbig, meinte ein Interviewer noch 1992. Und Hilbig antwortete: „Ja, ich bin wahrscheinlich nicht so sehr geeignet.“ Doch hier täuschte er sich. Seine Essays zeigen Hilbig als ebenso gedankenklugen wie stilistisch versierten Schriftsteller, der noch der unscheinbarsten Äußerung eine ganz eigene sprachliche Gestalt zu geben verstand.
In diesem dicken Buch mit Essays, Reden und Gesprächen, das nach mehreren Verschiebungen nun endlich erschienen ist, als Abschluss der siebenbändigen Werkausgabe und gerade noch pünktlich zum Gedenken an Hilbigs 80. Geburtstag, kann man nachverfolgen, wie sehr Hilbig nach seiner Übersiedlung in den Westen 1985 vom Literaturbetrieb aufgesaugt wurde. Aber auch, dass er diese Rolle, allen Lamentationen zum Trotz, durchaus annahm und nutzte, um eben den Betrieb kritisch zu kommentieren. Und um sich fortan verstärkt Gedanken über sein Schreiben zu machen und allzu plane Lesarten zu relativieren.
Das Verhältnis von Literatur und sogenannter Wirklichkeit ist bei Hilbig eine verzwickte Angelegenheit. Schreiben hatte für ihn stets einen „autobiographischen Anlass“, es ging ihm darum, sich bestimmte unverstandene Lebensabschnitte zu erschließen, vor allem sein Leben als Arbeiter, als Werkzeugmacher, Monteur, Heizer in den Industriebetrieben rund um seine Geburtsstadt Meuselwitz. Das hat er immer wieder in Interviews und Essays betont. Gleichzeitig wusste er nur zu gut um die Eigenkraft der Sprache. „Ich bin ein Schriftsteller, der von der Sprache ausgeht“, erzählte er schon 1984 einem Gesprächspartner. Sprache schaffe eine neue Wirklichkeit, und dieser Wirklichkeit könne man sich nicht entziehen.
Die Anziehungskraft von Hilbigs atmosphärischen Wirklichkeiten verdankt sich nicht zuletzt seiner Satzkunst, in den Gedichten genauso wie in den Erzählungen und Romanen. Sein erstes veröffentlichtes Buch war ein Gedichtband, „abwesenheit“, 1979 im Westen bei S. Fischer erschienen. Begonnen aber hatte er mit Prosa. An erzählerischen Formen hat er auch am intensivsten gearbeitet. Seine Prosa besteht aus langen, verzweigten Sätzen, die Gedanken, Wahrnehmungen und Bilder ineinanderschlingen und zuweilen jenem „Gemisch aus einem pflanzlichen Filz“ gleichen, das er einmal beschreibt.
Diese weit ausgreifenden Sätze lassen sich nun auch in den Essays entdecken. Sie nehmen damals gängige Begriffe wie „Bewusstseinsindustrie“ auf, wenden sie oder lagern sie in Atmosphären ein, sodass eine ganz eigene Denkbewegung entsteht. Mit dieser Bewegung gelingt es Hilbig gleichermaßen, ein emphatisches Porträt seines großen Förderers Franz Fühmann anzulegen wie den Hintergrund eigener Erzählungen auszuleuchten, von der Spaltung in Industriearbeiter und Schriftsteller zu erzählen und sich vom „Bitterfelder Weg“ mit seiner Vorstellung einer Arbeiterliteratur im Sinne der DDR-Kulturpolitik abzugrenzen. In der Zusammenschau der Essays und Reden werden die entscheidenden Erfahrungen seines Lebens noch einmal deutlich. Die frühen Jahre als Schlüsselkind, mit der alleinerziehenden Mutter und dem harten Großvater, der im Tagebau arbeitete und ein Analphabet war. Das Schreiben im Kesselhaus. Das Ende dieser Doppelexistenz, nachdem Franz Fühmann eine Veröffentlichung in „Sinn und Form“ durchgesetzt hatte und Hilbig eine Steuernummer bekam – Voraussetzung dafür, dass er fortan als „freischaffender Schriftsteller“ leben konnte. Die Ausreise in den Westen. Die Bekanntschaft mit dem literarischen Betrieb.
Wie genau er sich mit allem beschäftigt hat, das mit diesem Betrieb zusammenhängt, führen seine Interviews und Poetik-Vorlesungen vor Augen. Hier seziert er den Begriff der Öffentlichkeit, die Medien, den Buchmarkt und vor allem die Kritik. Kritik hielt Hilbig für eine der großen Errungenschaften der Moderne, sie gehörte für ihn wesentlich zum Denken und Schreiben. Zugleich warf er der Literaturkritik seiner Gegenwart vor, keine Maßstäbe zu haben und nur ein verlängerter Arm der Werbeindustrie zu sein, ein Markt, auf dem die Bücher „so widerstandslos und glatt wie ein feuchtes Stück Seife über die Bühne (...) flitzen und wieder verschwinden“.
Der Dichter zeigt sich hier als genauer Beobachter seiner Zeit und der Geschichte der DDR und der BRD. Dabei fühlte sich Hilbig mindestens ebenso stark der Aufklärung wie der Romantik verpflichtet. Er war ein großer Verteidiger der Demokratie, untersuchte Begriffe wie „Freiheit“ oder „Macht“, schrieb früh über die Zerstörung von Landschaften oder setzte sich für obdachlose Jugendliche ein. Seine Dankesrede zum Peter-Huchel-Preis (2002), traditionell eine Gelegenheit, sich mit Huchels Gedichten zu beschäftigen, nutzte er, um eine allgemeine „Demokratie-Verdrossenheit“ in Deutschland zu konstatieren.
Diese meinungsstarke Seite seines Schreiblebens war freilich ihrerseits nicht ohne Vereinfachungen und Pointierungen zu haben. Für seine „Kamenzer Rede“ (1997) etwa mit ihren Thesen von der alternativlosen „Herrschaft des Profits und seiner Mechanismen“ bekam er heftigen Gegenwind, vor allem von konservativer Seite. Übersehen wurde dabei nicht selten die ironische Färbung mancher Passagen und Hilbigs gutes Gespür für kommende Entwicklungen. Egal, ob Berlin, Potsdam oder Leipzig, die Verwandlung von Stadtteilen in „eine Art Pseudo-Schwabing“, mit all den Folgen sozialer Verdrängung, sah er früh voraus. Auch ahnte er, dass die deutsch-deutsche Teilung in den Köpfen keineswegs vorbei ist, sondern es „noch Generationen dauern wird, bevor die Wende von den Leuten nicht mehr erlebt wird“.
Natürlich führten die Stellungnahmen auch dazu, dass Hilbig regelmäßig als DDR-Experte herhalten musste. Wie ermüdend er die dauernden Interviews fand, die ihren Höhepunkt rund um die Verleihung des Büchnerpreises im Jahr 2002 hatten, kann man an den zunehmend ähnlicher werdenden Antworten auf die immer gleichen Fragen ablesen. Für Hilbig war der Weg durch den Literaturbetrieb ein Weg der Ernüchterung. Seine anfängliche Überzeugung vom dialogischen Charakter der Literatur gab er nach und nach auf, in seinen späten Jahren dachte er Literatur vornehmlich als Monolog, daran konnten auch die vielen Lesungen und Preise nichts ändern, die er gewann.
Bei alldem wusste er doch immer, dass er Teil des Betriebs war – und spielte das Spiel mit. Und er spielte es nicht nur mit, sondern nutzte Reden und Interviews auch, um ein bestimmtes Bild von sich festzuschreiben. Das Alleinsein, das Schreiben als „Wortkampf“, die Fixierung auf die „Altlasten“ der Vergangenheit – Vorstellungen wie diese wurden für die Selbstinszenierung verwendet. Wenig hingegen erzählte Hilbig über seine Partnerschaften, über das Zusammenleben mit Margret Franzlik und der gemeinsamen Tochter Constance etwa, die er beide 1982 verlässt, über Silvia Morawetz, Natascha Wodin oder Christiane Rusch. Geschichten über das Soziale bei Hilbig kann man nur anderswo nachlesen, Franzlik wie Wodin haben darüber geschrieben.
Fast zwei Jahrzehnte lang schrieb Wolfgang Hilbig, ohne dass seine Texte eine breitere Öffentlichkeit erreichten. Danach begann der Aufstieg zu einem der eigensinnigsten und gefeiertsten Autoren seiner Zeit. Der Ruhm hielt auch über den Tod im Jahr 2007 hinaus an. Inzwischen ist es ein wenig ruhiger geworden um diesen großen Dichter. In einem seiner frühen Essays träumt er von einem dystopischen Rom, in dem alle Archive und Bibliotheken geschlossen sind. Dieser schillernde Band sollte dazu anregen, Hilbig erst gar nicht im Archiv verschwinden zu lassen, sondern: ihn zu lesen.
Sein erstes Buch war
ein Gedichtband,
begonnen aber hatte er mit Prosa
Der Literaturkritik warf er vor,
nur ein verlängerter Arm
der Werbeindustrie zu sein
Wolfgang Hilbig: Essays – Reden – Interviews. Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. In Zusammenarbeit mit Volker Hanisch und mit einem Nachwort von Wilhelm Bartsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 768 Seiten, 34 Euro.
Wolfgang Hilbig in Berlin-Mitte im Februar 2000. Die Stadt bewegte ihn immer.
Foto: Ute Mahler/Ostkreuz
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2021Der Mann auf der Grenze
Ein Festtag für die Leser von Wolfgang Hilbig: Seine Werkausgabe kommt zum Abschluss, und sie wird ergänzt durch die vom Dichter mit größtem Geschick geführte Korrespondenz mit DDR-Kulturgewaltigen
Wolfgang Hilbig hatte bedauerlicherweise einmal mehr recht, als er bereits früh in seiner Schriftstellerexistenz auf eine Frage von Karl Corino nach der Zukunft seines Schreibens antwortete: "Da gibt es sehr viel Stoff, das schafft man wahrscheinlich gar nicht, denn man kann nicht damit rechnen, daß noch mal vierzig Jahre hinzukommen." Das war 1984, und ihm waren in der Tat nur noch deren dreiundzwanzig beschieden: 2007 starb Hilbig fünfundsechzigjährig. Heute wäre er achtzig geworden.
Aus diesem Anlass wird am Vormittag in der Leipziger Spittastraße eine Gedenktafel für ihn enthüllt; "an seinem Wohnhaus", wie die Stadt mitteilt, doch in Wahrheit war Hilbig dort nur jahrelanger Gast in der winzigen Wohnung seiner damaligen Partnerin. Wenn es so etwas wie ein Hilbig-Haus gibt, dann steht es im thüringischen Meuselwitz, fünfunddreißig Kilometer südwestlich, in der Breitscheidstraße 19 b: das Großelternhaus, in dem der 1941 geborene Hilbig als Halbwaise aufwuchs - der Vater galt seit dem Kampf um Stalingrad als vermisst. "Die DDR und die Landschaft um Meuselwitz werden für mich unausrottbar vorhanden sein; ich habe ja geradezu fiebrige Wurzeln in diese schwarze Erde geschlagen. Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat, was man durchleiden mußte. Alles ist immer wieder in mir gegenwärtig", sagte er 1990, als die DDR gerade dabei war, Geschichte zu werden. In seinen Büchern war sie es da im literarischen Sinne schon lange.
Beide zitierten Äußerungen stammen aus dem schönsten Geschenk, das Hilbigs Hausverlag, S. Fischer, den Lesern nun zum achtzigsten Geburtstag des toten Autors macht: dem Abschlussband der siebenbändigen Werkausgabe, bestehend aus Essays, Reden und Gesprächen, wobei die Letzteren den größten Platz im voluminösen Buch einnehmen - Hilbig war buchstäblich ein gefragter Mann. Denn als S. Fischer 1979 in der Bundesrepublik sein Debüt herausbrachte, den Gedichtband "abwesenheit", geschah das ohne die dafür erforderliche Zustimmung der DDR-Kulturbehörden. Fortan galt Hilbig im Westen als Dissident, obwohl er gar kein anders Ziel gehabt hatte, als endlich das publiziert zu sehen, woran er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr gearbeitet hatte.
Bizarrerweise war er eigentlich das, was die DDR zum bevorzugten Gegenstand ihrer Literaturförderung erklärt hatte: ein schreibender Arbeiter. Wobei man eher sagen müsste: ein arbeitender Schreiber, denn seine Literatur war Hilbig so wichtig, dass er sich vom privilegierten Werkzeugmacher zum Heizer zurückstufen ließ, um im Kesselhaus seines Meuselwitzer Kombinats während der Arbeitszeit ungestört schreiben zu können. Weil er dabei die ausgelaugte Landschaft im umgebenden Braunkohleabbaugebiet zum Thema machte und seine literarischen Vorbilder nicht im Sozialistischen Realismus, sondern in der Romantik suchte, fand er in der DDR keinen Verlag. Aber Corino hatte 1977 Gedichtlesungen von ihm aufgenommen, außer Landes geschmuggelt und sie im Hessischen Rundfunk gesendet. So kam Hilbig zu seinem Frankfurter Verlag.
Was das für sein Leben in der DDR bedeutete, merkte er bald. Schon nach der Kontaktaufnahme mit S. Fischer war er unter einem Vorwand für zwei Wochen inhaftiert worden, um ihn für die Stasi anzuwerben. Hilbig weigerte sich, und nach Freilassung und erfolgter Buchpublikation fand er in Franz Fühmann einen gewichtigen literarischen Fürsprecher, der dafür sorgte, dass auch in der DDR 1983 ein Auswahlband mit Gedichten und Kurzprosa erscheinen konnte: "Stimme Stimme". Aber das sorgte nicht für Frieden daheim, denn um diese Auswahl wurde hart gerungen, während im Westen munter weitere Bücher ganz nach den Vorstellungen von Hilbig erschienen. Wie geschickt sich der mittlerweile zwischen Leipzig und Ost-Berlin wechselnde Dichter beim Kontakt mit DDR-Stellen dumm stellte, um dann plötzlich ans Selbstverständnis des selbstdeklarierten "Leselandes" zu appellieren, zeigt die jüngste Ausgabe der Literaturzeitschrift Neue Rundschau, die erstmals in ihrer 132 Jahre währenden Geschichte ein ganzes Heft einem einzigen Autor widmet: in Gestalt von Hilbigs Briefwechsel mit den DDR-Kulturgewaltigen - bis hoch zu Erich Honecker.
Diese von Michael Opitz sorgsam zusammengetragene, wenn auch etwas redundant kommentierte Veröffentlichung stellt die perfekte Ergänzung zum Abschlussband der bereits ein Jahr nach dem Tod begonnenen Werkausgabe dar, für dessen Texte die Politik - auch noch nach der Wiedervereinigung - oft größere Bedeutung hat als die Literatur. Die Gedichte, Erzählungen und drei Romane Hilbigs kamen in den ersten sechs Bänden zum Abdruck, nun geht es zur Sache, obwohl es gar nicht primär um das geht, was er liebte. Seine Frankfurter Poetikvorlesung von 1995, das intellektuelle Herzstück des neuen Buchs, nutzte er zu einem Generalangriff auf die Literaturkritik, und man kann kaum umhin, in Frank Schirrmachers zwei Jahre danach erfolgter harscher Reaktion auf Hilbigs Dankesrede zum Lessing-Preis die Reaktion eines schwer Getroffenen zu sehen. Heute liest man diese Rede als Vorwegnahme des jüngst erst entbrannten Streits um die Demokratiefähigkeit von Menschen, die in der DDR aufwuchsen. Hilbig bezweifelte sie. In den neunziger Jahren wurde er so zur Symbolfigur des mühsamen Wegs zu einem vereinten Deutschland - gerade, weil er den Mauerfall noch uneingeschränkt begrüßt hatte. Damals lebte er schon in Westdeutschland, wohin die DDR ihn 1985 hatte ausreisen lassen. Das Pokerspiel um diese Erlaubnis war ein Bubenstück. Und ist nun ein Glanzstück in der Korrespondenzsammlung der Neuen Rundschau.
Ihre Veröffentlichung macht allerdings auch klar, was der Werkausgabe trotz ihrem planmäßigen Ende noch fehlt: ein Briefband. Mindestens einer. Hilbig war auch auf diesem Feld ein eifriger Schreiber, nur sind seine Briefe weit verstreut. Es wäre eine editorische Herkulesaufgabe (auch personenrechtlich), sie zusammenzutragen und zu publizieren.
Aber was für ein Glück, dass es die Werkausgabe überhaupt gibt! Welcher Gegenwartsautor bekäme denn sonst noch eine? Selbst Martin Walser (der allerdings zuvor schon zweimal in solchen Genuss gekommen war) blitzte vor wenigen Jahren bei Rowohlt mit diesem Ansinnen ab. Suhrkamp setzt derzeit nur bereits Begonnenes fort. Mit den sieben Hilbig-Bänden beweist Fischer, was dieser Autor immer noch bedeutet. Und stellt womöglich einen Ansporn dar für Erwartungen anderer Büchnerpreisträger an ihre Verlage. Das hätte Wolfgang Hilbig, der nicht für seine eigene Literatur gekämpft hat, gefallen.
Wobei er biographisch, geographisch, ästhetisch und werkgeschichtlich etwas brauchte, das er bekämpfte: die Grenze. "Die oft gehörte, gute Meinung, daß Literatur sich bis zu Grenzen vorwage, ist ein schlichtes Klischee: die Literatur beginnt auf der Grenze. Oft genug widerspricht sie auch noch solcher Festlegung; in ihren besten Beispielen verkörpert sie geradezu Grenzfälle." Das schrieb er im Herbst 1990, als gerade alle politischen Grenzen gefallen schienen. Doch Hilbig machte weiter; so treu wie Meuselwitz als Ursprung seines Schreibens, blieb er sich selbst stilistisch. Das zeigt die Werkausgabe, das zeigt sein ganzes, für dieses Können viel zu kurzes Leben. ANDREAS PLATTHAUS.
Wolfgang Hilbig: "Werke". Band VII: Essays, Reden, Interviews.
Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 768 S., geb., 34,- Euro.
Wolfgang Hilbig: "Ich unterwerfe mich nicht der Zensur". Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden. In: Neue Rundschau, 132. Jg., Heft 2.
Hrsg. und kommentiert von Michael Opitz. Verlag S.Fischer, Frankfurt am Main 2021 208 S., Abb., br., 17,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Festtag für die Leser von Wolfgang Hilbig: Seine Werkausgabe kommt zum Abschluss, und sie wird ergänzt durch die vom Dichter mit größtem Geschick geführte Korrespondenz mit DDR-Kulturgewaltigen
Wolfgang Hilbig hatte bedauerlicherweise einmal mehr recht, als er bereits früh in seiner Schriftstellerexistenz auf eine Frage von Karl Corino nach der Zukunft seines Schreibens antwortete: "Da gibt es sehr viel Stoff, das schafft man wahrscheinlich gar nicht, denn man kann nicht damit rechnen, daß noch mal vierzig Jahre hinzukommen." Das war 1984, und ihm waren in der Tat nur noch deren dreiundzwanzig beschieden: 2007 starb Hilbig fünfundsechzigjährig. Heute wäre er achtzig geworden.
Aus diesem Anlass wird am Vormittag in der Leipziger Spittastraße eine Gedenktafel für ihn enthüllt; "an seinem Wohnhaus", wie die Stadt mitteilt, doch in Wahrheit war Hilbig dort nur jahrelanger Gast in der winzigen Wohnung seiner damaligen Partnerin. Wenn es so etwas wie ein Hilbig-Haus gibt, dann steht es im thüringischen Meuselwitz, fünfunddreißig Kilometer südwestlich, in der Breitscheidstraße 19 b: das Großelternhaus, in dem der 1941 geborene Hilbig als Halbwaise aufwuchs - der Vater galt seit dem Kampf um Stalingrad als vermisst. "Die DDR und die Landschaft um Meuselwitz werden für mich unausrottbar vorhanden sein; ich habe ja geradezu fiebrige Wurzeln in diese schwarze Erde geschlagen. Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat, was man durchleiden mußte. Alles ist immer wieder in mir gegenwärtig", sagte er 1990, als die DDR gerade dabei war, Geschichte zu werden. In seinen Büchern war sie es da im literarischen Sinne schon lange.
Beide zitierten Äußerungen stammen aus dem schönsten Geschenk, das Hilbigs Hausverlag, S. Fischer, den Lesern nun zum achtzigsten Geburtstag des toten Autors macht: dem Abschlussband der siebenbändigen Werkausgabe, bestehend aus Essays, Reden und Gesprächen, wobei die Letzteren den größten Platz im voluminösen Buch einnehmen - Hilbig war buchstäblich ein gefragter Mann. Denn als S. Fischer 1979 in der Bundesrepublik sein Debüt herausbrachte, den Gedichtband "abwesenheit", geschah das ohne die dafür erforderliche Zustimmung der DDR-Kulturbehörden. Fortan galt Hilbig im Westen als Dissident, obwohl er gar kein anders Ziel gehabt hatte, als endlich das publiziert zu sehen, woran er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr gearbeitet hatte.
Bizarrerweise war er eigentlich das, was die DDR zum bevorzugten Gegenstand ihrer Literaturförderung erklärt hatte: ein schreibender Arbeiter. Wobei man eher sagen müsste: ein arbeitender Schreiber, denn seine Literatur war Hilbig so wichtig, dass er sich vom privilegierten Werkzeugmacher zum Heizer zurückstufen ließ, um im Kesselhaus seines Meuselwitzer Kombinats während der Arbeitszeit ungestört schreiben zu können. Weil er dabei die ausgelaugte Landschaft im umgebenden Braunkohleabbaugebiet zum Thema machte und seine literarischen Vorbilder nicht im Sozialistischen Realismus, sondern in der Romantik suchte, fand er in der DDR keinen Verlag. Aber Corino hatte 1977 Gedichtlesungen von ihm aufgenommen, außer Landes geschmuggelt und sie im Hessischen Rundfunk gesendet. So kam Hilbig zu seinem Frankfurter Verlag.
Was das für sein Leben in der DDR bedeutete, merkte er bald. Schon nach der Kontaktaufnahme mit S. Fischer war er unter einem Vorwand für zwei Wochen inhaftiert worden, um ihn für die Stasi anzuwerben. Hilbig weigerte sich, und nach Freilassung und erfolgter Buchpublikation fand er in Franz Fühmann einen gewichtigen literarischen Fürsprecher, der dafür sorgte, dass auch in der DDR 1983 ein Auswahlband mit Gedichten und Kurzprosa erscheinen konnte: "Stimme Stimme". Aber das sorgte nicht für Frieden daheim, denn um diese Auswahl wurde hart gerungen, während im Westen munter weitere Bücher ganz nach den Vorstellungen von Hilbig erschienen. Wie geschickt sich der mittlerweile zwischen Leipzig und Ost-Berlin wechselnde Dichter beim Kontakt mit DDR-Stellen dumm stellte, um dann plötzlich ans Selbstverständnis des selbstdeklarierten "Leselandes" zu appellieren, zeigt die jüngste Ausgabe der Literaturzeitschrift Neue Rundschau, die erstmals in ihrer 132 Jahre währenden Geschichte ein ganzes Heft einem einzigen Autor widmet: in Gestalt von Hilbigs Briefwechsel mit den DDR-Kulturgewaltigen - bis hoch zu Erich Honecker.
Diese von Michael Opitz sorgsam zusammengetragene, wenn auch etwas redundant kommentierte Veröffentlichung stellt die perfekte Ergänzung zum Abschlussband der bereits ein Jahr nach dem Tod begonnenen Werkausgabe dar, für dessen Texte die Politik - auch noch nach der Wiedervereinigung - oft größere Bedeutung hat als die Literatur. Die Gedichte, Erzählungen und drei Romane Hilbigs kamen in den ersten sechs Bänden zum Abdruck, nun geht es zur Sache, obwohl es gar nicht primär um das geht, was er liebte. Seine Frankfurter Poetikvorlesung von 1995, das intellektuelle Herzstück des neuen Buchs, nutzte er zu einem Generalangriff auf die Literaturkritik, und man kann kaum umhin, in Frank Schirrmachers zwei Jahre danach erfolgter harscher Reaktion auf Hilbigs Dankesrede zum Lessing-Preis die Reaktion eines schwer Getroffenen zu sehen. Heute liest man diese Rede als Vorwegnahme des jüngst erst entbrannten Streits um die Demokratiefähigkeit von Menschen, die in der DDR aufwuchsen. Hilbig bezweifelte sie. In den neunziger Jahren wurde er so zur Symbolfigur des mühsamen Wegs zu einem vereinten Deutschland - gerade, weil er den Mauerfall noch uneingeschränkt begrüßt hatte. Damals lebte er schon in Westdeutschland, wohin die DDR ihn 1985 hatte ausreisen lassen. Das Pokerspiel um diese Erlaubnis war ein Bubenstück. Und ist nun ein Glanzstück in der Korrespondenzsammlung der Neuen Rundschau.
Ihre Veröffentlichung macht allerdings auch klar, was der Werkausgabe trotz ihrem planmäßigen Ende noch fehlt: ein Briefband. Mindestens einer. Hilbig war auch auf diesem Feld ein eifriger Schreiber, nur sind seine Briefe weit verstreut. Es wäre eine editorische Herkulesaufgabe (auch personenrechtlich), sie zusammenzutragen und zu publizieren.
Aber was für ein Glück, dass es die Werkausgabe überhaupt gibt! Welcher Gegenwartsautor bekäme denn sonst noch eine? Selbst Martin Walser (der allerdings zuvor schon zweimal in solchen Genuss gekommen war) blitzte vor wenigen Jahren bei Rowohlt mit diesem Ansinnen ab. Suhrkamp setzt derzeit nur bereits Begonnenes fort. Mit den sieben Hilbig-Bänden beweist Fischer, was dieser Autor immer noch bedeutet. Und stellt womöglich einen Ansporn dar für Erwartungen anderer Büchnerpreisträger an ihre Verlage. Das hätte Wolfgang Hilbig, der nicht für seine eigene Literatur gekämpft hat, gefallen.
Wobei er biographisch, geographisch, ästhetisch und werkgeschichtlich etwas brauchte, das er bekämpfte: die Grenze. "Die oft gehörte, gute Meinung, daß Literatur sich bis zu Grenzen vorwage, ist ein schlichtes Klischee: die Literatur beginnt auf der Grenze. Oft genug widerspricht sie auch noch solcher Festlegung; in ihren besten Beispielen verkörpert sie geradezu Grenzfälle." Das schrieb er im Herbst 1990, als gerade alle politischen Grenzen gefallen schienen. Doch Hilbig machte weiter; so treu wie Meuselwitz als Ursprung seines Schreibens, blieb er sich selbst stilistisch. Das zeigt die Werkausgabe, das zeigt sein ganzes, für dieses Können viel zu kurzes Leben. ANDREAS PLATTHAUS.
Wolfgang Hilbig: "Werke". Band VII: Essays, Reden, Interviews.
Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 768 S., geb., 34,- Euro.
Wolfgang Hilbig: "Ich unterwerfe mich nicht der Zensur". Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden. In: Neue Rundschau, 132. Jg., Heft 2.
Hrsg. und kommentiert von Michael Opitz. Verlag S.Fischer, Frankfurt am Main 2021 208 S., Abb., br., 17,- Euro.
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Ein Klartext in Essays, Reden und Interviews, der den Leser immer neu in ein herausforderndes Gespräch verwickelt. Christian Eger Mitteldeutsche Zeitung 20210831