Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe
In den Jahren nach der Kapitulation Deutschlands steht die Frage nach der moralischen Schuld der Deutschen im Zentrum von Thomas Manns essayistischer Publizistik. Thomas Mann, der im Juni 1944 amerikanischer Staatsbürger wurde, entscheidet sich gegen eine Rückkehr nach Deutschland und verteidigt diese Entscheidung mit den moralischen Grundsätzen der Politik Roosevelts. Neben den politischen Schriften beinhaltet der Band bedeutende Essays wie 'Dostojewski mit Maßen', 'Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung', 'Goethe und die Demokratie' sowie die umfangreiche 'Entstehung des Doktor Faustus'.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In den Jahren nach der Kapitulation Deutschlands steht die Frage nach der moralischen Schuld der Deutschen im Zentrum von Thomas Manns essayistischer Publizistik. Thomas Mann, der im Juni 1944 amerikanischer Staatsbürger wurde, entscheidet sich gegen eine Rückkehr nach Deutschland und verteidigt diese Entscheidung mit den moralischen Grundsätzen der Politik Roosevelts. Neben den politischen Schriften beinhaltet der Band bedeutende Essays wie 'Dostojewski mit Maßen', 'Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung', 'Goethe und die Demokratie' sowie die umfangreiche 'Entstehung des Doktor Faustus'.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2011Der Faschismus und das Ende der Ironie
Die Unübersichtlichkeit der Weltlage nach 1945 forderte Thomas Mann als politischen Denker heraus. In den neu edierten Essays der Nachkriegsjahre spiegeln sich Rigorismus und Wehmut.
Immer wieder hat Thomas Mann auf die "moralische Vereinfachung" durch die Faschismus-Erfahrung hingewiesen. Heute würde man vom Ende der Ironie sprechen. "Mich hat der Teufelsdreck, der Nationalsozialismus hieß, den Hass gelehrt." Solcher Hass ist eine gute Sache, er macht die Welt übersichtlich, er reduziert Komplexität.
Mann lebte im kalifornischen Exil, schrieb Weltliteratur und kämpfte nebenbei an der Seite des fabelhaften Franklin D. Roosevelt publizistisch gegen das Böse. Dabei konnte er sogar Begriffe wie "Freiheit" und "Frieden" im Mund führen, die er zuvor bloß als abgedroschene Phrasen des "Zivilisationsliteraten" empfunden hatte.
Aber gewonnene Kriege machen das Leben nicht unbedingt leichter. Nach 1945 macht die neue Unübersichtlichkeit der politischen Weltlage Thomas Mann schwer zu schaffen, wovon nun die gesammelten Essays der Jahre 1945 bis 1950 Auskunft geben, mitsamt dem ergiebigen Kommentar von Herbert Lehnert. Er liefert neben dem üblichen philologischen Marschgepäck detailreiches Hintergrundwissen und die Kontexte jener Zeit - der wohl heikelsten in der politischen Biographie des Autors seit dem Bekenntnis zur Republik von 1922. Es ist eine faszinierende, aber auch irritierende Lektüre.
Das kapitulierte Deutschland streckt die Hände aus nach Thomas Mann. Vorwürfe und Feindseligkeiten, Erwartungen und Wünsche erreichen ihn in Kalifornien. Er möge doch bitte zurückkehren und "helfen". Das kommt für den Siebzigjährigen nicht in Frage, seine Beziehung zum Land der Herkunft bleibt verspannt und misstrauisch. Im "Doktor Faustus" (1947) erscheint der Nationalsozialismus als urdeutsches Verhängnis, mit tiefen Wurzeln in der Geistesgeschichte bis hin zum protestantischen Grobianismus Luthers. Trotzdem kann Thomas Mann nach dem Ende des deutschen Spuks nicht aufatmen. Denn als politischer Essayist bewegt er sich zugleich auf dem Boden eines beinahe schulmäßig marxistischen Geschichtsverständnisses, wenn er "die überall erwiesene Neigung des Monopol-Kapitalismus" beklagt, den "Faschismus zum Schild zu nehmen". Er spricht vom "keineswegs besiegten Weltfaschismus, von dem kein Land frei ist, der überall wühlt und zettelt und zündelt und seine Goldmillionen ins Treffen führt, um die Entstehung einer besseren und gerechteren Welt hintanzuhalten". Reaktionäre kapitalistische Kräfte in Amerika lauerten nur darauf, "in diesem Lande eine fürchterliche Wiederholung des Grauens zu veranstalten".
Während sich die Fronten im Kalten Krieg verhärten, hofft Thomas Mann noch auf die große Synthese von Ost und West, die man sich als demokratischen Sozialismus oder patriarchalisch geführten Vorsorgestaat zu denken hat. Es geht ihm um die "Überbrückung des Abgrunds, der sich zwischen dem geistig Realisierten und einer skandalös zurückgebliebenen sozialen und ökonomischen Wirklichkeit aufgetan hat". Lehnerts Kommentar benennt klar, was Thomas Mann mit dem "geistig Realisierten" meint: "soziale Verteilung der Güter, Planwirtschaft". Und die "zurückgebliebene Wirklichkeit" steht für die "Rückkehr zur Marktwirtschaft" nach den Jahren von New Deal und organisierter Kriegsökonomie. Die Verfechter von "free enterprise" behindern den "sozialen Fortschritt", so Thomas Mann. Sie "sprechen von Freiheit, aber sie meinen ihr Interesse". Sein altes Ressentiment gegen den Westen aus der Zeit der "Betrachtungen eines Unpolitischen" macht sich wieder geltend, seitdem in den Vereinigten Staaten der Geist Franklin D. Roosevelts ausgetrieben wird. Die Eindämmungspolitik gegenüber Stalin, der Marshallplan zum Aufbau Westeuropas, die "grassierende Hysterie der Kommunistenverfolgungen" - all das sorgt dafür, dass Mann sich in Amerika immer unwohler fühlt. Fast schwärmerisch gedenkt er bei verschiedenen Gelegenheiten seines Lieblingspolitikers; und trotzdem staunt man, wenn sogar im Beitrag "My favorite records" neben üblichen Verdächtigen wie Wagner und Berlioz auch Franklin D. Roosevelt auftaucht: "A Prayer for the Nation on D-Day."
Zu den brisantesten Texten des Bandes gehört der Bericht über die Deutschlandreise im Goethejahr 1949. Die junge Bundesrepublik ist für Thomas Mann ein Land, in dem neben suspekten "Inneren Emigranten" zu viele vertrotzte Nazis leben. "Die Schandtaten des Regimes erklären sie für propagandistische Lügen und Übertreibungen, legen ostentative Gleichgültigkeit an den Tag gegen Prozesse, die diese Greuel zum Gegenstand haben, und zeigen sich ebenso gleichgültig gegen die Zerrüttungen, die Hitlers Krieg in anderen Ländern angerichtet hat." Das traf eine verbreitete Stimmung; trotzdem passten die harschen Worte schlecht zu den Fotografien deutscher Elendsgesichter, mit denen die "New York Times" den Reisebericht illustrierte. Der Artikel, ärgerte sich Thomas Mann, sei mit "absichtlich störenden Bildern" gedruckt worden.
Anstoß erregte er mit seinen milden Worten über Ostdeutschland. Er wurde dort bejubelt wie kein anderer Schriftsteller seit den Schillerfeiern des 19. Jahrhunderts; im Gegenzug sieht er in den Gesichtern der Funktionäre "guten Willen", "asketischen Ernst" und "eine der Verbesserung des Irdischen zugewandte Frömmigkeit". Natürlich heißt er die "Geheimpolizei-Methoden" nicht gut, und erst recht die "Jakobiner-Tugend" und der "humorlose Optimismus" sind nicht sein Fall - aber vieles davon redet er sich schön als Anfangsfehler "eines sich versuchenden Neuen".
Der russische Kommunismus - noch herrscht Stalin - wisse "die Macht des Geistes wohl zu schätzen, und wenn er ihn reglementiert und in den Schranken des Dogmas hält, so muss man eben darin einen Beweis dieser Schätzung sehen". Muss man? "Trotz aller blutigen Zeichen, die daran irre machen können", sei der Kommunismus "im Kern und sehr im Gegensatz zum Faschismus eine humanitäre und demokratische Bewegung". Fern liegt Thomas Mann der Gedanke, dass gerade in dieser Mobilisierung der Ideale eine besondere Perfidie bestehen könnte. Man findet in den Aufsätzen und Reden dieser Jahre Sätze, die den polemischen Scharfsinn, mit dem er Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus lange vor 1933 treffend und geradezu prophetisch analysierte, schmerzlich vermissen lassen: "Der autoritäre Volksstaat" - gemeint ist die DDR - "hat seine schaurigen Seiten. Die Wohltat bringt er mit sich, dass Dummheit und Frechheit, endlich einmal, darin das Maul zu halten haben."
Der umfangreichste Text des Bandes ist der Rechenschaftsbericht "Die Entstehung des Doktor Faustus"; der bedeutendste die Revision "Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung". Die durchdringende Politisierung des vormals "unpolitischen" Schriftstellers zeigt sich darin, dass Thomas Mann auch sein philosophisches Jugendidol einem geistigen Entnazifizierungsverfahren unterzieht. Halb geschoren kommt er davon; gerettet wird der Psychologe und Kulturkritiker, der "Überwinder" und zugleich Märtyrer des Gedankens.
Zwar hatte Thomas Mann immer schon Probleme mit dem Pathos der Zarathustra-Ekstasen; die Distanzierung ist aber erst durch Hitler zwingend geworden. Nichts war für ihn abstoßender als die "zehntausend Dozenten des Irrationalen, die in Nietzsches Schatten wie Pilze aus dem Boden wuchsen". Die "trunkenen Botschaften von Macht, Gewalt und Grausamkeit" und die Ästhetik des Bösen seien "ganz unmöglich und oft geradezu lächerlich für uns Heutige, die wir das Böse in seinem ganzen ordinären Schwachsinn kennengelernt haben", schreibt Thomas Mann 1946. Aber auch bei diesem Abschied geht er immer noch in Nietzsches Spuren. Wenn er dessen psychologisch hellsichtige Wagner-Kritik seit je als das eigentliche Meisterwerk des Philosophen empfunden hat, so liefert er mit seinem eigenen Essay eine würdige Entsprechung: der Fall Nietzsche. Nichts macht übrigens die Intention des Aufsatzes deutlicher als die Tatsache, dass er dafür die "feindliche Baeumler-Ausgabe" benutzte - in Alfred Baeumlers berüchtigter Nietzsche-Auswahl konnte er am leichtesten die problematischen und protofaschistischen Passagen finden.
Bei allem Überdruss wurde Thomas Mann die Politik kaum noch los. Wie erstaunlich entspannt liest sich vor diesem Hintergrund der kleine, wunderbar komische Roman "Der Erwählte" aus dem Jahr 1950. Oder in diesem Band die Seiten, die er seinem Freund Bruno Walter zum 70. Geburtstag schreibt. Auch mancher Nachruf auf alte Weggefährten ist fällig, bisweilen ist dann eine gedämpfte Sehnsucht nach der finalen Entbürdung herauszuhören. Wie heißt es zum Tod des Schriftstellers Bruno Frank: "Über Nacht nun, im Schlaf, unvermerkt, wie es scheint, und nicht ohne sein stilles Einverständnis, wie ich glaube, ist er erloschen."
WOLFGANG SCHNEIDER
Thomas Mann: "Essays 1945-1950".
Herausgegeben und kommentiert von Herbert Lehnert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 2 Bände, Kass., 1755 S., 85,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Unübersichtlichkeit der Weltlage nach 1945 forderte Thomas Mann als politischen Denker heraus. In den neu edierten Essays der Nachkriegsjahre spiegeln sich Rigorismus und Wehmut.
Immer wieder hat Thomas Mann auf die "moralische Vereinfachung" durch die Faschismus-Erfahrung hingewiesen. Heute würde man vom Ende der Ironie sprechen. "Mich hat der Teufelsdreck, der Nationalsozialismus hieß, den Hass gelehrt." Solcher Hass ist eine gute Sache, er macht die Welt übersichtlich, er reduziert Komplexität.
Mann lebte im kalifornischen Exil, schrieb Weltliteratur und kämpfte nebenbei an der Seite des fabelhaften Franklin D. Roosevelt publizistisch gegen das Böse. Dabei konnte er sogar Begriffe wie "Freiheit" und "Frieden" im Mund führen, die er zuvor bloß als abgedroschene Phrasen des "Zivilisationsliteraten" empfunden hatte.
Aber gewonnene Kriege machen das Leben nicht unbedingt leichter. Nach 1945 macht die neue Unübersichtlichkeit der politischen Weltlage Thomas Mann schwer zu schaffen, wovon nun die gesammelten Essays der Jahre 1945 bis 1950 Auskunft geben, mitsamt dem ergiebigen Kommentar von Herbert Lehnert. Er liefert neben dem üblichen philologischen Marschgepäck detailreiches Hintergrundwissen und die Kontexte jener Zeit - der wohl heikelsten in der politischen Biographie des Autors seit dem Bekenntnis zur Republik von 1922. Es ist eine faszinierende, aber auch irritierende Lektüre.
Das kapitulierte Deutschland streckt die Hände aus nach Thomas Mann. Vorwürfe und Feindseligkeiten, Erwartungen und Wünsche erreichen ihn in Kalifornien. Er möge doch bitte zurückkehren und "helfen". Das kommt für den Siebzigjährigen nicht in Frage, seine Beziehung zum Land der Herkunft bleibt verspannt und misstrauisch. Im "Doktor Faustus" (1947) erscheint der Nationalsozialismus als urdeutsches Verhängnis, mit tiefen Wurzeln in der Geistesgeschichte bis hin zum protestantischen Grobianismus Luthers. Trotzdem kann Thomas Mann nach dem Ende des deutschen Spuks nicht aufatmen. Denn als politischer Essayist bewegt er sich zugleich auf dem Boden eines beinahe schulmäßig marxistischen Geschichtsverständnisses, wenn er "die überall erwiesene Neigung des Monopol-Kapitalismus" beklagt, den "Faschismus zum Schild zu nehmen". Er spricht vom "keineswegs besiegten Weltfaschismus, von dem kein Land frei ist, der überall wühlt und zettelt und zündelt und seine Goldmillionen ins Treffen führt, um die Entstehung einer besseren und gerechteren Welt hintanzuhalten". Reaktionäre kapitalistische Kräfte in Amerika lauerten nur darauf, "in diesem Lande eine fürchterliche Wiederholung des Grauens zu veranstalten".
Während sich die Fronten im Kalten Krieg verhärten, hofft Thomas Mann noch auf die große Synthese von Ost und West, die man sich als demokratischen Sozialismus oder patriarchalisch geführten Vorsorgestaat zu denken hat. Es geht ihm um die "Überbrückung des Abgrunds, der sich zwischen dem geistig Realisierten und einer skandalös zurückgebliebenen sozialen und ökonomischen Wirklichkeit aufgetan hat". Lehnerts Kommentar benennt klar, was Thomas Mann mit dem "geistig Realisierten" meint: "soziale Verteilung der Güter, Planwirtschaft". Und die "zurückgebliebene Wirklichkeit" steht für die "Rückkehr zur Marktwirtschaft" nach den Jahren von New Deal und organisierter Kriegsökonomie. Die Verfechter von "free enterprise" behindern den "sozialen Fortschritt", so Thomas Mann. Sie "sprechen von Freiheit, aber sie meinen ihr Interesse". Sein altes Ressentiment gegen den Westen aus der Zeit der "Betrachtungen eines Unpolitischen" macht sich wieder geltend, seitdem in den Vereinigten Staaten der Geist Franklin D. Roosevelts ausgetrieben wird. Die Eindämmungspolitik gegenüber Stalin, der Marshallplan zum Aufbau Westeuropas, die "grassierende Hysterie der Kommunistenverfolgungen" - all das sorgt dafür, dass Mann sich in Amerika immer unwohler fühlt. Fast schwärmerisch gedenkt er bei verschiedenen Gelegenheiten seines Lieblingspolitikers; und trotzdem staunt man, wenn sogar im Beitrag "My favorite records" neben üblichen Verdächtigen wie Wagner und Berlioz auch Franklin D. Roosevelt auftaucht: "A Prayer for the Nation on D-Day."
Zu den brisantesten Texten des Bandes gehört der Bericht über die Deutschlandreise im Goethejahr 1949. Die junge Bundesrepublik ist für Thomas Mann ein Land, in dem neben suspekten "Inneren Emigranten" zu viele vertrotzte Nazis leben. "Die Schandtaten des Regimes erklären sie für propagandistische Lügen und Übertreibungen, legen ostentative Gleichgültigkeit an den Tag gegen Prozesse, die diese Greuel zum Gegenstand haben, und zeigen sich ebenso gleichgültig gegen die Zerrüttungen, die Hitlers Krieg in anderen Ländern angerichtet hat." Das traf eine verbreitete Stimmung; trotzdem passten die harschen Worte schlecht zu den Fotografien deutscher Elendsgesichter, mit denen die "New York Times" den Reisebericht illustrierte. Der Artikel, ärgerte sich Thomas Mann, sei mit "absichtlich störenden Bildern" gedruckt worden.
Anstoß erregte er mit seinen milden Worten über Ostdeutschland. Er wurde dort bejubelt wie kein anderer Schriftsteller seit den Schillerfeiern des 19. Jahrhunderts; im Gegenzug sieht er in den Gesichtern der Funktionäre "guten Willen", "asketischen Ernst" und "eine der Verbesserung des Irdischen zugewandte Frömmigkeit". Natürlich heißt er die "Geheimpolizei-Methoden" nicht gut, und erst recht die "Jakobiner-Tugend" und der "humorlose Optimismus" sind nicht sein Fall - aber vieles davon redet er sich schön als Anfangsfehler "eines sich versuchenden Neuen".
Der russische Kommunismus - noch herrscht Stalin - wisse "die Macht des Geistes wohl zu schätzen, und wenn er ihn reglementiert und in den Schranken des Dogmas hält, so muss man eben darin einen Beweis dieser Schätzung sehen". Muss man? "Trotz aller blutigen Zeichen, die daran irre machen können", sei der Kommunismus "im Kern und sehr im Gegensatz zum Faschismus eine humanitäre und demokratische Bewegung". Fern liegt Thomas Mann der Gedanke, dass gerade in dieser Mobilisierung der Ideale eine besondere Perfidie bestehen könnte. Man findet in den Aufsätzen und Reden dieser Jahre Sätze, die den polemischen Scharfsinn, mit dem er Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus lange vor 1933 treffend und geradezu prophetisch analysierte, schmerzlich vermissen lassen: "Der autoritäre Volksstaat" - gemeint ist die DDR - "hat seine schaurigen Seiten. Die Wohltat bringt er mit sich, dass Dummheit und Frechheit, endlich einmal, darin das Maul zu halten haben."
Der umfangreichste Text des Bandes ist der Rechenschaftsbericht "Die Entstehung des Doktor Faustus"; der bedeutendste die Revision "Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung". Die durchdringende Politisierung des vormals "unpolitischen" Schriftstellers zeigt sich darin, dass Thomas Mann auch sein philosophisches Jugendidol einem geistigen Entnazifizierungsverfahren unterzieht. Halb geschoren kommt er davon; gerettet wird der Psychologe und Kulturkritiker, der "Überwinder" und zugleich Märtyrer des Gedankens.
Zwar hatte Thomas Mann immer schon Probleme mit dem Pathos der Zarathustra-Ekstasen; die Distanzierung ist aber erst durch Hitler zwingend geworden. Nichts war für ihn abstoßender als die "zehntausend Dozenten des Irrationalen, die in Nietzsches Schatten wie Pilze aus dem Boden wuchsen". Die "trunkenen Botschaften von Macht, Gewalt und Grausamkeit" und die Ästhetik des Bösen seien "ganz unmöglich und oft geradezu lächerlich für uns Heutige, die wir das Böse in seinem ganzen ordinären Schwachsinn kennengelernt haben", schreibt Thomas Mann 1946. Aber auch bei diesem Abschied geht er immer noch in Nietzsches Spuren. Wenn er dessen psychologisch hellsichtige Wagner-Kritik seit je als das eigentliche Meisterwerk des Philosophen empfunden hat, so liefert er mit seinem eigenen Essay eine würdige Entsprechung: der Fall Nietzsche. Nichts macht übrigens die Intention des Aufsatzes deutlicher als die Tatsache, dass er dafür die "feindliche Baeumler-Ausgabe" benutzte - in Alfred Baeumlers berüchtigter Nietzsche-Auswahl konnte er am leichtesten die problematischen und protofaschistischen Passagen finden.
Bei allem Überdruss wurde Thomas Mann die Politik kaum noch los. Wie erstaunlich entspannt liest sich vor diesem Hintergrund der kleine, wunderbar komische Roman "Der Erwählte" aus dem Jahr 1950. Oder in diesem Band die Seiten, die er seinem Freund Bruno Walter zum 70. Geburtstag schreibt. Auch mancher Nachruf auf alte Weggefährten ist fällig, bisweilen ist dann eine gedämpfte Sehnsucht nach der finalen Entbürdung herauszuhören. Wie heißt es zum Tod des Schriftstellers Bruno Frank: "Über Nacht nun, im Schlaf, unvermerkt, wie es scheint, und nicht ohne sein stilles Einverständnis, wie ich glaube, ist er erloschen."
WOLFGANG SCHNEIDER
Thomas Mann: "Essays 1945-1950".
Herausgegeben und kommentiert von Herbert Lehnert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 2 Bände, Kass., 1755 S., 85,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Laut dem Politikwissenschaftler Iring Fetscher lässt sich anhand von Thomas Manns zwischen 1945 und 1950 entstandenen Essays besonders gut dessen "kompliziertes Verhältnis" zu Deutschland ablesen. Mit dem Kommentarband, den der Rezensent als sehr instruktiv lobt, wird zudem der Hintergrund von Manns Essays, der darin auch auf die beißende Kritik in Deutschland verbliebener Kritiker an seinem kalifornischen Exil reagiert. Den Rezensenten hat vor allem der Aufsatz zu Nietzsches Philosophie gefesselt, in dem er einen Rettungsversuch des genialen Denkers gegenüber seiner Vereinnahmung durch die Nazis erkennt. So mühe sich der Schriftsteller darum, die Äußerungen, die den Nazis zur Rechtfertigung ihres verbrecherischen Treibens gedient hatte, vom Denker und genialen Stilisten abzuspalten und ganz auf die spätere Krankheit Nietzsches zu schieben. Goethe dagegen bietet sich dem Autor als exemplarischer Beweis, dass Genialität auch mit "Sittlichkeit" verbunden sein kann, so Fetscher weiter, der Manns Charakterisierung von Goethe als Demokrat "originell" findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Er liest sich Seite für Seite ebenso spannend wie erhellend. Darmstädter Echo 20141221