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Der Erzähler, Nathan Koschel, berichtet über ein schreckliches Ereignis im Jahr 1964. Kitty Genovese wird in aller Öffentlichkeit von Winston Mosley erstochen. Achtunddreißig Menschen beobachten den Mord auf offener Straße, ohne der Frau in irgendeiner Weise zu Hilfe zu kommen. Ein spannender Roman über Feigheit und kollektive Verantwortungslosigkeit.

Produktbeschreibung
Der Erzähler, Nathan Koschel, berichtet über ein schreckliches Ereignis im Jahr 1964. Kitty Genovese wird in aller Öffentlichkeit von Winston Mosley erstochen. Achtunddreißig Menschen beobachten den Mord auf offener Straße, ohne der Frau in irgendeiner Weise zu Hilfe zu kommen. Ein spannender Roman über Feigheit und kollektive Verantwortungslosigkeit.
Autorenporträt
Didier Decoin, geboren 1945, wurde 1977 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Neben Romanen und Essays schrieb er die Drehbücher für Verfilmungen von Jakob der Lügner, Der Graf von Monte Christo und Les Misérables. 1995 wurde Decoin Sekretär der Académie Goncourt und 2007 Präsident der Écrivains de Marine.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2012

Das Sterben vor Publikum
Achtunddreißig Zeugen, von denen keiner half: Didier Decoins Roman über den Tod einer Kellnerin

Moderne Kriminalschriftsteller, die sich am progressivsten wähnen, fragen nicht nach den innersten Beweggründen eines Vergehens. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen Schillers klassische Seelentiefbohrung zum "Verbrecher aus verlorener Ehre" den Romanciers als vorbildlich galt. Auch spätere prosaische Meisterwerke voller psychologischer Feinheiten, wie sie etwa Maurice Leblanc ("Die Insel der dreißig Särge"), Alfred Döblin ("Berlin Alexanderplatz") oder William Faulkner ("Licht im August") vorlegten, hielten viele nachgeborene Literaten für überfrachtet an Erklärungen. Dokumentation, Deskription und Distanz wurden die Zauberworte.

Im zwanzigsten Jahrhundert demonstrierte niemand virtuoser als der Amerikaner Truman Capote mit "Kaltblütig", was ein "Tatsachenroman" leisten kann: Die verleugnete Erfindung des Textes und dessen "objektive" Oberfläche ließen den Band zweifelsohne umso stärker wirken. Capote vermochte jedoch den gern wiederholten Einwand nie zu entkräften, dass Auswahl und Arrangement der Informationen subjektiv waren. Der Untertitel "Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen" war gut kalkuliert, aber ungerechtfertigt.

Den Anspruch, das Umfeld eines Delikts korrekt nachzubilden, erhebt der Franzose Didier Decoin in seinem Roman "Der Tod der Kitty Genovese" lediglich implizit: Er hält sich an Festgestelltes oder Feststellbares und ersinnt nur manche wahrscheinliche Dialoge, naheliegende Gedanken, offensichtliche Eindrücke. Im Zentrum steht die grausame Ermordung einer achtundzwanzig Jahre alten Kellnerin im New Yorker Stadtteil Queens im Jahr 1964. Der schnell gefasste Täter, Winston Moseley, stach auf Kitty Genovese ein, ließ von ihr ab, kehrte zurück, vergewaltigte und ermordete sie. Während einer nächtlichen halben Stunde wurden 38 Frauen und Männer zumindest Ohrenzeugen des Geschehens - und griffen nicht ein.

Mit Blick auf diese anhaltende Passivität von zufällig Anwesenden, die zunächst in Amerika für Bestürzung sorgte, sprechen Psychologen vom "Bystander-Effekt" oder "Genovese-Syndrom". In Deutschland illustrieren seit einigen Jahren zumal Überfälle im öffentlichen Nahverkehr das fortgesetzte Dasein des Musters auf drastische Weise: Denn wegen der allgegenwärtigen Videoüberwachung schlüpfen wir in die Rolle des Beobachters der Beobachter. "Helft mir!", schrie Georg Baur, der jüngst in Berlin einem Opfer auf dem Bahnsteig beisprang. Doch die Umstehenden verharrten, nahmen wahr, schwiegen.

Einzelne solcher Schweiger lässt Decoin im Fall der Genovese zu Wort kommen. Sie schildern bei der Gerichtsverhandlung gegen Moseley, was sie mitbekamen, als das Leben der beliebten Kellnerin, von der Clubgäste gesagt hatten, "sie leuchte nachts wie ein Glühwürmchen", allmählich erlöschte. Der Roman rekonstruiert hier und andernorts einen Prozess: das Sterben vor Publikum. Insofern passt der Originaltitel, "Est-ce ainsi que les femmes meurent?" des 2009 in Frankreich erschienenen Buches - obwohl das Geschlecht des geschädigten Individuums für jene, die Hilfe verweigerten, erkennbar egal war. Der deutsche Titel, der den resultierenden Tod betont, ist allerdings unangebracht. Am Ende summiert sich der Roman zu einer Enttäuschung. Besonders eine Chance hat der Autor, dessen Buch Bettina Bach geschmeidig übersetzte, leider verpasst. Denn wie viel eindrucksvoller wäre es gewesen, hätte Decoin uns, bei Wiedergabe belegter Umstände, tiefe Einblicke in die Gedanken der abwartenden New Yorker Anwohner gewährt. Sehr spannend, aufschlussreich und die Conditio humana erhellend wäre es gewesen, ein paar Figuren genau mitteilen zu lassen, was in ihnen vorging, während Genovese um ihre Existenz lief, zitterte und flehte. Freilich hätten es die Leser dann mit einer Reihe von Spekulationen zu tun. Doch wäre das lehrreicher, als oft beim Äußeren zu bleiben, wie Decoin es tut. Es hätte keines weiteren Beweises dafür bedurft, dass das Böse banal ist.

Didier versetzt sich ein einziges Mal ganz in die Verfolgte, und in einem fulminanten Bewusstseinsstrom, der sich in zwei Sätzen über eine Seite ergießt, wird sichtbar, dass er schreiben kann. Ein Ausschnitt: "Ich bin Zucker, der sich auflöst, eine Achterbahn, die sich ins Leere stürzt, Honig, der durch die Poren im Brot tropft, ich bin eine Verbeugung, ich bin alles, was zusammensackt, versagt und schwindet, ich werde auf die Nase fallen." Mehr davon! Der große Roman über das Ende von Kitty Genovese ist indes noch nicht erschienen.

THOMAS LEUCHTENMÜLLER

Didier Decoin: "Der Tod der Kitty Genovese". Roman.

Aus dem Französischen von Bettina Bach. Arche Literatur Verlag, Zürich, Hamburg 2011. 160 S., geb., 19,90 [Euro].

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