In diesem Klassiker der Soziologie untersucht Elias eine englische Gemeinde in den Jahren 1958-60 und besonders die Spannungen zwischen den »Etablierten« und den neu Hinzugezogenen, den »Außenseitern«. Unter dem besonderen Blick von Elias wird die kleine englische Gemeinde zu einem Mikrokosmos, der eine große Bandbreite sozialer Figurationen deutlich werden läßt. Das Buch untersucht das Funktionieren von Stigmatisierung, Tabuisierung, Gerüchten, kollektiver Phantasien und Vorstellungen von »uns« und »den anderen«, die Spaltungen in der Gesellschaft unterstützen und verstärken. In einem einleitenden theoretischen Essay wird die globale Relevanz der lokalen Befunde entfaltet, werden aus der Untersuchung einer kleinen mittelenglischen Gemeinde die zentralen Probleme menschlichen Zusammenlebens erfaßt und faßbar gemacht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.07.2002Außenseiter über Außenseiter
Franz Kafka liefert ein Motto für Norbert Elias
Als im Jahr 1977 der achtzigjährige Norbert Elias den Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt erhielt, reagierte die soziologische Fachwelt mit Befriedigung und Erstaunen. Mit Befriedigung – denn durch die Verleihung des Preises wurde einem Gelehrten Gerechtigkeit zuteil, den die erzwungene Emigration aus Deutschland lange Zeit um die verdiente Anerkennung gebracht hatte. Mit Erstaunen – denn obwohl Adorno und Elias als junge Wissenschaftler in Frankfurt Nachbarn gewesen waren, war das Band zwischen ihnen weniger eng als zwischen den zwei Buchtiteln „Dialektik der Aufklärung” und „Über den Prozess der Zivilisation”. Und doch war es Adorno, der auch die Lebensleistung von Norbert Elias charakterisierte, als er die Quintessenz eigener Erfahrung als „Verschränkung von Outsidertum und unbefangener Einsicht” beschrieb.
„Unbefangene Einsicht” kennzeichnete Norbert Elias, der den großen Theoriegebäuden seines eigenen Faches und anderer Disziplinen skeptisch gegenüber stand und seinen Weg nicht ohne eine gewisse Bockigkeit als „self- made man” ging. Erst tat er dies gezwungenermaßen und dann mit umso größerem Vergnügen an der Verblüffung, die der Außenseiter oft genug provoziert.
Von 1954 bis 1962 lehrte Norbert Elias an der Universität von Leicester Soziologie. Hier führte er mit John L. Scotson in einem Vorort von Leicester eine Gemeindeuntersuchung durch, die 1965 unter dem Titel „The Established and the Outsiders” erschien. In der vom Suhrkamp Verlag publizierten Ausgabe der Gesammelten Schriften von Norbert Elias bilden „Etablierte und Außenseiter” den Band 4. Aber auch wenn der deutsche Klappentext von einem „Klassiker der Soziologie” spricht, wird „Winston Parva” – dieses Pseudonym erhielt der Stadtteil von Leicester in der Veröffentlichung – auf der Landkarte der Soziologie keinen so überragenden Platz einnehmen wie beispielsweise die Gemeinde Muncie in Indiana, der 1929 das Ehepaar Robert und Helen Lynd den Namen „Middletown” gab.
Winston Parva ist Leicester
In der Arbeitergemeinde „Winston Parva” stießen Norbert Elias und sein Mitarbeiter auf eine scharfe Trennung zwischen einer alteingesessenen Gruppe von Einwohnern und einer Gruppe von später Zugewanderten. Das Überlegenheitsgefühl der „Etablierten” war dabei weniger überraschend als die „verwirrte Resignation”, mit der sich die Außenseiter anscheinend in ihr Schicksal fügten. Dabei gab es keine Unterschiede der Nationalität, der ethnischen Herkunft, der Hautfarbe oder der Rasse, an denen sich die Trennung der „Etablierten” von den „Außenseitern” hätte festmachen können. Auch ähnelten sich bei ihnen die Berufe, die Einkommenshöhe und der Bildungsgrad. Für Gruppenüberheblichkeit und Gruppenverachtung war lediglich die Wohndauer entscheidend. Allein auf dieser „Figuration” beruhte die Machtüberlegenheit der „Etablierten”.
Norbert Elias hat sich als Begründer der „Figurationssoziologie” gesehen, die die Folgen der Verflechtungen untersucht, in die Menschen ungewollt geraten. Er hat diese „Figurationssoziologie” von einer „Zustandssoziologie” unterschieden, die er zeitlebens scharf kritisierte. Er sprach von einem Wachsfigurenkabinett, aus dem alle Lebendigkeit des gesellschaftlichen Lebens verschwunden war. Auch „Etablierte und Außenseiter” ist voll beißender Kritik an einer angeblich empirischen Sozialforschung, die vor lauter Zahlen und Daten die wirklichen Menschen aus den Augen verliert. Ähnlich scharf werden soziologische Großtheorien angegriffen, in denen die Geschichte menschlicher Beziehungen zu nichtssagenden Strukturen erstarrt.
Elias und Scotson haben das Leben der Menschen in „Winston Parva” mit großer Anteilnahme beobachtet. Ihre Gemeindestudie besteht aus der dichten Beschreibung eines Alltags, in dem bei jeder Gelegenheit und auf jeder Ebene die Trennung von Alteingesessenen und Neuankömmlingen thematisiert und verfestigt wird. Spürbar ist das Erstaunen, fast das Entsetzen des soziologischen Außenseiters darüber, wie chancenlos in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen die Außenseiter bleiben müssen.
In einer Parabel seiner „Fragmente aus losen Blättern und Heften” hat Franz Kafka das Außenseitertum mit verstörender Nüchternheit beschrieben. Diese Parabel hätte als Motto von „Etablierte und Außenseiter” dienen können:
„Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt, so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ’Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will? Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unseren Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.”
WOLF LEPENIES
NORBERT ELIAS, JOHN L. SCOTSON: Etablierte und Außenseiter. Übersetzt von Michael Schröter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 325 Seiten, 32 Euro.
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Franz Kafka liefert ein Motto für Norbert Elias
Als im Jahr 1977 der achtzigjährige Norbert Elias den Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt erhielt, reagierte die soziologische Fachwelt mit Befriedigung und Erstaunen. Mit Befriedigung – denn durch die Verleihung des Preises wurde einem Gelehrten Gerechtigkeit zuteil, den die erzwungene Emigration aus Deutschland lange Zeit um die verdiente Anerkennung gebracht hatte. Mit Erstaunen – denn obwohl Adorno und Elias als junge Wissenschaftler in Frankfurt Nachbarn gewesen waren, war das Band zwischen ihnen weniger eng als zwischen den zwei Buchtiteln „Dialektik der Aufklärung” und „Über den Prozess der Zivilisation”. Und doch war es Adorno, der auch die Lebensleistung von Norbert Elias charakterisierte, als er die Quintessenz eigener Erfahrung als „Verschränkung von Outsidertum und unbefangener Einsicht” beschrieb.
„Unbefangene Einsicht” kennzeichnete Norbert Elias, der den großen Theoriegebäuden seines eigenen Faches und anderer Disziplinen skeptisch gegenüber stand und seinen Weg nicht ohne eine gewisse Bockigkeit als „self- made man” ging. Erst tat er dies gezwungenermaßen und dann mit umso größerem Vergnügen an der Verblüffung, die der Außenseiter oft genug provoziert.
Von 1954 bis 1962 lehrte Norbert Elias an der Universität von Leicester Soziologie. Hier führte er mit John L. Scotson in einem Vorort von Leicester eine Gemeindeuntersuchung durch, die 1965 unter dem Titel „The Established and the Outsiders” erschien. In der vom Suhrkamp Verlag publizierten Ausgabe der Gesammelten Schriften von Norbert Elias bilden „Etablierte und Außenseiter” den Band 4. Aber auch wenn der deutsche Klappentext von einem „Klassiker der Soziologie” spricht, wird „Winston Parva” – dieses Pseudonym erhielt der Stadtteil von Leicester in der Veröffentlichung – auf der Landkarte der Soziologie keinen so überragenden Platz einnehmen wie beispielsweise die Gemeinde Muncie in Indiana, der 1929 das Ehepaar Robert und Helen Lynd den Namen „Middletown” gab.
Winston Parva ist Leicester
In der Arbeitergemeinde „Winston Parva” stießen Norbert Elias und sein Mitarbeiter auf eine scharfe Trennung zwischen einer alteingesessenen Gruppe von Einwohnern und einer Gruppe von später Zugewanderten. Das Überlegenheitsgefühl der „Etablierten” war dabei weniger überraschend als die „verwirrte Resignation”, mit der sich die Außenseiter anscheinend in ihr Schicksal fügten. Dabei gab es keine Unterschiede der Nationalität, der ethnischen Herkunft, der Hautfarbe oder der Rasse, an denen sich die Trennung der „Etablierten” von den „Außenseitern” hätte festmachen können. Auch ähnelten sich bei ihnen die Berufe, die Einkommenshöhe und der Bildungsgrad. Für Gruppenüberheblichkeit und Gruppenverachtung war lediglich die Wohndauer entscheidend. Allein auf dieser „Figuration” beruhte die Machtüberlegenheit der „Etablierten”.
Norbert Elias hat sich als Begründer der „Figurationssoziologie” gesehen, die die Folgen der Verflechtungen untersucht, in die Menschen ungewollt geraten. Er hat diese „Figurationssoziologie” von einer „Zustandssoziologie” unterschieden, die er zeitlebens scharf kritisierte. Er sprach von einem Wachsfigurenkabinett, aus dem alle Lebendigkeit des gesellschaftlichen Lebens verschwunden war. Auch „Etablierte und Außenseiter” ist voll beißender Kritik an einer angeblich empirischen Sozialforschung, die vor lauter Zahlen und Daten die wirklichen Menschen aus den Augen verliert. Ähnlich scharf werden soziologische Großtheorien angegriffen, in denen die Geschichte menschlicher Beziehungen zu nichtssagenden Strukturen erstarrt.
Elias und Scotson haben das Leben der Menschen in „Winston Parva” mit großer Anteilnahme beobachtet. Ihre Gemeindestudie besteht aus der dichten Beschreibung eines Alltags, in dem bei jeder Gelegenheit und auf jeder Ebene die Trennung von Alteingesessenen und Neuankömmlingen thematisiert und verfestigt wird. Spürbar ist das Erstaunen, fast das Entsetzen des soziologischen Außenseiters darüber, wie chancenlos in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen die Außenseiter bleiben müssen.
In einer Parabel seiner „Fragmente aus losen Blättern und Heften” hat Franz Kafka das Außenseitertum mit verstörender Nüchternheit beschrieben. Diese Parabel hätte als Motto von „Etablierte und Außenseiter” dienen können:
„Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt, so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ’Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will? Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unseren Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.”
WOLF LEPENIES
NORBERT ELIAS, JOHN L. SCOTSON: Etablierte und Außenseiter. Übersetzt von Michael Schröter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 325 Seiten, 32 Euro.
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