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Anton Leist
Ethik der Beziehungen - Versuche über eine postkantianische Moralphilosophie
Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband, Sonderband 10
Die Kantische Ethik gilt bis heute als die dominante Theorie der Moral, und das nicht nur mit Blick auf ihre moralischen Inhalte, sondern mehr noch mit Bezug auf ihre Begründung der moralischen Prinzipien aus der Vernunft. Die Auseinandersetzung mit Kant führt jedoch zu der Einsicht, daß wir unsere Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Ethik und Moral, sowie von der Verbindung von Moral und sozialer Realität reformulieren…mehr

Produktbeschreibung
Anton Leist

Ethik der Beziehungen - Versuche über eine postkantianische Moralphilosophie

Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband, Sonderband 10

Die Kantische Ethik gilt bis heute als die dominante Theorie der Moral, und das nicht nur mit Blick auf ihre moralischen Inhalte, sondern mehr noch mit Bezug auf ihre Begründung der moralischen Prinzipien aus der Vernunft. Die Auseinandersetzung mit Kant führt jedoch zu der Einsicht, daß wir unsere Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Ethik und Moral, sowie von der Verbindung von Moral und sozialer Realität reformulieren müssen.

Die im vorliegenden Buch gesammelten Artikel verbindet die Erwartung, daß die Moral statt über die Vernunft über ihre Funktion im Rahmen sozialer Beziehungen besser zu verstehen und gestalten sein sollte. Den konkreten Reichtum unserer Handlungsziele, Beziehungsmöglichkeiten und sozialen Fähigkeiten sind wir nur dann in der Lage zu erschließen, wenn wir das Werkzeug der abstrakten Vernunft als unbrauchbar beiseite legen und statt dessen mit den alltäglichen, persönlichen und überpersönlichen, Erfahrungen arbeiten, nit denen wir uns auskennen.

Weil einzig aus den Beziehungsformen Normativität erwächst, sollten uns diese selbst, ihre Bedeutungen und ihre Wandelbarkeit interessieren, weniger kodifizierbare moralische Pflichten und Regeln. Gegenstand der Ethik der Beziehungen sind die konkreten Spielräume und Kräfte der sozialen Verhältnisse zwischen Menschen, nicht die abstrakten Fingerzeige eines von den Beziehungen unabhängigen ‚moralischen Gesetzes'.

Pressestimmen
"Der vorliegende Band bietet nur eine Kollektion von anregenden Studien, die jedoch bereits die Umrisse des postkantianischen Forschungsprogramms klar erkennen lassen und auch die Erwartung begründen, daß mit seiner Fortführung die schwierige Sache der Moralphilosophie vorangebracht werden kann."

Wolfgang Kersting in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.06.2006

"Den Leser erwartet eine fundierte, kluge und lebensnahe Analyse der Probleme moderner Ethik, dabei wird kaum eine aktuelle philosophische Auseinandersetzung ausgelassen."

Claudia Wiesemann, in: Ethik in der Medizin, Bd.19 (03/2007)

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2006

Gehn wir zu mir oder zu dir?
Anton Leist packt die Moral in unsere Beziehungskisten ein

Beziehungen sind nicht nur die Schule, sondern die Hochschule des Lebens. Läßt sich womöglich die ganze Moralphilosophie aus dem Beziehungsleben entwickeln? Vor einiger Zeit wollte uns der Kommunitarist MacIntyre glauben machen, daß die Sprache der Moral durch ein mißlungenes Überlieferungsgeschehen die Verbindung zur moralischen Wirklichkeit verloren habe und allen verständlichen Inhalts beraubt worden sei. Dieses Traditionsunglück habe in der Zeit der Aufklärung stattgefunden und in dem Moral- und Rechtsuniversalismus der praktischen Philosophie Kants ihren radikalsten Ausdruck gefunden.

Die unglückselige Vorstellung, eine naturwissenschaftlicher Geltungsgewißheit nacheifernde Moralkonzeption entwickeln zu müssen, habe den Philosophen veranlaßt, die praktische Mitte des gemeinsamen Lebens glücksuchender Bürger zu verlassen und das Fundament der Moral in abstrakter Vernünftigkeit zu erblicken. Dadurch seien moralische Erfahrung und wissenschaftliche Moral auseinandergetreten: die moralische Erfahrung habe ihre Sprache, die Moralphilosophie ihren Gegenstand verloren, und das lebensweltlich integrierte moralische Subjekt sei sich unkenntlich geworden.

Auch Anton Leist ist der Überzeugung, daß die Moralphilosophie über Kant hinauszugehen hat und postkantianisch werden muß. Das heißt für ihn, daß die Moralphilosophie in geltungstheoretischer Hinsicht das Vernunftfundament durch das Leben in sozialen Beziehungen zu ersetzen hat und in erkenntnistheoretischer Hinsicht den prinzipienlogischen Übereinstimmungstest durch teleologische Betrachtungen ablösen muß.

Diese Strategie klingt vertraut, und es scheint, daß die postkantianische Moralphilosophie eher eine präkantianische Moralphilosophie ist. Denn die Motive der Handlungsteleologie und des mitbürgerlichen Lebens, mit denen die "Zusammenbruchstendenzen" der Kantischen Moralphilosophie - der Vernunftfundamentalismus, die Reduktion der Moral auf richtiges Entscheidungsverhalten, die Verwandlung des konkreten, in sozialen Verhältnissen lebenden Menschen in ein cartesianisches Doppelwesen aus reiner Vernunft und naturgesetzlich determinierter Körperlichkeit - geheilt werden sollen, sind genuin aristotelisch.

Andererseits ist der konzeptuelle Fundus begrenzt, aus dem sich eine postkantianische Moralphilosophie bedienen kann, wenn sie ein Moralverständnis modulieren will, in dem sich die moralische Erfahrung wiederzuerkennen vermag, die ihr die Begriffe leiht, um sich angemessen ausdrücken zu können. Ihr bleibt nur, Kants Dekontextualisierungen rückgängig zu machen und das menschliche Handeln wieder in einen teleologischen Rahmen zu setzen und das Leben als ein Leben in sozialen Beziehungen zu verstehen.

Daß das nicht notwendig zu einer weiteren Version eines sozial konservativen Neoaristotelismus führen muß, sondern in Übereinstimmung mit den uns selbstverständlichen Prinzipien des normativen Individualismus geschehen kann, versucht Leist zu zeigen. Und da dieser normative Individualismus und der mit ihm unauflöslich verbundene Menschenrechtsgedanke und Würdebegriff in der praktischen Philosophie Kants ihren klarsten Ausdruck gefunden hat, bleibt auch eine postkantianische Moralphilosophie bei all ihrem Überwindungsbemühen Kant verpflichtet.

Wird die Moralphilosophie Kants dieser Kontextualisierungstherapie ausgesetzt, erhält sie nicht nur ein neues Geltungsfundament im Gemeinschaftlichen und ein neues, die soziale Mitte nicht in Richtung transzendentaler Voraussetzungen verlassenes Handlungs- und Lebensverständnis. Die Veränderung betrifft auch ihr Temperament, ihren Charakter. Nach Leists Behandlung ist sie wie ausgewechselt. Alle Schroffheit ist dahin, kein zumutungsreicher Rigorismus mehr, kein Vernunftheroismus in der Sklavenwelt der Sinnlichkeit, keine Tragik des Vergeblichen, kein Hang zum Bösen. Aus der einschüchternden Pflicht werden Handlungsgründe; die moralische Selbstkontrolle weicht kluger Selbstsorge. Die postkantianische Moralphilosophie schwört der Deontologie ab und wird konsequentialistisch. Auch Tugendperspektiven, Integritätsgesichtspunkte und Erfordernisse persönlicher ethischer Konsistenz werden bei der moralischen Urteilsbildung berücksichtigt. Kurzum: Alle Begriffe der moralischen Selbstverständigung, die dem Kantischen Pflichtabsolutismus weichen mußten, werden rehabilitiert.

Damit droht der moralisch-moralphilosophische Postkantianismus zu einem Gemischtwarenladen zu verkommen, in dem die ehemals einander befehdenden Prinzipien der Tradition in friedlicher Gleichgültigkeit nebeneinander liegen. Um diese Gefahr theoretischer Belanglosigkeit zu bannen, entwickelt Leist ein umfassendes Begründungsargument, mit dem er der postkantianischen Ethik einen festen kommunitaristischen Rahmen geben möchte. Er bezeichnet dieses Begründungsargument als "Beziehungstheorie". Es erblickt in sozialen Beziehungen die grundlegende moralische Tatsache, den Humus der moralischen Erfahrung und verfolgt die geltungstheoretische Absicht, "Normen aus den Gegebenheiten einer konkreten Gemeinschaft herzuleiten".

Diese Herleitung ist möglich, weil soziale Beziehungen janusköpfig sind und Tatsächlichkeit und Idealität in sich vereinen. Sie bilden die empirisch erfaßbare Realität der Gesellschaft, ihnen wohnt aber auch ein normatives Element inne, so daß sie letztlich ihren eigenen Maßstab moralischer Vortrefflichkeit in sich tragen und wir uns auf sie berufen können, um unsere moralische Kritik der Institutionen und Handlungen zu begründen. Leists Beziehungstheorie ist also nichts anderes als eine hermeneutische Ethik, die Letztbegründung, Allgemeingültigkeit und Objektivität als metaphysische Illusion durchschaut hat und die Unhintergehbarkeit der Zeitgenossenschaft proklamiert.

Denn die sozialen Beziehungen, auf die sich moralische Erfahrung und Moralphilosophie gleichermaßen stützen, sind kein abstraktes, allgemeinmenschliches Beziehungsgeflecht einer logischen Soziologie, entstammen nicht einer Gesellschaft vor der Gesellschaft, sondern es sind immer die besonderen Beziehungen einer kontingenten geschichtlichen Gesellschaftsgestalt. Der Postkantianismus rüstet nicht mehr Expeditionen zu archimedischen Punkten aus; er bleibt in der platonischen Höhle und bringt die moralische Erfahrung der Troglodyten auf den Begriff.

Moderne moralische Subjekte verstehen sich als autonom. Und im Kontext der Moralphilosophie Kants bedeutet Autonomie nichts Geringeres als die Fähigkeit, vernunftgegebenen Gesetzen allein aufgrund der Einsicht in ihre Verbindlichkeit zu gehorchen. Wird jedoch das Leben in Beziehungen zur Grundlage moralischer Erfahrung, dann muß dieses Ehrenprädikat moderner Selbstverständigung einen anderen Sinn bekommen. Es kann nicht mehr als Selbstbehauptung der Vernunft, als Vernunftanerkennung bestimmt werden, sondern als Einverständnis mit den normativen Erwartungen, die man für das Gelingen von Beziehungen berücksichtigen muß. Autonomie ist jetzt "freiwillige Übernahme von Verantwortung in egalitären sozialen Beziehungen", ist somit Partizipation an der Gemeinschaftlichkeit, Mitarbeit am Projekt der Fortsetzung und Verbesserung der normativen Ordnung des Zusammenlebens. Durch diese kommunitaristische Umdeutung der Autonomie schwingt sich der Postkantianismus geradezu auf ein Hegelsches Niveau: Freiheit zeigt sich in der tätigen Anerkennung der Vernunft der Verhältnisse.

Leists Ethik der Beziehungen besitzt noch nicht den Status einer ausgearbeiteten Theorie. Der vorliegende Band bietet nur eine Kollektion von anregenden Studien, die jedoch bereits die Umrisse des postkantianischen Forschungsprogramms klar erkennen lassen und auch die Erwartung begründen, daß mit seiner Fortführung die schwierige Sache der Moralphilosophie vorangebracht werden kann.

WOLFGANG KERSTING

Anton Leist: "Ethik der Beziehungen". Versuche über eine postkantianische Moralphilosophie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 10. Akademie Verlag, Berlin 2005. 236 S., geb., 39,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Idee des Buches findet Wolfgang Kersting schon mal gut, wenn ihm das Ganze auch noch nicht ausgereift im Sinne einer stimmigen Theorie erscheint: Was nicht ist, kann ja noch werden. In diesem Fall wäre das ein Fortschritt in der Moralphilosophie nach Kant mit Kant. Und das geht so: Der Autor Anton Leist verschafft der Kant'schen Moral ein "neues Geltungsfundament im Gemeinschaftlichen", tauscht einige ihrer wesentlichen Charaktermerkmale ("Schroffheit", "Vernunftheroismus" und anderes) gegen weniger unangenehme Eigenschaften aus, kurz, kehrt zurück zu einer vorkantianischen Moral und, um es nicht beliebig werden zu lassen, stellt diese in einen "kommunitaristischen Rahmen". "Fertig ist ein Postkantianismus Hegelscher Güte". Sprach der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Der vorliegende Band bietet nur eine Kollektion von anregenden Studien, die jedoch bereits die Umrisse des postkantianischen Forschungsprogramms klar erkennen lassen und auch die Erwartung begründen, daß mit seiner Fortführung die schwierige Sache der Moralphilosophie vorangebracht werden kann." Wolfgang Kersting in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.06.2006 "Den Leser erwartet eine fundierte, kluge und lebensnahe Analyse der Probleme moderner Ethik, dabei wird kaum eine aktuelle philosophische Auseinandersetzung ausgelassen." Claudia Wiesemann, in: Ethik in der Medizin, Bd.19 (03/2007)