Geduldige Fragen: Die Philosophin Ursula Wolf macht sich Gedanken über die "Ethik der Mensch-Tier-Beziehung"
Einige Fakten belegen am Beginn der Untersuchung deren Brisanz. Der jährliche Fleischverbrauch pro Kopf ist demnach auf einundvierzig Kilogramm gestiegen. Auf vierhundertfünfzig Milliarden addiert sich weltweit die Zahl der Nutztiere in industrieller Haltung. Zudem verursachen Tierversuche, deren Gesamtzahl mit 2,84 Millionen allein in Deutschland im Jahr 2010 einen Höchststand erreichte, Leiden im großen Stil. Das bietet Anlass genug, um grundsätzlich über die "Ethik der Mensch-Tier-Beziehung" nachzudenken, was die in Mannheim lehrende Philosophin Ursula Wolf in ihrem gleichnamigen Buch, aufbauend auf einer eigenen früheren Untersuchung, unternimmt.
Ihre Studie "Das Tier in der Moral" gab 1990, fünfzehn Jahre nach Peter Singers Buch "Animal Liberation", der damals erst beginnenden kontinentaleuropäischen Debatte um Tierschutz und -ethik wichtige Impulse. Theoretische Fortschritte wurden seitdem durchaus erzielt, die harten Fakten sprechen dennoch eine andere Sprache. Also rekapituliert die Schülerin Ernst Tugendhats neben den Varianten der Beziehung zu Tieren und Fragen des Rechts nicht zuletzt die Geschichte der Moralphilosophie, um die oft frappierende Ignoranz gegenüber anderen leidensfähigen Wesen zu konstatieren.
Kulturelle Praktiken wie Jagd oder Stierkampf unterzieht Wolf ebenso einer Kritik wie bekannte tierethische Positionen, etwa diejenige Singers, dem sie seinen auf die Bewertung von Handlungsmotiven verzichtenden Utilitarismus vorwirft, oder die utopische Idee einer "Zoopolis": In ihrem gleichnamigen Buch sprechen Sue Donaldson und Will Kymlicka Tieren Grundrechte zu, weil sie ein subjektives Wohl haben, ein Empfinden dafür, was ihnen guttut. Eine Republik der Tiere? Wolfs Verzicht auf metaphysische und ideologische Prämissen stimmt sie auch hier skeptisch.
Die Autorin pflegt die philosophische Tugend des geduldigen Fragens und gibt keine schnellen Antworten. Ob man Tiere töten darf, ist nicht leicht zu beantworten, und übereilt wäre es zu sagen, Vegetarier seien schlicht bessere Menschen. Zu einer abgestuften Betrachtung, die auch zwischen solchen Wesen noch Wertunterschiede sieht, die sich darin gleichen, dass sie ein subjektives Wohl erstreben, sieht Wolf keine Alternative. Und klar erscheint immerhin, dass Tiere, wenn sie getötet werden, wenigstens schmerzfrei ums Leben zu bringen sind. Anregend und überzeugend wirkt die ethische Argumentation vor allem deshalb, weil Wolf sie in ein Konzept des guten Lebens einbettet. Ohne Moral ist für sie ein erfülltes, glückliches Dasein undenkbar.
Lebewesen werden laut Wolf dann zu Gegenständen der Moral, wenn es ihnen subjektiv gut- oder schlechtgehen kann und sie leiden und wollen können. Ausgehend davon, konstatiert sie "ein moralisches Recht auf eine Lebenssituation, welche die Grundbedingungen des Wohlbefindens garantiert". Für den Einzelnen folgt daraus keine Pflicht, sich für die politische Durchsetzung moralischer Verhältnisse einzusetzen, wohl aber eine Verpflichtung zu Rücksicht und Fürsorge im eigenen Lebenskontext. Zur Minderung des Leids, schreibt Wolf, wäre schon viel gewonnen, wenn man gegenüber Tieren, mit denen man in Beziehung steht oder die man indirekt nutzt, nur die einfachsten negativen Pflichten beachten würde, vor allem diejenige, keine Schmerzen zuzufügen oder zuzulassen.
Der verantwortungsbewusste Verbraucher ist hier gefragt, obgleich Wolf nicht explizit an ihn appelliert. Verständliche und plausible Argumentationen sind ihre Sache eher, ganz im Sinne eines Lesers, der das Verhältnis von Mensch und Tier etwas grundsätzlicher verstehen möchte und dabei auch das große Ganze eines gelingenden Lebens im Blick behält.
THOMAS GROSS.
Ursula Wolf: "Ethik der Mensch-Tier-Beziehung".
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2012. 192 S., br., 16,80 [Euro].
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