Mit diesem Buch bezieht Gernot Böhme die philosophische Ethik wieder mit Entschiedenheit auf die heute drängenden Fragen. Ja, er definiert moralische Fragen geradezu als solche, mit denen es ernst ist. Ernst ist eine Frage für den einzelnen, wenn sich mit ihrer Beantwortung entscheidet, was für ein Mensch er ist. Ernst ist für die Gesellschaft eine Frage, wenn sich mit ihrer Beantwortung unser gesellschaftliches Selbstverständnis entscheidet. Daraus ergehen sich die beiden großen Bereiche philosophischer Ethik: auf der einen Seite der Entwurf moralischer Lebensformen, auf der anderen Seite der öffentliche praktische Diskurs, der zu Konventionen über anstehende Regelungen führen soll. Über beides, moralische Existenz wie moralischer Diskurs, läßt sich nur reden unter Berücksichtigung des konkreten, historischen und gesellschaftlichen Kontextes, der anstehende Fragen zu ernsten macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.1998Verbote übertreten erlaubt
Philosophen haften nicht für ihres Geistes Kinder: Gernot Böhme ruft zum Neinsagen auf
Ist Ehrlichkeit eine moralische Frage? Gernot Böhme meint, nein; sie sei nur zweckmäßig, weil sie den Austausch von Informationen erleichtere. Moralisch sei eine Frage, "mit der es ernst ist", mit der "es sich entscheidet, wie ich Mensch bin". Dem ist hinzuzufügen: Aus diesem Grund ist Moral streiterregend, eine "blutrünstige Angelegenheit" (Ernst Tugendhat). Sie ist tatsächlich existentiell. Moral erzeugt sozialen Druck über die ständig mitlaufende Drohung mit Verachtung, mit dem Abbruch aller Kommunikationen. Sie kennt weder rechtliches Gehör noch sonstige Verfahrensregeln. Sie stellt den Menschen mit dem Rücken an die Wand und zwingt ihn zurückzuschlagen. Eine alte Wilde. Aber so ernst meint Böhme es nicht. Über Sanktionen moralischer Normen liest man nichts. Wie ich Mensch bin, hängt nach ihm einmal vom gesellschaftlichen Umfeld, vom "Kontext", ab und zum anderen von der moralischen Existenz. Beides muß bedenken, wer moralisch handeln will.
Das gesellschaftliche Umfeld ist heute durch Sachlichkeit und Rationalität gekennzeichnet und scheint der Moral nicht mehr zu bedürfen. Auschwitz hat diesen Schein zerstört. Es war der Ernstfall schlechthin und hat die Ethikfrage neu gestellt: Wie kann ich in einer Welt moralisch bestehen, in der Auschwitz möglich ist? Antwort: Man muß sich dagegen wappnen, indem man der Möglichkeit ins Auge sieht. Aber gab es Auschwitz nicht nur in Deutschland? Und zwingt die Globalisierung nicht zu der Frage: Mit welcher Ethik muß ich bei Leuten rechnen, in deren historischem Hintergrund Auschwitz nicht auftaucht? Obwohl sich Böhme "radikal auf das gesellschaftliche Individuum, also nicht auf Gesellschaft überhaupt, sondern auf unsere deutsche Gesellschaft bezieht", belegt er die andauernde Möglichkeit eines neuen Auschwitz auch mit amerikanischen Experimenten über die Bereitschaft, Befehlen gegen die eigenen moralischen Grundüberzeugungen zu gehorchen.
Auschwitz droht also überall. Nur die frühere DDR scheint nicht zu "unserer deutschen Gesellschaft" zu gehören. Sie wird dreimal beiläufig und durchaus nicht als Gegenwart des Bösen erwähnt. War sie im Vergleich zum Dritten Reich ein harmloser Nichtrechtsstaat, in dem gleichfalls Grund- und Menschenrechte galten, nur nicht in einem liberalen, sondern in einem sozialistischen Kontext? Dann wäre die staatliche Entschädigung der Opfer des SED-Unrechts eine unmoralische Heuchelei. Oder waren Buchenwald, die Stasi und die Mauer mit Tabus wie dem Tötungsverbot, mit den griechisch-römischen Tugenden und den jüdisch-christlichen Prinzipien - alles Kontext - nicht zu vereinbaren? Dann waren sie Ernstfälle, in denen sich entschied, "wie ich Mensch bin", und dann hätte der Leser gern gewußt, wie sich der Mensch Böhme davon hat betreffen lassen.
Nach der Beschreibung des Kontextes fragt Böhme, "worin die moralische Existenz selbst besteht". Freilich sieht er, daß niemand einem anderen sagen kann, "was für ein Mensch er ist". Er will nur den "Aufbruch in eine moralische Existenz skizzieren". Der beginnt mit dem "Aufbruch zum Selbstsein". Das Selbst beschreibt Böhme als Kontrapunkt zur allgemeinen Ordnung. Die Fähigkeit, Verbote zu übertreten, "nein" zu sagen, gehört dazu. Reue hält er für einen "Bruch im Selbstsein", das verlange, "auch die Schuld auszuhalten und die Konsequenzen, auch die unbeabsichtigten, mitzutragen. Und wer handelt, muß auch damit rechnen, daß er anderen Unrecht zufügt." Das Selbstsein ist ein Revolutionär, ein Herrenmensch im Bonsaiformat. Ergänzt wird es durch das Handeln-Können, besonders gegen die Mehrheit.
Und warum dieser Aufwand? Wegen des "Gut-Menschseins", das darin besteht, "sich auf das Menschsein einzulassen und nichts zu verleugnen von dem, was dazugehört". Den offenen Widerspruch zu seiner Charakterisierung des Selbstseins löst Böhme mit der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt auf. Selbstsein sei die Form, Gut-Menschsein der Inhalt. Moralisch handelt also, wer sich auf die Natur, besonders auf den eigenen Körper einläßt, auf die eigene Biographie, auf den Zusammenhang der Generationen. Man muß die eigene Existenz und das Sosein der Gesellschaft ernst nehmen und sich betreffen lassen. Urbild des Betroffenseins ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Dieses tiefe Mitgefühl gilt der ganzen Natur, besonders den Tieren als Mitgeschöpfen. Umwelt-, Natur- und Tierschutz sind deshalb moralische Fragen, die bedauerlicherweise nicht ernst genug genommen werden. Wie die "moralischen Probleme im Umgang mit Fremden" zu lösen sind, ist klar: Die Fremden sind einzubürgern. Spannend hätte die Diskussion des Abtreibungsverbotes werden können. Böhme ist - der Leser kennt inzwischen seine Linie - gegen ein Abtreibungsverbot. Aber wenn weiße Mäuse und Kinder geschützt und gepflegt werden müssen, weil sie schwach und hilflos sind, sollte das nicht erst recht für den Embryo gelten? Außerdem gehört zum Gut-Menschsein, sich auf die eigene Natur, den eigenen Körper einzulassen. "Mein Bauch gehört mir" ist kein gut-menschlicher Slogan. Böhme umgeht diese Schwierigkeit, indem er einfach nicht darüber spricht, sondern sich allein mit der Strafbarkeit der Abtreibung beschäftigt. Die Frage ist aber nicht, ob Abtreibungen bestraft werden sollen, sondern ob Abtreibungen das Gut-Menschsein vollziehen.
Böhme kann diese Frage ausblenden, weil er nicht scharf zwischen Recht und Moral unterscheidet. Nur vom Staat meint er, der sei "ein Faktum und kann nicht moralisch legitimiert werden". Deshalb nennt er den Rechtsstaat nicht so, sondern "Rechtsgemeinschaft", die aber wohl kein Faktum ist, weil sie immerhin den Hintergrund moralischer Argumentationen bildet.
Die Philosophen werden bei der Lektüre schnell erkennen, daß alles, was Böhme sagen möchte, klarer und konsequenter bei Heidegger steht. So begründet Heidegger seine Kehre vom "Sein zum Tode" - Böhmes Selbstsein - zum Humanismus - Böhmes Gut-Menschsein - nicht mit der Unterscheidung von Form und Inhalt, sondern mit dem Gewissen, das im "Sein zum Tode" reiner zu unterscheiden lernt. Heideggers Existenzphilosophie gilt freilich nicht gerade als Bollwerk gegen Auschwitz.
Der Rezensent ist zu seinem Selbstsein, zum Neinsagen aufgebrochen und sagt entschieden "nein" zu diesem Buch. GERD ROELLECKE
Gernot Böhme: "Ethik im Kontext". Über den Umgang mit ernsten Fragen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 240 S., br., 19,80 DM.
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Philosophen haften nicht für ihres Geistes Kinder: Gernot Böhme ruft zum Neinsagen auf
Ist Ehrlichkeit eine moralische Frage? Gernot Böhme meint, nein; sie sei nur zweckmäßig, weil sie den Austausch von Informationen erleichtere. Moralisch sei eine Frage, "mit der es ernst ist", mit der "es sich entscheidet, wie ich Mensch bin". Dem ist hinzuzufügen: Aus diesem Grund ist Moral streiterregend, eine "blutrünstige Angelegenheit" (Ernst Tugendhat). Sie ist tatsächlich existentiell. Moral erzeugt sozialen Druck über die ständig mitlaufende Drohung mit Verachtung, mit dem Abbruch aller Kommunikationen. Sie kennt weder rechtliches Gehör noch sonstige Verfahrensregeln. Sie stellt den Menschen mit dem Rücken an die Wand und zwingt ihn zurückzuschlagen. Eine alte Wilde. Aber so ernst meint Böhme es nicht. Über Sanktionen moralischer Normen liest man nichts. Wie ich Mensch bin, hängt nach ihm einmal vom gesellschaftlichen Umfeld, vom "Kontext", ab und zum anderen von der moralischen Existenz. Beides muß bedenken, wer moralisch handeln will.
Das gesellschaftliche Umfeld ist heute durch Sachlichkeit und Rationalität gekennzeichnet und scheint der Moral nicht mehr zu bedürfen. Auschwitz hat diesen Schein zerstört. Es war der Ernstfall schlechthin und hat die Ethikfrage neu gestellt: Wie kann ich in einer Welt moralisch bestehen, in der Auschwitz möglich ist? Antwort: Man muß sich dagegen wappnen, indem man der Möglichkeit ins Auge sieht. Aber gab es Auschwitz nicht nur in Deutschland? Und zwingt die Globalisierung nicht zu der Frage: Mit welcher Ethik muß ich bei Leuten rechnen, in deren historischem Hintergrund Auschwitz nicht auftaucht? Obwohl sich Böhme "radikal auf das gesellschaftliche Individuum, also nicht auf Gesellschaft überhaupt, sondern auf unsere deutsche Gesellschaft bezieht", belegt er die andauernde Möglichkeit eines neuen Auschwitz auch mit amerikanischen Experimenten über die Bereitschaft, Befehlen gegen die eigenen moralischen Grundüberzeugungen zu gehorchen.
Auschwitz droht also überall. Nur die frühere DDR scheint nicht zu "unserer deutschen Gesellschaft" zu gehören. Sie wird dreimal beiläufig und durchaus nicht als Gegenwart des Bösen erwähnt. War sie im Vergleich zum Dritten Reich ein harmloser Nichtrechtsstaat, in dem gleichfalls Grund- und Menschenrechte galten, nur nicht in einem liberalen, sondern in einem sozialistischen Kontext? Dann wäre die staatliche Entschädigung der Opfer des SED-Unrechts eine unmoralische Heuchelei. Oder waren Buchenwald, die Stasi und die Mauer mit Tabus wie dem Tötungsverbot, mit den griechisch-römischen Tugenden und den jüdisch-christlichen Prinzipien - alles Kontext - nicht zu vereinbaren? Dann waren sie Ernstfälle, in denen sich entschied, "wie ich Mensch bin", und dann hätte der Leser gern gewußt, wie sich der Mensch Böhme davon hat betreffen lassen.
Nach der Beschreibung des Kontextes fragt Böhme, "worin die moralische Existenz selbst besteht". Freilich sieht er, daß niemand einem anderen sagen kann, "was für ein Mensch er ist". Er will nur den "Aufbruch in eine moralische Existenz skizzieren". Der beginnt mit dem "Aufbruch zum Selbstsein". Das Selbst beschreibt Böhme als Kontrapunkt zur allgemeinen Ordnung. Die Fähigkeit, Verbote zu übertreten, "nein" zu sagen, gehört dazu. Reue hält er für einen "Bruch im Selbstsein", das verlange, "auch die Schuld auszuhalten und die Konsequenzen, auch die unbeabsichtigten, mitzutragen. Und wer handelt, muß auch damit rechnen, daß er anderen Unrecht zufügt." Das Selbstsein ist ein Revolutionär, ein Herrenmensch im Bonsaiformat. Ergänzt wird es durch das Handeln-Können, besonders gegen die Mehrheit.
Und warum dieser Aufwand? Wegen des "Gut-Menschseins", das darin besteht, "sich auf das Menschsein einzulassen und nichts zu verleugnen von dem, was dazugehört". Den offenen Widerspruch zu seiner Charakterisierung des Selbstseins löst Böhme mit der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt auf. Selbstsein sei die Form, Gut-Menschsein der Inhalt. Moralisch handelt also, wer sich auf die Natur, besonders auf den eigenen Körper einläßt, auf die eigene Biographie, auf den Zusammenhang der Generationen. Man muß die eigene Existenz und das Sosein der Gesellschaft ernst nehmen und sich betreffen lassen. Urbild des Betroffenseins ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Dieses tiefe Mitgefühl gilt der ganzen Natur, besonders den Tieren als Mitgeschöpfen. Umwelt-, Natur- und Tierschutz sind deshalb moralische Fragen, die bedauerlicherweise nicht ernst genug genommen werden. Wie die "moralischen Probleme im Umgang mit Fremden" zu lösen sind, ist klar: Die Fremden sind einzubürgern. Spannend hätte die Diskussion des Abtreibungsverbotes werden können. Böhme ist - der Leser kennt inzwischen seine Linie - gegen ein Abtreibungsverbot. Aber wenn weiße Mäuse und Kinder geschützt und gepflegt werden müssen, weil sie schwach und hilflos sind, sollte das nicht erst recht für den Embryo gelten? Außerdem gehört zum Gut-Menschsein, sich auf die eigene Natur, den eigenen Körper einzulassen. "Mein Bauch gehört mir" ist kein gut-menschlicher Slogan. Böhme umgeht diese Schwierigkeit, indem er einfach nicht darüber spricht, sondern sich allein mit der Strafbarkeit der Abtreibung beschäftigt. Die Frage ist aber nicht, ob Abtreibungen bestraft werden sollen, sondern ob Abtreibungen das Gut-Menschsein vollziehen.
Böhme kann diese Frage ausblenden, weil er nicht scharf zwischen Recht und Moral unterscheidet. Nur vom Staat meint er, der sei "ein Faktum und kann nicht moralisch legitimiert werden". Deshalb nennt er den Rechtsstaat nicht so, sondern "Rechtsgemeinschaft", die aber wohl kein Faktum ist, weil sie immerhin den Hintergrund moralischer Argumentationen bildet.
Die Philosophen werden bei der Lektüre schnell erkennen, daß alles, was Böhme sagen möchte, klarer und konsequenter bei Heidegger steht. So begründet Heidegger seine Kehre vom "Sein zum Tode" - Böhmes Selbstsein - zum Humanismus - Böhmes Gut-Menschsein - nicht mit der Unterscheidung von Form und Inhalt, sondern mit dem Gewissen, das im "Sein zum Tode" reiner zu unterscheiden lernt. Heideggers Existenzphilosophie gilt freilich nicht gerade als Bollwerk gegen Auschwitz.
Der Rezensent ist zu seinem Selbstsein, zum Neinsagen aufgebrochen und sagt entschieden "nein" zu diesem Buch. GERD ROELLECKE
Gernot Böhme: "Ethik im Kontext". Über den Umgang mit ernsten Fragen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 240 S., br., 19,80 DM.
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