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Seit die technische Entwicklung dem Menschen sozusagen auf den Leib gerückt ist, sind der moralische Umgang des Menschen mit sich selbst wie auch der gesellschaftliche Umgang mit Leib und Leben fraglich geworden. Gentechnik, Reproduktions- und Transplantationsmedizin, Schönheitschirurgie und Neuro-Enhancement verlangen eine neue und explizite Verständigung darüber, wie wir unsere Natur leben wollen, genauer: Sie verlangen nach einer Ethik leiblicher Existenz. Ohne sie fehlt die Basis für Entscheidungen des Einzelnen als mündiger Patient wie für die notwendige gesellschaftliche Regulierung der…mehr

Produktbeschreibung
Seit die technische Entwicklung dem Menschen sozusagen auf den Leib gerückt ist, sind der moralische Umgang des Menschen mit sich selbst wie auch der gesellschaftliche Umgang mit Leib und Leben fraglich geworden. Gentechnik, Reproduktions- und Transplantationsmedizin, Schönheitschirurgie und Neuro-Enhancement verlangen eine neue und explizite Verständigung darüber, wie wir unsere Natur leben wollen, genauer: Sie verlangen nach einer Ethik leiblicher Existenz. Ohne sie fehlt die Basis für Entscheidungen des Einzelnen als mündiger Patient wie für die notwendige gesellschaftliche Regulierung der neuen medizinischen Techniken. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Gernot Böhme, wie eine solche Ethik verfasst sein muss, um diesen Herausforderungen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene gewachsen zu sein.
Autorenporträt
Böhme, GernotGernot Böhme ist Professor em. für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Ethik leiblicher Existenz (stw 1880) und Ästhetischer Kapitalismus (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (es 2664).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2008

Hör auf deinen Körper!

Er möchte dem Leib jene Würde zugestehen, die ihm in der Vernunftethik abgesprochen wird: Gernot Böhme liest Kant lebenskünstlerisch gegen den Strich.

Woher kommt die merkwürdige Scheu in der zeitgenössischen Philosophie, sich mit der Tradition des Faches den Fragen des guten Lebens zuzuwenden? Also jenen Fragen, die auf Kriterien erfüllten Menschseins zielen. Es ist die vermeintliche Bescheidenheit vor allem der an Kant anknüpfenden Moralphilosophie, jene altehrwürdige Frage zu stellen, was ein gutes Leben auszeichne. Die verbreitete Annahme, Aspekte des Lebenssinns seien unter den Bedingungen der Moderne philosophisch nicht behandelbar, ist vielleicht nur eine andere Form von Überheblichkeit - des Glaubens nämlich, nur solche Antworten dürften als rational gelten, die für alle Vernünftigen zwingend, unwiderlegbar sind.

So ist es kein Zufall, dass in den letzten Jahrzehnten nicht nur unter dem Stichwort "Postmoderne" die, so wird behauptet, "totalitäre" Vernunft kritisiert wird, sondern zur gleichen Zeit zahlreiche auflagenstarke Bücher über die "Philosophie der Lebenskunst" erschienen sind. Solche Lebenskunst-Bücher besetzen mit höchst unterschiedlicher Qualität die Leerstelle, die unsere anthropologisch abstinente Philosophie geschaffen hat.

In der Erkenntnistheorie oder der Wissenschaftstheorie mag es zuweilen eindeutige Problemlösungen geben, in der Moralphilosophie wird der Anspruch streng deduktiver Rationalität zuschanden. Auch Diskursethiker, die bislang in Fragen richtigen Lebens sich selbst philosophische Enthaltsamkeit auferlegten, gestehen mittlerweile zu, dass die Philosophie sich inhaltlicher Stellungnahmen nicht entziehen kann, wenn das Selbstverständnis der Gattung Mensch angesichts der neuen Entwicklungen in der Biotechnologie - Gentechnik, Reproduduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik, Transplantationsmedizin - zur Diskussion steht.

Die begriffliche Dichotomie zwischen der inneren Natur, mit der wir geboren werden - dem Leib -, und der organischen Ausstattung, die wir uns selbst "geben" - dem Körper - wird fragwürdig, da es zum ersten Mal möglich ist, die genetischen Anlagen zu verändern. Gegenüber der Gefahr, nicht nur fortschrittsgläubige Wissenschaftler könnten darauf vertrauen, dass auf dem Markt biotechnologischer Neuerungen sich private Laster letztlich in öffentliche Tugenden verwandeln, beschwört Jürgen Habermas - auch hier in der Tradition Kants - "Autonomie", die Freiheit zur Selbstbeschränkung nach der Maßgabe rational begründeter Normen. Moral wird auch in seinen neueren Schriften als symmetrische Beziehung zwischen autonomen Subjekten verstanden, die sich in Diskursen über ihre Interessen, ihre Rechte und Pflichten verständigen.

Für Gernot Böhme, emeritierter Professor an der TU Darmstadt und heute Direktor eines "Instituts für Praxis der Philosophie", ist diese "Voraussetzung reziproker Anerkennung zwischen Personen als Basis ethischen Verhaltens nun gerade für eine Ethik, die sich der Gefährdung der Natur konfrontiert sieht, katastrophal. Weder die äußere Natur noch was wir an uns selbst als Natur erfahren, hat Personencharakter." Auch in Situationen, die durch Asymmetrie charakterisiert seien - wie im Umgang mit Kindern, Behinderten, debilen Alten, Koma-Patienten -, erweise sich eine Ethik, welche Moral als Verhältnis wechselseitiger Verpflichtungen deute, als unzulänglich.

Umso überraschender erscheint zunächst, dass Böhmes Versuch einer Revision von Autonomieethik an Kant anknüpft, genauer: an dessen Begriff der Pflichten des Menschen gegen sich selbst als ein animalisches Wesen. Selbstverständlich geht es nicht um eine Neuauflage des alten Tugend- oder Lasterkatalogs. Anders als bei neueren Moralphilosophien glaubt Böhme in Kants Metaphysik der Sitten ein ganzheitliches, nichtdualistisches Verständnis des Menschen zu entdecken, auch wenn die Anerkennung des Menschen in seiner körperlichen Existenz letztlich in Naturfeindschaft umschlage. Deshalb gelte es, Kant gegen den Strich zu lesen, und dem Leib die Würde zuzugestehen, die ihm in der Vernunftethik abgesprochen werde.

An die Stelle des Ideals der Autonomie setzt Böhme das der Souveränität. Gemeint ist damit nicht habituelle Coolness, durch die affektive Teilnahme verhindert wird, sondern das Eingeständnis, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, der Verzicht auf die Illusion, Wissenschaft und Technik machten das Leben planbar, Einübung in Leidensbereitschaft. Obwohl Böhmes "Ethik des Pathischen" an einigen Stellen wie ein Loblied der Demut und des Duldens klingt, so ist doch zuzustimmen, dass nur derjenige ein mündiger Patient sein kann, der bereit ist, Risiken einzugehen und der Neigung zu widerstehen, in jedem Fall und um jeden Preis Leiden zu vermeiden.

Moralische Souveränität bedeutet auch, ärztlichen Ratschlägen nicht bedingungslos zu vertrauen. Nicht nur gegen die Diskursethik wendet Böhme ein, dass durch Asketik, Übung - er nennt Yoga, autogenes Training, Tai-Chi, Alexandertechnik, Feldenkrais - bestimmte Grundhaltungen zuallererst erworben werden müssen, um nicht nur moralisch urteilen, sondern auch moralisch handeln zu können. Berechtigt ist zudem die Forderung, nicht (vergeblich) nach fundamentalen Prinzipien und Normen zu suchen.

Obwohl das Projekt moralischer Letztbegründung gescheitert ist, bleibt die Hoffnung, es sei möglich, sich auf gemeinsame Regelungen zu einigen, selbst wenn die Gründe, die man dafür hat, kulturell verschiedene sind. Philosophie ist die Kunst, trotz bislang scheinbar sicherer Antworten die richtigen Fragen zu stellen.

GERD SCHRADER

Gernot Böhme: "Ethik leiblicher Existenz". Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 254 S., br.,10.- [Euro].

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