"Schleiermacher gilt im Kontext der Diskussion um die Geisteswissenschaften als »Klassiker der Hermeneutik« und als Mitbegründer des »Historismus«. Dieses Buch zeigt, daß dies eine schiefe, zumindest sehr enge Blickweise ist. Denn für Schleiermacher war nicht die Hermeneutik, sondern die philosophische Ethik die Basis aller Geisteswissenschaften, und diese waren ihm deshalb nicht interpretierende, sondern ethisch-geschichtliche Wissenschaften. Die Hermeneutik aber ist in seinem System ebenso wie Staatslehre, Ästhetik und Religionsphilosophie von jener Ethik abhängig; von einer Ethik, die eine praktische Philosophie im umfassendsten Sinne und eine Theorie der modernen Kultur ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.1995Unendliche Annäherung an den Autor
Gunter Scholtz will der Hermeneutik einen praktischen Rahmen geben
Der Titel "Ethik und Hermeneutik" verspricht Defizite auszugleichen, an denen die beiden geisteswissenschaftlichen Disziplinen für sich genommen leiden. Für die Ethik ist es die Weltfremdheit, die insbesondere den seit Kant üblich gewordenen Formalismus der Normenbegründung ergänzungsbedürftig erscheinen läßt. Für die Hermeneutik besteht die Gefahr, sich in Interpretationsprobleme zu verlieren, was zunehmende Skepsis gegenüber ihrem Universalitätsanspruch zur Folge hat. Nach beiden Seiten kann durch wechselseitige Ergänzung Abhilfe geschaffen werden. Durch hermeneutische Unterstützung läßt sich die Ethik zu einer materialen Güterlehre ausbauen, die den Gegebenheiten der modernen Kultur gerecht wird. Umgekehrt verspricht eine kulturphilosophisch ausgerichtete Ethik der Hermeneutik einen Rahmen zu geben, der das Verstehen vor dem Absturz in postmoderne Beliebigkeit bewahrt.
Das mit Witz und persönlichem Engagement vorgetragene Programm wird von Scholtz nicht systematisch, sondern historisch eingelöst. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt er den protestantischen Theologen, Philosophen und Pädagogen Friedrich Schleiermacher. Scholtz ist daran gelegen, Schleiermacher in der ganzen Breite seiner Themen darzustellen. Dadurch verschiebt sich das Schwergewicht von der Hermeneutik auf die Ethik, der im Denken Schleiermachers ein ungleich größeres Gewicht zukommt. Schleiermacher sieht das Ziel der Ethik darin, eine umfassende Theorie der geschichtlichen Welt zu entwickeln. Aus der Individualethik wird somit eine Sozialethik, die ein Idealbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwirft. Im Schatten der Rechtsphilosophie Hegels nimmt Schleiermacher eine Position zwischen Aufklärung und Historismus ein.
Auch wer sich nicht für die vielfältigen geistigen Bezüge des in den Bann der Berliner Frühromantik geratenen Theologen interessiert, kann aus der Darstellung Gewinn ziehen. Sie belehrt über die oft rührend unbeholfen anmutenden Versuche des Theologen, seine wechselvollen Gefühle mit der einen Vernunft, die die Welt im Innersten zusammenhält, in Einklang zu bringen. Das ließe sich allerdings erheblich kurzweiliger an Schleiermachers Briefen über Schlegels liederlichen Roman "Lucinde" demonstrieren als an den reichlich hölzernen akademischen Schriften, mit denen sich Scholtz beschäftigt.
Die sozialphilosophische Systematik, in der Schleiermacher seine Güterlehre zu entfalten sucht, läßt erkennen, daß sein Anspruch die ihm zu Verfügung stehenden begrifflichen Mittel übersteigt. Sicherlich besteht Grund zu der Forderung, die Ethik auf ein breites kulturphilosophisches Fundament zu stellen, um sie so dem Leben anzunähern. Dazu kann die philosophische Hermeneutik einen wichtigen Beitrag der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft leisten. Diese Vermittlung läßt sich heute jedoch nicht mehr im Rahmen eines metaphysischen Vernunftbegriffs durchführen. Hier hat Schleiermachers Biograph Wilhelm Dilthey durch seinen pragmatischen Realismus eine Grenze gezogen, an der alle Aktualisierungsversuche scheitern. Daß Scholtz diese Grenzen nicht berücksichtigt und umgekehrt Dilthey an Schleiermachers Platonismus mißt, schmälert den Wert seiner Darstellung.
Auch für Schleiermachers Hermeneutik, die Scholtz in Beziehung zur gegenwärtigen Hermeneutik-Debatte setzt, fällt das Ergebnis nicht besser aus. Was man von Schleiermacher für das Verstehen von sprachlichen Kunstwerken lernen kann, wirkt reichlich hausbacken, da seine Definition des Verstehens als unendliche Annäherung an den Autor wiederum dem platonischen Vernunftbegriff verpflichtet bleibt. Das Prinzip der mittleren Distanz zwischen Autor und Interpret, das Scholtz als sittlichen Impuls von Schleiermachers Hermeneutik feiert, genügt nicht, um daraus Direktiven für den Zugang zu fremden Texten abzuleiten.
Der Leser, der sich geduldig bis zum Ende des Buches durchgearbeitet hat, kann der einleitenden Erklärung des Autors, sich aus Sachfragen herauszuhalten, und Schleiermacher nicht als universalen Problemlöser zu empfehlen, nur erleichtert zustimmen. Man fragt sich allerdings, mit welchem Recht ein Dutzend Aufsätze zu einem Taschenbuch mit dem systematisch anspruchsvollen Titel "Ethik und Hermeneutik" zusammengebunden werden, statt die Aufsätze dort zu lassen, wo sie erschienen sind und hingehören: in akademische Zeitschriften und Sammelbände. So bleibt als Fazit, daß das philosophische Beste am Buch sein Titel ist, der allerdings nach freimütigem Eingeständnis des Autors nicht von ihm selbst stammt. FERDINAND FELLMANN
Gunter Scholtz: "Ethik und Hermeneutik". Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 326 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gunter Scholtz will der Hermeneutik einen praktischen Rahmen geben
Der Titel "Ethik und Hermeneutik" verspricht Defizite auszugleichen, an denen die beiden geisteswissenschaftlichen Disziplinen für sich genommen leiden. Für die Ethik ist es die Weltfremdheit, die insbesondere den seit Kant üblich gewordenen Formalismus der Normenbegründung ergänzungsbedürftig erscheinen läßt. Für die Hermeneutik besteht die Gefahr, sich in Interpretationsprobleme zu verlieren, was zunehmende Skepsis gegenüber ihrem Universalitätsanspruch zur Folge hat. Nach beiden Seiten kann durch wechselseitige Ergänzung Abhilfe geschaffen werden. Durch hermeneutische Unterstützung läßt sich die Ethik zu einer materialen Güterlehre ausbauen, die den Gegebenheiten der modernen Kultur gerecht wird. Umgekehrt verspricht eine kulturphilosophisch ausgerichtete Ethik der Hermeneutik einen Rahmen zu geben, der das Verstehen vor dem Absturz in postmoderne Beliebigkeit bewahrt.
Das mit Witz und persönlichem Engagement vorgetragene Programm wird von Scholtz nicht systematisch, sondern historisch eingelöst. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt er den protestantischen Theologen, Philosophen und Pädagogen Friedrich Schleiermacher. Scholtz ist daran gelegen, Schleiermacher in der ganzen Breite seiner Themen darzustellen. Dadurch verschiebt sich das Schwergewicht von der Hermeneutik auf die Ethik, der im Denken Schleiermachers ein ungleich größeres Gewicht zukommt. Schleiermacher sieht das Ziel der Ethik darin, eine umfassende Theorie der geschichtlichen Welt zu entwickeln. Aus der Individualethik wird somit eine Sozialethik, die ein Idealbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwirft. Im Schatten der Rechtsphilosophie Hegels nimmt Schleiermacher eine Position zwischen Aufklärung und Historismus ein.
Auch wer sich nicht für die vielfältigen geistigen Bezüge des in den Bann der Berliner Frühromantik geratenen Theologen interessiert, kann aus der Darstellung Gewinn ziehen. Sie belehrt über die oft rührend unbeholfen anmutenden Versuche des Theologen, seine wechselvollen Gefühle mit der einen Vernunft, die die Welt im Innersten zusammenhält, in Einklang zu bringen. Das ließe sich allerdings erheblich kurzweiliger an Schleiermachers Briefen über Schlegels liederlichen Roman "Lucinde" demonstrieren als an den reichlich hölzernen akademischen Schriften, mit denen sich Scholtz beschäftigt.
Die sozialphilosophische Systematik, in der Schleiermacher seine Güterlehre zu entfalten sucht, läßt erkennen, daß sein Anspruch die ihm zu Verfügung stehenden begrifflichen Mittel übersteigt. Sicherlich besteht Grund zu der Forderung, die Ethik auf ein breites kulturphilosophisches Fundament zu stellen, um sie so dem Leben anzunähern. Dazu kann die philosophische Hermeneutik einen wichtigen Beitrag der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft leisten. Diese Vermittlung läßt sich heute jedoch nicht mehr im Rahmen eines metaphysischen Vernunftbegriffs durchführen. Hier hat Schleiermachers Biograph Wilhelm Dilthey durch seinen pragmatischen Realismus eine Grenze gezogen, an der alle Aktualisierungsversuche scheitern. Daß Scholtz diese Grenzen nicht berücksichtigt und umgekehrt Dilthey an Schleiermachers Platonismus mißt, schmälert den Wert seiner Darstellung.
Auch für Schleiermachers Hermeneutik, die Scholtz in Beziehung zur gegenwärtigen Hermeneutik-Debatte setzt, fällt das Ergebnis nicht besser aus. Was man von Schleiermacher für das Verstehen von sprachlichen Kunstwerken lernen kann, wirkt reichlich hausbacken, da seine Definition des Verstehens als unendliche Annäherung an den Autor wiederum dem platonischen Vernunftbegriff verpflichtet bleibt. Das Prinzip der mittleren Distanz zwischen Autor und Interpret, das Scholtz als sittlichen Impuls von Schleiermachers Hermeneutik feiert, genügt nicht, um daraus Direktiven für den Zugang zu fremden Texten abzuleiten.
Der Leser, der sich geduldig bis zum Ende des Buches durchgearbeitet hat, kann der einleitenden Erklärung des Autors, sich aus Sachfragen herauszuhalten, und Schleiermacher nicht als universalen Problemlöser zu empfehlen, nur erleichtert zustimmen. Man fragt sich allerdings, mit welchem Recht ein Dutzend Aufsätze zu einem Taschenbuch mit dem systematisch anspruchsvollen Titel "Ethik und Hermeneutik" zusammengebunden werden, statt die Aufsätze dort zu lassen, wo sie erschienen sind und hingehören: in akademische Zeitschriften und Sammelbände. So bleibt als Fazit, daß das philosophische Beste am Buch sein Titel ist, der allerdings nach freimütigem Eingeständnis des Autors nicht von ihm selbst stammt. FERDINAND FELLMANN
Gunter Scholtz: "Ethik und Hermeneutik". Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 326 S., br., 24,80 DM.
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