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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.1999

Dostojewski und seine Doubles
Newskis Vettern: Philippe Despoix untersucht Wahlverwandtschaften des Jahrhundertbeginns

Wenn Licht aus mehreren Richtungen einfällt, vermehren sich die Schatten. In den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wurden die um Orientierung ringenden deutschen Intellektuellen von verschiedenen Seiten angestrahlt. Der Norden lehrte mit Ibsen und Strindberg eine neue Art zu fühlen, der Westen mit Rodin und Cézanne eine neue Art zu sehen und der Osten mit Tolstoi und Dostojewski eine neue, moderne Art zu glauben. Doch kein Geograph, sondern ein Soziologe saß am Neckar in der neuen Mitte und diagnostizierte die Ausdifferenzierung der Wertsphären. Max Weber bezeichnete es in seiner Rede "Wissenschaft als Beruf" als "Alltagsweisheit, daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist". Wer sich für die Wissenschaft entscheidet, muß der welterklärenden Kraft der Religion eine Absage erteilen; die Kunst kann nach dem Tod Gottes ihren Sinn nicht mehr aus einer jenseitigen Quelle schöpfen.

Der französische Kulturwissenschaftler Philippe Despoix widmet sich "ethischen" Reaktionsmustern auf diese "Entzauberung" der Welt. Neben Weber selbst, dessen liberaler Skeptizismus den Ausgangspunkt markiert, werden mit Gustav Landauer, Leó Popper, Georg Lukács und Siegfried Kracauer Denker vorgestellt, die mit unterschiedlichen "ästhetischen" Baumaterialien Behelfsunterkünfte in der transzendentalen Obdachlosigkeit der Moderne zurechtzuzimmern versuchen.

Dem Weberschen Postulat der Neutralität gegenüber ethisch-religiösen Werten stellt Despoix idealtypisch eine eschatologische Geschichtsphilosophie mit gnostischen Zügen einerseits und eine Ethik des Materials andererseits gegenüber. Während der frühe Lukács an der künstlerischen Formentwicklung des Romans eine heilsgeschichtlich aufgeladene Kulturerneuerung ablesen will, entwickeln andere eine Theorie neuer Medien und Materialien, deren "Panästhetismus" einem chiliastischen Umschlag des Politischen vorbeugt.

Despoix eröffnet seine Studien dramaturgisch geschickt mit dem komplexen Verhältnis Webers zu den geistigen und politischen Entwicklungen in Rußland. Denn nicht nur in dessen Heidelberger Kreis, zu dem neben Lukács auch Ernst Bloch gehörte, kam der Auseinandersetzung mit russischer Politik und Literatur ein zentraler Rang zu. Die Entscheidung zwischen Tolstoi und Dostojewski wurde vielmehr zum Lackmustest einer ganzen Generation. Da stand etwa Tolstois totaler Gewaltverzicht im Geiste der Bergpredigt gegen Dostojewskis Rechtfertigung "sinnlosen" Terrors als erlösender "Tat". Doch da so viele Lektüren wie Leser sind, wurde Politik zu einer Frage der Hermeneutik. Der Anarchist Gustav Landauer entlehnte seinen radikalen Pazifismus bei Tolstoi und hielt später als Minister der Münchner Räterepublik doch nicht die andere Wange hin.

Wie das Hohelied dem Mittelalter wurde die Geschichte vom Großinquisitor aus den "Brüdern Karamasow" den Zeitgenossen zum Paradigma der Exegese. In der Konfrontation zwischen Jesus und dem Inquisitor erkannte Weber den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Georg Lukács schrieb seine "Theorie des Romans" als Einleitungskapitel zu einem Fragment gebliebenen Dostojewski-Buch, das die messianische Dimension der Romane herausstellen sollte. Diesen rekonstruierbaren Entwurf liest Despoix als "reines Negativ" der Weberschen These der unhintergehbaren Rationalisierung.

Lukács werden Dostojewskis Helden zu Kündern einer neuartigen "ethischen Demokratie", einer Gemeinschaft der Güte und Brüderlichkeit jenseits des "abstrakten" Rechts, einer utopischen Religion ohne Kirche. Der schweigende Jesus der Parabel gilt ihm als Repräsentant einer alle Institutionen ablehnenden Haltung. Nicht der von einer selbst "luziferischen" Kirche vereinnahmte Christus, sondern nur der gegen den Vatergott rebellierende Jesus kann Erlöser einer gottverlassenen Welt sein. Carl Schmitt las in "Römischer Katholizismus und politische Form" umgekehrt aus der Figur des Großinquisitors die ethische Notwendigkeit von Institutionen ab.

Am interessantesten, weil am wenigsten erforscht sind die Überlegungen des 1911 im Alter von vierundzwanzig Jahren verstorbenen Leó Popper, eines Jugendfreundes von Lukács. In den wenigen von ihm hinterlassenen Essays entwickelt er in der Beschäftigung mit dem Materialgesetz der bildenden Künste eine originelle, auf Benjamin vorausweisende Ästhetik, die Lukács als "inversen Platonismus" bezeichnet hat. Nach Popper zwingt nicht die Absicht des Künstlers oder seine "Seele" dem Stoff seinen Formwillen auf, sondern das Material selbst bringt seine Formen hervor. So kann die Abstraktionstendenz moderner Kunst mit der Schwere des Stofflichen zusammengedacht werden.

Poppers Thesen vergleicht Despoix in einleuchtender Weise mit Landauers Forderung nach dem "plastischen Drama", das aus der Schaulust die "Denk-Lust" hervorruft, und mit Kracauers Überlegungen zur Filmästhetik. So eröffnet er neue Einsichten in die theoretische Problemlage der klassischen Moderne. Die durchweg essayistische Äußerungsform aller hier Untersuchten (auch Webers einschlägige Schriften sind keine systematischen Entwürfe) wird ebenfalls auf ihren ethischen Gehalt hin gedeutet. Lukács' spätere Wendung zum ästhetischen System erscheint dann als moralische Verfehlung, als Völlerei nach der Askese des Sinns.

Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die beiden Antipoden Weber und Lukács getrennte Wege. "Die Zeitgenossenschaft ließe sich ja noch ertragen, aber die Raumgenossenschaft!" lautet ein Aphorismus Poppers. Despoix' Verfahren verbindet eine autorenzentrierte Hermeneutik mit der Nachzeichnung "theoretischer Topographien", so daß die biographischen und kulturellen Kontexte der Theoriebildung plastisch werden. Im Detail geht der Autor über die Spezialliteratur zwar selten hinaus, die Stärke der Arbeit liegt jedoch in der Zusammenschau so unterschiedlicher Problemstellungen und Denktypen. Die Auswahl der behandelten Autoren ist allerdings im Grunde willkürlich; Benjamin, Bloch, Schmitt oder auch Jünger hätte man mit gleichem Recht ins Zentrum stellen können.

Der gelernte Architekt Kracauer hat in einem Aufsatz über Simmel den "Querschnitt" als Verfahren beschrieben, das zwar viel erkennbar mache, aber nicht alle Nischen und Winkel eines Gebäudes erfassen könne, da dazu mehrere Längs- und Querschnitte erforderlich seien. Für Lukács war der Essay noch Abschlag auf kommende Synthesen, eine Ansicht, der Adorno später widersprochen hat, indem er dem Provisorium geschichtsphilosophische Weihen verlieh. Despoix' souveräne Studien sind Essays im besten Sinne. Sie sind abgeschlossen und machen doch Lust auf mehr.

RICHARD KÄMMERLINGS

Philippe Despoix: "Ethiken der Entzauberung". Zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Annette Weber. Philo Verlag, Bodenheim 1998. 256 S., br, 48,- DM.

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