Von Leonard Nelson (1882-1927) stammt ein umfangreicher Entwurf einer Ethik in der Art der kritischen Philosophie Kants, der zu seiner Zeit nur wenig Resonanz fand, obwohl er wegen der äußerst klaren Überlegungen zur Methode und Theoriestruktur einer kritizistischen Ethik für die Kantforschung und für die praktische Philosophie überhaupt von Interesse hätte sein müssen. Andreas Brandt untersucht zunächst die erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen dieser Theorie, sodann die Exposition und Deduktion des Sittengesetzes in Nelsons »Kritik der praktischen Vernunft«. Hierbei geht es um den Gehalt und die Rechtfertigung eines gegenüber Kant veränderten kategorischen Imperativs, der die gleiche Berücksichtigung der Interessen der von einer Handlung betroffenen Personen fordert. Den Schluss bildet eine detaillierte Würdigung von Nelsons Kantkritik, die auch unter Bedingungen der modernen Kantforschung noch von Interesse ist. Obwohl diese Ethik einige Probleme der kantischen vermeidet, wirft sie neue auf, in erster Linie das Problem der Bewertung von Interessen. Dennoch können Nelsons beachtliche und innovative Überlegungen, die sich teilweise in großer Nähe zur modernen Diskussion befinden, auch heute noch die ethische Theoriebildung befruchten und zu einer klareren Einschätzung der Möglichkeiten einer kritizistischen Ethik beitragen.