Eigentlich gibt es bis heute gar keine wirkliche Familienpolitik. Was es gibt, ist ein gigantischer Etikettenschwindel, der aus bestimmten Interessen heraus als Familienpolitik verkauft wird. So jedenfalls sieht es Martin Lohmann. Seine Streitschrift will die Öffentlichkeit wachrütteln und sich einsetzen für eine Familienpolitik, die ihren Namen wirklich verdient. Sein Plädoyer: Raus aus alten Ideologien, hin zu neuen - positiven - Denkmodellen. Nicht gegen Muttersein oder gegen Erwerbstätigkeit, sondern für die freie Entscheidung für das eine oder das andere - mit allen Konsequenzen. Dieses neue Denken könnte der Kern einer neuen und wirklich modernen Politik sein. Gleichzeitig ist es auch eine Herausforderung für Kirchen, Gewerkschaften, Medien und Wirtschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2008Lufthoheit der Eltern
In der Familienpolitik muss es um Bürgerfreiheit gehen
Familienpolitik ist kein "Gedöns" mehr, wie ein Bundeskanzler einmal mit jenem Feingefühl sagte, mit dem er auch von Lehrern als "faulen Säcken" sprach. Die Familie ist in das Zentrum der politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gerückt - nicht zuletzt innerhalb der Unionsparteien, für die sie zusammen mit der Bildung traditionell Teil ihrer Seele ist. Dort hat die Politik der eigenen Bundesministerin Ursula von der Leyen mächtig Aufruhr geschaffen. Elterngeld und Krippenoffensive suchen mit erheblichen materiellen Anreizen und massivem Medieneinsatz ein neues familienpolitisches Leitbild zu implementieren, das sich aus einer Verbindung von wirtschafts- und geschlechterpolitischen Motiven speist: die Familie mit möglichst vollerwerbstätigen Eltern - vor allem auch Müttern - und spätestens ab dem zweiten Lebensjahr außerfamiliär betreuten Kindern. Diese Politik hat die Union ins Mark getroffen und wirft in der Tat grundsätzliche gesellschaftspolitische Fragen auf, denen sich Martin Lohmanns "Zwischenruf" widmet.
Man muss kein Anhänger des suggestiven Hauruckstils oder des ostentativen Subjektivismus eines Familienmenschen sein, um seinen engagierten Beitrag als Bereicherung einer Debatte zu schätzen, die so stark von Vorurteilen, von Ideologie und von subtilen Verschiebungen des Sagbaren und des Nicht-Sagbaren geprägt ist. Lohmann präsentiert keine systematische, sozialwissenschaftlich fundierte Analyse und auch keine Zahlen im Stile der OECD-Statistiken über die Relation von elterlichen Kontaktminuten und Abiturnotendurchschnitt, mit denen sich alles und nichts rechtfertigen lässt. Es geht ihm um inhaltliche Aussagen aus praktischer Vernunft.
Im Zentrum steht die Wahlfreiheit für die familiären Lebensentwürfe, von der freilich alle Seiten im familienpolitischen Streit reden - oft genug freilich als ziemlich leere Bekenntnisformel. Denn während das Verdikt der berufstätigen "Rabenmutter" erfolgreich aus dem Sprachverkehr gezogen ist, gilt dies keineswegs - wie das immerhin zum Unwort des Jahres erkorene Wort der "Herdprämie" zeigt - für die Diffamierung der "Heimchen", die sich vorrangig um ihre Kinder kümmern.
Lohmann will die Entscheidung, wie sie ihr Familienleben und ihre Kinderbetreuung gestalten wollen, in die Hände der Familien gelegt wissen - wobei außer Frage steht, dass in Fällen, in denen Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, anders zu handeln ist. Grundsätzlich aber plädiert er für die "Lufthoheit der Eltern" - und traut ihnen etwas zu, anstatt sie, wie es inzwischen üblich geworden ist, unter Generalverdacht zu stellen, sie könnten ihre Kinder nicht erziehen, jedenfalls nicht so gut wie staatliche Stellen. Das aber ist die entscheidende Perspektive: Es geht um Bürgerfreiheit und Bürgerverantwortung statt bevormundender Staatsfürsorge. Aufgabe einer subsidiarisch orientierten Politik ist es, Rahmenbedingungen für gelingendes Leben zu garantieren, über dessen konkrete Ausgestaltung die Individuen selbst entscheiden. Das vormals von der Union vertretene Konzept des Familiengeldes entsprach ebendiesem Ansatz.
Eine weitere Perspektive kommt hinzu: Ausgangspunkt der Argumentation sind die Familien und vor allem die Kinder selbst, und zwar nicht nur als Objekte von Betreuung, sondern als autonome Größen, als Subjekte und Personen, um deren Wohl es geht, für sie selbst und zum Nutzen der Gesellschaft. Im Grunde läuft es auf ein family mainstreaming hinaus - eine Idee, die etwa so utopisch klingt, wie es die Abschaffung der Sklaverei oder gender mainstreaming an ihrem Anfang auch taten. Lohmanns konkrete Vorschläge dafür bleiben eher rhapsodisch. Entscheidend aber ist der Denkansatz, von dem sich das Konkrete dann ableitet.
Denn in der Tat: "Es geht um die Familie - und viel mehr." Hinter der konkreten Familienpolitik steht ein gesellschaftspolitischer Gesamtzusammenhang: eine parteiübergreifende Entwicklung des Verständnisses von Erziehung und Bildung der heranwachsenden Generation allgemein, von der Krippe über die technokratisierte Schulkarriere bis zum durchregulierten Bachelor-Studium. Standardisierte Ausbildung, die auf ökonomische Verwertungsfähigkeit zielt, erzeugt marktgängige Konformisten - bis hin zu Professoren, die sich, ohne rot zu werden, pausenlos selbst als "exzellent" bezeichnen, weil sie vorgegebene Erwartungen erfüllen. Social skills statt Persönlichkeitsbildung: Auf der Strecke bleibt das selbständig urteilsfähige, kritische und freiheitsfähige Individuum. Dieses Ziel aber ist, bei allen Schwächen, die einzigartige Stärke des klassischen deutschen Bildungsideals gewesen, das sich ein durch PISA hysterisiertes Land selbst kaputtgeredet hat. Es ist die Seele eines bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs.
ANDREAS RÖDDER
Martin Lohmann: Etikettenschwindel Familienpolitik. Ein Zwischenruf für mehr Bürgerfreiheit und das Ende der Bevormundung. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008. 222 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Familienpolitik muss es um Bürgerfreiheit gehen
Familienpolitik ist kein "Gedöns" mehr, wie ein Bundeskanzler einmal mit jenem Feingefühl sagte, mit dem er auch von Lehrern als "faulen Säcken" sprach. Die Familie ist in das Zentrum der politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gerückt - nicht zuletzt innerhalb der Unionsparteien, für die sie zusammen mit der Bildung traditionell Teil ihrer Seele ist. Dort hat die Politik der eigenen Bundesministerin Ursula von der Leyen mächtig Aufruhr geschaffen. Elterngeld und Krippenoffensive suchen mit erheblichen materiellen Anreizen und massivem Medieneinsatz ein neues familienpolitisches Leitbild zu implementieren, das sich aus einer Verbindung von wirtschafts- und geschlechterpolitischen Motiven speist: die Familie mit möglichst vollerwerbstätigen Eltern - vor allem auch Müttern - und spätestens ab dem zweiten Lebensjahr außerfamiliär betreuten Kindern. Diese Politik hat die Union ins Mark getroffen und wirft in der Tat grundsätzliche gesellschaftspolitische Fragen auf, denen sich Martin Lohmanns "Zwischenruf" widmet.
Man muss kein Anhänger des suggestiven Hauruckstils oder des ostentativen Subjektivismus eines Familienmenschen sein, um seinen engagierten Beitrag als Bereicherung einer Debatte zu schätzen, die so stark von Vorurteilen, von Ideologie und von subtilen Verschiebungen des Sagbaren und des Nicht-Sagbaren geprägt ist. Lohmann präsentiert keine systematische, sozialwissenschaftlich fundierte Analyse und auch keine Zahlen im Stile der OECD-Statistiken über die Relation von elterlichen Kontaktminuten und Abiturnotendurchschnitt, mit denen sich alles und nichts rechtfertigen lässt. Es geht ihm um inhaltliche Aussagen aus praktischer Vernunft.
Im Zentrum steht die Wahlfreiheit für die familiären Lebensentwürfe, von der freilich alle Seiten im familienpolitischen Streit reden - oft genug freilich als ziemlich leere Bekenntnisformel. Denn während das Verdikt der berufstätigen "Rabenmutter" erfolgreich aus dem Sprachverkehr gezogen ist, gilt dies keineswegs - wie das immerhin zum Unwort des Jahres erkorene Wort der "Herdprämie" zeigt - für die Diffamierung der "Heimchen", die sich vorrangig um ihre Kinder kümmern.
Lohmann will die Entscheidung, wie sie ihr Familienleben und ihre Kinderbetreuung gestalten wollen, in die Hände der Familien gelegt wissen - wobei außer Frage steht, dass in Fällen, in denen Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, anders zu handeln ist. Grundsätzlich aber plädiert er für die "Lufthoheit der Eltern" - und traut ihnen etwas zu, anstatt sie, wie es inzwischen üblich geworden ist, unter Generalverdacht zu stellen, sie könnten ihre Kinder nicht erziehen, jedenfalls nicht so gut wie staatliche Stellen. Das aber ist die entscheidende Perspektive: Es geht um Bürgerfreiheit und Bürgerverantwortung statt bevormundender Staatsfürsorge. Aufgabe einer subsidiarisch orientierten Politik ist es, Rahmenbedingungen für gelingendes Leben zu garantieren, über dessen konkrete Ausgestaltung die Individuen selbst entscheiden. Das vormals von der Union vertretene Konzept des Familiengeldes entsprach ebendiesem Ansatz.
Eine weitere Perspektive kommt hinzu: Ausgangspunkt der Argumentation sind die Familien und vor allem die Kinder selbst, und zwar nicht nur als Objekte von Betreuung, sondern als autonome Größen, als Subjekte und Personen, um deren Wohl es geht, für sie selbst und zum Nutzen der Gesellschaft. Im Grunde läuft es auf ein family mainstreaming hinaus - eine Idee, die etwa so utopisch klingt, wie es die Abschaffung der Sklaverei oder gender mainstreaming an ihrem Anfang auch taten. Lohmanns konkrete Vorschläge dafür bleiben eher rhapsodisch. Entscheidend aber ist der Denkansatz, von dem sich das Konkrete dann ableitet.
Denn in der Tat: "Es geht um die Familie - und viel mehr." Hinter der konkreten Familienpolitik steht ein gesellschaftspolitischer Gesamtzusammenhang: eine parteiübergreifende Entwicklung des Verständnisses von Erziehung und Bildung der heranwachsenden Generation allgemein, von der Krippe über die technokratisierte Schulkarriere bis zum durchregulierten Bachelor-Studium. Standardisierte Ausbildung, die auf ökonomische Verwertungsfähigkeit zielt, erzeugt marktgängige Konformisten - bis hin zu Professoren, die sich, ohne rot zu werden, pausenlos selbst als "exzellent" bezeichnen, weil sie vorgegebene Erwartungen erfüllen. Social skills statt Persönlichkeitsbildung: Auf der Strecke bleibt das selbständig urteilsfähige, kritische und freiheitsfähige Individuum. Dieses Ziel aber ist, bei allen Schwächen, die einzigartige Stärke des klassischen deutschen Bildungsideals gewesen, das sich ein durch PISA hysterisiertes Land selbst kaputtgeredet hat. Es ist die Seele eines bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs.
ANDREAS RÖDDER
Martin Lohmann: Etikettenschwindel Familienpolitik. Ein Zwischenruf für mehr Bürgerfreiheit und das Ende der Bevormundung. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008. 222 S., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Familienpolitik und ihr gesellschaftspolitischer Gesamtzusammenhang. Was das bedeutet - in diesem Buch erfährt es der Rezensent. Engagiert und bemüht um in praktischer Vernunft wurzelnde inhaltliche Aussagen erscheint Andreas Rödder Martin Lohmanns Arbeit. Dass sozialwissenschaftlich-analytisch da nicht so viel bei herumkommt, stört ihn nicht. Das vom Autor ins Zentrum gerückte Interesse an der Selbstbestimmung über familiäre Lebensentwürfe leuchtet Rödder ein. Ebenso die Forderung an die Politik, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Lohmanns Denkansatz trägt für den Rezensenten die Chance auf Ableitung von Konkretem in sich sowie die "Seele eines bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs".
© Perlentaucher Medien GmbH
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