Kommt die eigene Sprache erst zu ihrem Wort, wenn sie aus der Selbstverständlichkeit fällt? Ist sie dann in eine Hüpfburg gegangen und prallt mit anderen falschen Freunden zusammen? Oder beugt sie sich mit anderen Frauen über einen Stadtplan und murmelt etymologisch zweifelhafte, aber poetologisch zündende Wegbeschreibungen? Routen für die Leser innen, die von translantischen Texten erst geschrieben werden? In den hier erstmals versammelten Essays und Reden entwirft die Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf lustvoll und hellhörig jenes "cargo schmargo" des Gedichts, "die Verschiebung des herrschenden Ausdrucks" als produktive Verstörung angestammter Wahrnehmung von Identität und Sprache. Ob Prosagedicht, Übersetzung, translinguales Schreiben - Wolfs Augenmerk gilt dem schmugglerischen Sprachhandeln, den hybriden Formen, dem "Grundrecht", "jenes und zugleich ein anderes zu sein". Davon bleibt auch die Form des Essays nicht unberührt, wird "Guessay", "Translabor", Versuchsanordnung eines poetischen Denkens, das immer währendes Gespräch ist - unter anderem mit Ilse Aichinger, Peter Huchel, Gertrude Stein, Elisabeth Barrett Browning und Theresa Hak Kyung Cha -, eine Form, die zum Weitersprechen, Fabulieren und gossippen einlädt.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Michael Braun lernt bei Uljana Wolf, dass Wörter fremd werden müssen, um zu sich selbst zu kommen. Wie das geht, erläutert Wolf dem Rezensenten in ihren Essays über die "Wanderbewegungen der Wörter" und die Obsoletheit des Konzepts Muttersprache. Dass die Dichterin und Übersetzerin Wolf dafür prädestiniert ist, bezweifelt der Rezensent nicht. Wolfs Sprachempfinden, ihr Faible fürs "Übermalen" von poetischen Texten wird für Braun sichtbar nicht zuletzt an der Behandlung von Gedichten von Elizabeth Barrett Browning im vorliegenden Band sowie an Wolfs Essays über Ilse Aichinger.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2021Erst der Umweg führt schnurstracks zum Ziel
Lyrik kann mehr als bloße Muttersprache: Uljana Wolfs Überlegungen zu einer vielsprachigen Dichtung
Von der Dichterin Uljana Wolf heißt es, sie lebe in ihrer Geburtsstadt Berlin. Liest man allerdings ihre Gedichte, Übersetzungen, Essays und Reden, so entsteht der Eindruck, sie habe sich längst woanders eingerichtet: an einem translingualen Ort, an dem sich das Deutsche und Amerikanische, aber auch das Polnische und Belarussische ineinander verschränken. Wolf hat diesen Ort über die vergangenen fünfzehn Jahre nicht nur poetisch zum Erblühen gebracht. Offenbar hat sie es auch verstanden, ihn theoretisch zu vermessen. An ihrem neusten Band unter dem Titel "Etymologischer Gossip" lässt sich ablesen, wie die Dichterin sich Schritt für Schritt eine eigenständige Theorie translingualer Poesie erarbeitet hat.
Der Band führt 24 Beiträge zusammen, die bislang weit verstreut vorlagen. Die beiden frühesten Texte stammen aus dem Jahr 2006, die jüngsten von 2018. Die Essays zeigen, dass die Frage nach der Bewohnbarkeit einen wichtigen Ausgangspunkt für Wolfs Poetik bildet. Die Berlinerin betonte schon in ihrer ersten großen Rede, bei der Verleihung des Peter-Huchel-Preises: "Aus dem Wortschatz wird ein Wohnschatz, das Gedicht ist bewohnbar, die Grundworte ruhen in sich und sprechen uns an. Und das Gedicht ist nach allen Seiten offen, ist zugig, unbewohnbar, wenn es über sich hinausweist, mit unerwartetem Bild, mit klarer Fügung einem den Stoß versetzt, der aus dem Vertrauten ins unvertraut Neue führt." Diese Überlegungen setzt sie konstant fort, bis hin zu ihren Überlegungen zu Wiegenliedern (2017), bei denen ja auch die erste Konfrontation des Eigenen über das Fremde erfolgt.
Die zweite Konstante bildet die intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Ilse Aichinger. Bereits im ersten Essay, aus dem Jahr 2006, lässt sich pointiert beobachten, wie die wolftypischen Sätze, sich aus der Reibung mit Aichingers "Queens" und somit aus einer spezifischen Form des Fortschreitens und Abwartens formieren, um dann ihrerseits das Aufgenommene neu zu wenden: "Das meint warten, withdraw, ich nehme mich zurück, aber etwas nehme ich mit, with."
Wolf präsentiert sich in ihren Essays, als eine vom Willen zum Wissen getriebene Spurenleserin, deren spielerische, gewagte, spekulative Denkart eigene Denkwege sucht: "Und weiter?", fragt sie an einer Stelle, um sich in "Vermutungen, Passagen" fortzubewegen. Als versierte Guesseyistin könnte man sie wohl nach einer ihrer eigenen Wortschöpfungen bezeichnen. Denn im "Guessay", dem Rateversuch, eröffnet sich die Poetin auch noch jenen Spielraum von Ahnung und Vermutung, der ihr im Essay verschlossen bleiben würde. Was uns das sagt? "Es ist wohl nichts gesagt", so Wolf, als dass ich "mich verhake, meine Fäden sticke, mich sinnstiftend verstrickte. Anstatt mich ausfädeln zu lassen, will ich zusammenlesen, was vielleicht nicht zusammenzulesen ist." Besticken, Verstricken - das bleibt der Gestus von Wolfs assoziationspräzisen Lektüren.
Die translinguale Lyrik hat in den vergangenen Jahren mit Autorinnen wie Yoko Tawada, Cia Rinne, Dagmara Kraus, Alexandru Bulucz, aber auch mit einzelnen Büchern wie Ulf Stolterfohts "Was Branko sagt", eine hochproduktive Phase durchlaufen. Ihren Ausgangspunkt - so sieht man in Wolfs Essays schnell - bildet eine Auseinandersetzung mit der poetischen Übersetzung. Wolf zählt zu jenen Übersetzerinnen, die sich vom Ufer der deutschen Sprache abstoßen, um zum Ufer der anderen Sprache überzusetzen. Allerdings hat Wolf eine Vorliebe dafür, sich in den Sprachflüssen und -wirbeln treiben oder schaukeln zu lassen. Translinguale Poesie beruht gerade nicht darauf, sich möglichst direkt von einer zur anderen Sprache zu bewegen. Oder wie es Uljana Wolf im titelgebenden Beitrag "Etymologischer Gossip" über ihre Denkbewegung festhält: "Mein Nachgehen braucht Umwege." Erst der Umweg führt schnurstracks zu jenem Ziel, von dem man zuvor nichts ahnte. Am liebsten verstrickt Wolf sich daher mit größter Genauigkeit darin, die Verwurzelungen zwischen den Sprachen bis in die feinsten Filiationen zu erforschen. Translinguale Poesie arbeitet demnach streng rhizomatisch.
Wolf reflektiert, dass ein translinguales Gedicht phänotypisch nicht unbedingt als mehrsprachig erscheinen muss. Weil es subkutan mit mehreren Sprachen verflochten sein kann: "Ein einsprachiges Gedicht kann in seinem Denken / mehrsprachig sein." Das poetische wie essayistische Erforschen dieser Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Sprachen führt im besten Fall dazu, die eigene Sprache zu destabilisieren. Sie sei eine Möglichkeit, "die Sprache sich selbst zu entfremden und so allein zu lassen, dass sie wieder allein sprechen muss", hielt bereits Aichinger fest. Die Sprache wird abermals unvertraut, weil sie eine per se multilinguale Erscheinung ist. Language is migrant - "Sprache ist migrantisch. Wörter bewegen sich von Sprache zu Sprache, von Kultur zu Kultur, von Mund zu Mund" -, so zitiert Wolf die chilenische Dichterin Cecilia Vicuña. Wie der Tratsch, Klatsch, Halbwahrheit, wie zirkulierender gossip, so wandert auch das Fremde durch unsere Sprachkörper. "Ich habe nur eine Sprache, und sie ist nicht meine", behauptete Jacques Derrida treffend.
Translinguale Poesie, so zeigt Wolf in ihren Studien auf höchst anregende Weise, unterläuft somit auch die Vorstellung, man könne nur in einer, nämlich in seiner Muttersprache dichten. Sie ersetzt diese Idee durch eine durchlässige Viel- und Mehrsprachigkeit. Und weil die Sprache Identitäten und nationale Denkweisen schafft, gerät mit der Multilingualität auch das System politischer Zuschreibungen und Einschreibungen in Bewegung. Das Gedicht wird auf neue Weise bewohnbar und unbewohnbar zugleich.
Am eindrücklichsten kann Uljana Wolf diese Bedingungen und Möglichkeiten ihres Dichtens entfalten, wann immer sie selbst zur Leserin wird: Wenn sie anhand von Dagmara Kraus' Band "liedvoll, deutschyzno" eine "deutsch-polnische Portmanteugrafie" entfaltet. Wenn ihr auf Abwegen in der Bibliothek der römischen Villa Massimo der "Pentamerone" von Giambattista Basiles in die Hände fällt und sie den Spuren der Petersilie zu folgen beginnt. Oder wenn sie in einem der eindrücklichsten Beiträge des Bandes Theresa Hak Kyungs "Dictee" für sich und ihre Leser entdeckt. Dann wird Uljana Wolf zur Kuratorin von Worten, Versprechern und mitunter sogar - wer meidet schon jedes Risiko? - von "Falschen Freunden", zu einer Guesseyistin, der man fasziniert in die Welt translingualer Verstrickungen folgt. CHRISTIAN METZ
Uljana Wolf: "Etymologischer Gossip". Essays und Reden.
Kookbooks Verlag, Berlin 2021. 234 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lyrik kann mehr als bloße Muttersprache: Uljana Wolfs Überlegungen zu einer vielsprachigen Dichtung
Von der Dichterin Uljana Wolf heißt es, sie lebe in ihrer Geburtsstadt Berlin. Liest man allerdings ihre Gedichte, Übersetzungen, Essays und Reden, so entsteht der Eindruck, sie habe sich längst woanders eingerichtet: an einem translingualen Ort, an dem sich das Deutsche und Amerikanische, aber auch das Polnische und Belarussische ineinander verschränken. Wolf hat diesen Ort über die vergangenen fünfzehn Jahre nicht nur poetisch zum Erblühen gebracht. Offenbar hat sie es auch verstanden, ihn theoretisch zu vermessen. An ihrem neusten Band unter dem Titel "Etymologischer Gossip" lässt sich ablesen, wie die Dichterin sich Schritt für Schritt eine eigenständige Theorie translingualer Poesie erarbeitet hat.
Der Band führt 24 Beiträge zusammen, die bislang weit verstreut vorlagen. Die beiden frühesten Texte stammen aus dem Jahr 2006, die jüngsten von 2018. Die Essays zeigen, dass die Frage nach der Bewohnbarkeit einen wichtigen Ausgangspunkt für Wolfs Poetik bildet. Die Berlinerin betonte schon in ihrer ersten großen Rede, bei der Verleihung des Peter-Huchel-Preises: "Aus dem Wortschatz wird ein Wohnschatz, das Gedicht ist bewohnbar, die Grundworte ruhen in sich und sprechen uns an. Und das Gedicht ist nach allen Seiten offen, ist zugig, unbewohnbar, wenn es über sich hinausweist, mit unerwartetem Bild, mit klarer Fügung einem den Stoß versetzt, der aus dem Vertrauten ins unvertraut Neue führt." Diese Überlegungen setzt sie konstant fort, bis hin zu ihren Überlegungen zu Wiegenliedern (2017), bei denen ja auch die erste Konfrontation des Eigenen über das Fremde erfolgt.
Die zweite Konstante bildet die intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Ilse Aichinger. Bereits im ersten Essay, aus dem Jahr 2006, lässt sich pointiert beobachten, wie die wolftypischen Sätze, sich aus der Reibung mit Aichingers "Queens" und somit aus einer spezifischen Form des Fortschreitens und Abwartens formieren, um dann ihrerseits das Aufgenommene neu zu wenden: "Das meint warten, withdraw, ich nehme mich zurück, aber etwas nehme ich mit, with."
Wolf präsentiert sich in ihren Essays, als eine vom Willen zum Wissen getriebene Spurenleserin, deren spielerische, gewagte, spekulative Denkart eigene Denkwege sucht: "Und weiter?", fragt sie an einer Stelle, um sich in "Vermutungen, Passagen" fortzubewegen. Als versierte Guesseyistin könnte man sie wohl nach einer ihrer eigenen Wortschöpfungen bezeichnen. Denn im "Guessay", dem Rateversuch, eröffnet sich die Poetin auch noch jenen Spielraum von Ahnung und Vermutung, der ihr im Essay verschlossen bleiben würde. Was uns das sagt? "Es ist wohl nichts gesagt", so Wolf, als dass ich "mich verhake, meine Fäden sticke, mich sinnstiftend verstrickte. Anstatt mich ausfädeln zu lassen, will ich zusammenlesen, was vielleicht nicht zusammenzulesen ist." Besticken, Verstricken - das bleibt der Gestus von Wolfs assoziationspräzisen Lektüren.
Die translinguale Lyrik hat in den vergangenen Jahren mit Autorinnen wie Yoko Tawada, Cia Rinne, Dagmara Kraus, Alexandru Bulucz, aber auch mit einzelnen Büchern wie Ulf Stolterfohts "Was Branko sagt", eine hochproduktive Phase durchlaufen. Ihren Ausgangspunkt - so sieht man in Wolfs Essays schnell - bildet eine Auseinandersetzung mit der poetischen Übersetzung. Wolf zählt zu jenen Übersetzerinnen, die sich vom Ufer der deutschen Sprache abstoßen, um zum Ufer der anderen Sprache überzusetzen. Allerdings hat Wolf eine Vorliebe dafür, sich in den Sprachflüssen und -wirbeln treiben oder schaukeln zu lassen. Translinguale Poesie beruht gerade nicht darauf, sich möglichst direkt von einer zur anderen Sprache zu bewegen. Oder wie es Uljana Wolf im titelgebenden Beitrag "Etymologischer Gossip" über ihre Denkbewegung festhält: "Mein Nachgehen braucht Umwege." Erst der Umweg führt schnurstracks zu jenem Ziel, von dem man zuvor nichts ahnte. Am liebsten verstrickt Wolf sich daher mit größter Genauigkeit darin, die Verwurzelungen zwischen den Sprachen bis in die feinsten Filiationen zu erforschen. Translinguale Poesie arbeitet demnach streng rhizomatisch.
Wolf reflektiert, dass ein translinguales Gedicht phänotypisch nicht unbedingt als mehrsprachig erscheinen muss. Weil es subkutan mit mehreren Sprachen verflochten sein kann: "Ein einsprachiges Gedicht kann in seinem Denken / mehrsprachig sein." Das poetische wie essayistische Erforschen dieser Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Sprachen führt im besten Fall dazu, die eigene Sprache zu destabilisieren. Sie sei eine Möglichkeit, "die Sprache sich selbst zu entfremden und so allein zu lassen, dass sie wieder allein sprechen muss", hielt bereits Aichinger fest. Die Sprache wird abermals unvertraut, weil sie eine per se multilinguale Erscheinung ist. Language is migrant - "Sprache ist migrantisch. Wörter bewegen sich von Sprache zu Sprache, von Kultur zu Kultur, von Mund zu Mund" -, so zitiert Wolf die chilenische Dichterin Cecilia Vicuña. Wie der Tratsch, Klatsch, Halbwahrheit, wie zirkulierender gossip, so wandert auch das Fremde durch unsere Sprachkörper. "Ich habe nur eine Sprache, und sie ist nicht meine", behauptete Jacques Derrida treffend.
Translinguale Poesie, so zeigt Wolf in ihren Studien auf höchst anregende Weise, unterläuft somit auch die Vorstellung, man könne nur in einer, nämlich in seiner Muttersprache dichten. Sie ersetzt diese Idee durch eine durchlässige Viel- und Mehrsprachigkeit. Und weil die Sprache Identitäten und nationale Denkweisen schafft, gerät mit der Multilingualität auch das System politischer Zuschreibungen und Einschreibungen in Bewegung. Das Gedicht wird auf neue Weise bewohnbar und unbewohnbar zugleich.
Am eindrücklichsten kann Uljana Wolf diese Bedingungen und Möglichkeiten ihres Dichtens entfalten, wann immer sie selbst zur Leserin wird: Wenn sie anhand von Dagmara Kraus' Band "liedvoll, deutschyzno" eine "deutsch-polnische Portmanteugrafie" entfaltet. Wenn ihr auf Abwegen in der Bibliothek der römischen Villa Massimo der "Pentamerone" von Giambattista Basiles in die Hände fällt und sie den Spuren der Petersilie zu folgen beginnt. Oder wenn sie in einem der eindrücklichsten Beiträge des Bandes Theresa Hak Kyungs "Dictee" für sich und ihre Leser entdeckt. Dann wird Uljana Wolf zur Kuratorin von Worten, Versprechern und mitunter sogar - wer meidet schon jedes Risiko? - von "Falschen Freunden", zu einer Guesseyistin, der man fasziniert in die Welt translingualer Verstrickungen folgt. CHRISTIAN METZ
Uljana Wolf: "Etymologischer Gossip". Essays und Reden.
Kookbooks Verlag, Berlin 2021. 234 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2021Stirn an Stirn mit der Welt
Man vergisst oft, was es bedeutet, zu übersetzen. Kate Briggs und Uljana Wolf denken zum Glück
trotzdem darüber nach. Ihre Bücher gehören zu den großen Besonderheiten dieses Jahres
VON INSA WILKE
Als Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ Anfang des Jahres in deutscher Übersetzung erschien, machte sich die halbe Republik auf zu einem beliebten Gesellschaftsspiel: Finde die Fehler. Kaum jemand fragte damals, Anfang 2021, was man eigentlich verpasst, wenn man nur auf Fehlersuche durch diese oder andere Übersetzungen schnürt, ohne jedes weitere Erkenntnisinteresse, und welche Wahrheiten sich womöglich auch in Fehlern verbergen. Antworten auf diese Frage findet man in den Büchern der britischen Übersetzerin Kate Briggs und Uljana Wolf, einer der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Dichtung. Es geht um Texte, die vom Übersetzen handeln. Und so überraschend das klingen mag: Sie gehören ins Umfeld der Versuche, Gesellschaft anders zu denken.
„This Little Art“ ist in der deutschen Übersetzung von Sabine Voß im Independent Verlag INK Press erschienen, eine funkelnde, anregende Schrift zwischen Memoir und unterhaltendem literaturphilosophischen Essay, der Übersetzerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts würdigt. Es ist Kate Briggs’ erstes eigenes Buch. Die Engländerin lebt und unterrichtet in Rotterdam. Sie hat Texte von Michel Foucault und Roland Barthes ins Englische übersetzt. Für „This Little Art“ wurde sie in diesem Jahr mit dem Windham Campbell Prize ausgezeichnet, einem der weltweit höchst dotierten Literaturpreise.
2017 in London erschienen, bezieht sich Briggs natürlich noch nicht auf Gorman und die europäischen Debatten um gute Übersetzungen und verpasste Chancen. Uljana Wolf, die mit „Etymologischer Gossip“ für das andere literarische Ereignis der Saison gesorgt hat, weist im Hintergrundgespräch aber auf eine 2018/2019 geführte Auseinandersetzung um Briggs’ Buch hin, in der es um Machtstrukturen und Deutungshoheit in der US-amerikanischen Übersetzerszene ging. Weiß man darum, tritt noch deutlicher hervor, dass „This Little Art“ ein Essay ist, der weit über die Arbeit des Übersetzens hinausweist. Briggs plädiert für eine Lebenseinstellung, schlägt eigentlich eine Ethik des Arbeitens, Lesens und Lebens vor und zwar schon durch die Art, wie dieser Text geschrieben ist: als Einladung, einen anderen Blickwinkel als den der Wertung einzuüben.
Briggs schreibt nicht, möchte man meinen, sie tanzt. Sie denkt in der Schreibbewegung und das nicht allein, sondern mit einer Vielzahl anderer Stimmen ihres Metiers zusammen und sie macht das als Vorgang deutlich im Text, den sie klug zwischen zwei Polen organisiert: zum einen der Geschichte von Helen Lowe-Porters Diskreditierung, der ersten Thomas Mann-Übersetzerin ins Englische. Zum anderen dem eigenen Verhältnis zum späten Roland Barthes, mit dem sie sich das ganze Buch über unverhohlen im Zwiegespräch befindet, eine von vielen Liebesgeschichten, die „This Little Art“ auch erzählt.
Briggs Buch beginnt mit einer bestechenden Szene, die den Pakt zwischen Übersetzerin und Leserin nicht nur illustriert, sondern performativ auf den Kopf stellt: Wer eine Übersetzung liest, zum Beispiel die von „This Little Art“, erklärt sich einverstanden mit der Fiktion, „Kate Briggs“ und nicht „Sabine Voß“ zu lesen. Die Leserin überspringt das Moment der Differenz. Die Übersetzerin gebe die dienende „Kammerzofe“, stehe „Stirn an Stirn mit der Welt, der sie atemlos und bitterernst ins Gesicht sagt: Schau Welt, ich mache das nur für dich.“
Briggs fragt: „Läuft es so?“ Voß schreibt im Nachwort, Übersetzen bedeute, Gewissheiten aufzulösen. Briggs/Voß schreiben vom „rasenden Herzschlag“ der Übersetzerin bei der Arbeit. Sie schreiben mit Barthes vom Begehren, sich als Lesende in eine Schreibende zu verwandeln. Und sie schreiben vom Status eines übersetzten Textes, wenn er als solcher ins Bewusstsein der Kritikerin, der Leserin tritt: Der Ausruf „Dies ist eine Übersetzung!“ verändere die Leseweise, schaffe eine unhinterfragte zeitliche und hierarchische Beziehung zwischen Original und Übersetzung.
„Es ist leicht, nicht über das Übersetzen nachzudenken“, heißt ein Refrain in „This Little Art“. Das habe vor allem damit zu tun, wie Übersetzungen üblicherweise den Leserinnen und Lesern präsentiert werden. Im deutschsprachigen Raum sind es wenige Verlage wie mare, Guggolz und eben INK Press, die Übersetzerinnen und Übersetzer vorne auf den Umschlägen nennen. In Rezensionen wird ihre Leistung selten beschrieben. Briggs beklagt das aber weniger, sondern bemerkt, dass Übersetzerinnen offenkundig nicht als Subjekte mit einem Kontext existieren und gelesen werden. Was verpasst man dadurch?
Man verpasst eine epochale Möglichkeit. Das wird deutlich, wenn man Uljana Wolfs Buch „Etymologischer Gossip“ liest. Es versammelt Essays und Reden aus den letzten fünfzehn Jahren, die Wolf für diese Ausgabe überarbeitet und in ihrer Gesamtheit so komponiert hat, dass sich verschiedene Formen zu einem poetisch-ethischen Buch fügen, einer subtilen intellektuellen, ästhetischen und politischen Autobiografie, einem Vorschlag, anders zu denken und anders zu handeln. Von „Übersetzung als Widerstand“, schreibt Wolf in ihrem Buch und erklärt im Gespräch, beim literarischen Schreiben wie beim Übersetzen sei es nötig, „alle Sprachen der Welt im Kopf zu haben“, auch wenn man sie nicht spreche, um so „eine Art poetic of relation, eine Poetik der Beziehung zu praktizieren.“
Genau dieses Denken in Beziehungen, das sich auf die Philosophie von Édouard Glissant beruft, ist es, das man als Leser verpasst, wenn man sich nur damit aufhält, den „offensichtlichen Fehler aufzuspüren und zu untersuchen“, nicht aber „das Ganze“ zu beachten, wie Briggs Helen Lowe-Porter zitierend verlangt. Wer nur nach Fehlern sucht und dann triumphierend in der Buchhandlung steht, ist blind für dieses Ganze, für sich selbst im Gefüge der Beziehungen und die historischen und kulturellen Bedingungen einer Übersetzung. Eine „Übung in Zartgefühl“ nennt Briggs mit ihrem Kollegen David Horton ihre Vorstellung vom Lesen und Übersetzen im Gegensatz zu solcher Blindheit.
„Zartgefühl“ meine auch „die Kunst, nicht alle Gegenstände gleich zu behandeln“. Uljana Wolf praktiziert dieses Zartgefühl in ihrem Buch sehr viel strenger als Kate Briggs. Der Horizont ihrer Schreibweise und Lesart ist weiter und führt doch zu so spielerischen, aber eben auch sofort erhellenden Sätzen wie diesem: „Wiegenlieder sind Arbeitslieder am Schallrand der Sprache.“ „Etymologischer Gossip“ setzt eine Zäsur, was das Zusammendenken von Leben und Schreiben, von Ethik und Poetik angeht. Ein eigentlich kurzes, aber zentrales Kapitel ist Zong! gewidmet, einem 2008 von der karibisch-kanadischen Dichterin M. NourbeSe Philip veröffentlichtes Buch, das Wolf als einen „der einflussreichsten und bedeutendsten englischsprachigen Gedichtbände der letzten Jahre“ bezeichnet. Zong! lege Zeugnis ab von einem Massaker, das 1781 an Bord des gleichnamigen Schiffs an etwa 150 versklavten Menschen verübt wurde, um die Versicherung zu betrügen. Eine Gerichtsakte dokumentiert den Fall, in der „das unermessliche Rasen des Nichtgesagten“ eingeschlossen sei. Uljana Wolf beschreibt, wie Philip versucht, durch die Anordnung der Worte auf der weißen Seite, einen Atem-Raum zu schaffen, der den Toten der Zong, denen ihr Text gedenkt, verwehrt wurde.
Auch Wolfs Buch, wie das von Briggs, ragt in eine weiter reichende Debatte hinein: Am 20. September veröffentlichte M. NourbeSe Philip auf ihrer Facebook-Seite einen langen Text in dem sie ihre Anfang des Monats veröffentlichte Forderung erklärt, die italienische Übersetzung von Zong! zu vernichten. Der Hintergrund: Im Juni hatte der italienische Verlag Benway Series zwar rechtmäßig, aber von der Autorin unauthorisiert Zong! in der Übersetzung der Dichterin Renata Morresi veröffentlicht. So berichtet es Philip.
In dieser Konstellation und bei einem so komplizierten und existenziellen Projekt wie Zong! übergangen worden zu sein, ist das eine. Schwer wiegt für M. NourbeSe Philip aber vor allem, dass Morresi die Organisation des Textes verändert habe, ihm den Atem-Raum genommen hat. Morresi gab zudem zu, Zong! im Kontext der Migrationsdebatte in Italien zu sehen, also das Buch für europäische Zwecke zu instrumentalisieren.
„Form hilft dem Denken sich zu erinnern“, schreibt Wolf. „Nur so bleibt das Denken dringend.“ In ihrer Erklärung, warum sie Zong! nicht „einfach“ übersetzt habe, schreibt Wolf: Ihr stehe, wenn sie sich ihre Position als weiße Mitteleuropäerin bewusst mache, nicht das Recht zu, die Rituale der „zungenredenden Ahnenschrift“ Philips nachzuahmen. Mit anderen Worten: Es geht auch hier darum, sich in Beziehung zu setzen zum Text, zu seiner Sprache und den darin Sprechenden. Es gehe darum, einen Weg zu finden, „den Text sichtbar zu machen durch behutsames unübersetzen.“ – Das Gegenteil von Morresis Verfahren.
So, wie es leicht ist, nicht über das Übersetzen nachzudenken, so leicht wäre es, eine solche Genauigkeit für übertrieben zu halten. Ist sie das? – Wer seine Beziehungen zu Sprachen und literarischen Werken und ihren Übersetzungen so reflektiert wie Uljana Wolf, läuft nicht Gefahr, seine Deutungshoheit an der Kasse einer Buchhandlung verteidigen zu müssen. Wer so denkt, lernt wie Wolf mit Ilse Aichinger, dass Fehler dazu führen können, dass die „Sprache Falten schlägt, die zu neuen Falten führen“. Lernt, was es eigentlich heißt, die „beste“ Übersetzung zu finden: „Um das Beste zu sein, muss es brutal sein – gute Worte oder Sprachen sind nur gut, weil sie andere Worte ausgelöscht haben, eben jene ‚schwächeren Möglichkeiten’“.
Von Uljana Wolf wiederum kann man lernen, wie „gegendefinitorische Unterwanderungsarbeiten des nomadischen Denkens“ aussehen könnten. Und auch, dass „biografisch-nomadische Ereignisse“ sie nicht per se möglich machen. Beide, Kate Briggs und Uljana Wolf, befragen die Bedingungen der Sprach- und Subjektwerdung auf eine Weise, dass man plötzlich zuversichtlich meint: Es wäre gar nicht so schwierig, sich gemeinsam neu zu denken. Mit Ungenauigkeit, Subjektivismus oder Qualitätsverlusten hat das rein gar nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall, versteht man nach der Lektüre dieser beiden Bücher: „Let’s dance!“
Die beste Übersetzung ist immer
brutal, weil sie
andere Worte auslöscht
Die Bücher von Briggs und Wolf haben mit den vielen aktuellen Versuchen zu tun, Gesellschaft anders zu denken: Tim Etchells Installation „All we have is words, All we have is worlds“ in Athen, 2016.
Foto: picture alliance / NurPhoto
Kate Briggs:
This Little Art. Essay.
Aus dem Englischen von Sabine Voß. Ink Press, Zürich 2021.
368 Seiten, 23 Euro.
Uljana Wolf: Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Kookbooks
Verlag, Berlin 2021.
232 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Man vergisst oft, was es bedeutet, zu übersetzen. Kate Briggs und Uljana Wolf denken zum Glück
trotzdem darüber nach. Ihre Bücher gehören zu den großen Besonderheiten dieses Jahres
VON INSA WILKE
Als Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ Anfang des Jahres in deutscher Übersetzung erschien, machte sich die halbe Republik auf zu einem beliebten Gesellschaftsspiel: Finde die Fehler. Kaum jemand fragte damals, Anfang 2021, was man eigentlich verpasst, wenn man nur auf Fehlersuche durch diese oder andere Übersetzungen schnürt, ohne jedes weitere Erkenntnisinteresse, und welche Wahrheiten sich womöglich auch in Fehlern verbergen. Antworten auf diese Frage findet man in den Büchern der britischen Übersetzerin Kate Briggs und Uljana Wolf, einer der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Dichtung. Es geht um Texte, die vom Übersetzen handeln. Und so überraschend das klingen mag: Sie gehören ins Umfeld der Versuche, Gesellschaft anders zu denken.
„This Little Art“ ist in der deutschen Übersetzung von Sabine Voß im Independent Verlag INK Press erschienen, eine funkelnde, anregende Schrift zwischen Memoir und unterhaltendem literaturphilosophischen Essay, der Übersetzerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts würdigt. Es ist Kate Briggs’ erstes eigenes Buch. Die Engländerin lebt und unterrichtet in Rotterdam. Sie hat Texte von Michel Foucault und Roland Barthes ins Englische übersetzt. Für „This Little Art“ wurde sie in diesem Jahr mit dem Windham Campbell Prize ausgezeichnet, einem der weltweit höchst dotierten Literaturpreise.
2017 in London erschienen, bezieht sich Briggs natürlich noch nicht auf Gorman und die europäischen Debatten um gute Übersetzungen und verpasste Chancen. Uljana Wolf, die mit „Etymologischer Gossip“ für das andere literarische Ereignis der Saison gesorgt hat, weist im Hintergrundgespräch aber auf eine 2018/2019 geführte Auseinandersetzung um Briggs’ Buch hin, in der es um Machtstrukturen und Deutungshoheit in der US-amerikanischen Übersetzerszene ging. Weiß man darum, tritt noch deutlicher hervor, dass „This Little Art“ ein Essay ist, der weit über die Arbeit des Übersetzens hinausweist. Briggs plädiert für eine Lebenseinstellung, schlägt eigentlich eine Ethik des Arbeitens, Lesens und Lebens vor und zwar schon durch die Art, wie dieser Text geschrieben ist: als Einladung, einen anderen Blickwinkel als den der Wertung einzuüben.
Briggs schreibt nicht, möchte man meinen, sie tanzt. Sie denkt in der Schreibbewegung und das nicht allein, sondern mit einer Vielzahl anderer Stimmen ihres Metiers zusammen und sie macht das als Vorgang deutlich im Text, den sie klug zwischen zwei Polen organisiert: zum einen der Geschichte von Helen Lowe-Porters Diskreditierung, der ersten Thomas Mann-Übersetzerin ins Englische. Zum anderen dem eigenen Verhältnis zum späten Roland Barthes, mit dem sie sich das ganze Buch über unverhohlen im Zwiegespräch befindet, eine von vielen Liebesgeschichten, die „This Little Art“ auch erzählt.
Briggs Buch beginnt mit einer bestechenden Szene, die den Pakt zwischen Übersetzerin und Leserin nicht nur illustriert, sondern performativ auf den Kopf stellt: Wer eine Übersetzung liest, zum Beispiel die von „This Little Art“, erklärt sich einverstanden mit der Fiktion, „Kate Briggs“ und nicht „Sabine Voß“ zu lesen. Die Leserin überspringt das Moment der Differenz. Die Übersetzerin gebe die dienende „Kammerzofe“, stehe „Stirn an Stirn mit der Welt, der sie atemlos und bitterernst ins Gesicht sagt: Schau Welt, ich mache das nur für dich.“
Briggs fragt: „Läuft es so?“ Voß schreibt im Nachwort, Übersetzen bedeute, Gewissheiten aufzulösen. Briggs/Voß schreiben vom „rasenden Herzschlag“ der Übersetzerin bei der Arbeit. Sie schreiben mit Barthes vom Begehren, sich als Lesende in eine Schreibende zu verwandeln. Und sie schreiben vom Status eines übersetzten Textes, wenn er als solcher ins Bewusstsein der Kritikerin, der Leserin tritt: Der Ausruf „Dies ist eine Übersetzung!“ verändere die Leseweise, schaffe eine unhinterfragte zeitliche und hierarchische Beziehung zwischen Original und Übersetzung.
„Es ist leicht, nicht über das Übersetzen nachzudenken“, heißt ein Refrain in „This Little Art“. Das habe vor allem damit zu tun, wie Übersetzungen üblicherweise den Leserinnen und Lesern präsentiert werden. Im deutschsprachigen Raum sind es wenige Verlage wie mare, Guggolz und eben INK Press, die Übersetzerinnen und Übersetzer vorne auf den Umschlägen nennen. In Rezensionen wird ihre Leistung selten beschrieben. Briggs beklagt das aber weniger, sondern bemerkt, dass Übersetzerinnen offenkundig nicht als Subjekte mit einem Kontext existieren und gelesen werden. Was verpasst man dadurch?
Man verpasst eine epochale Möglichkeit. Das wird deutlich, wenn man Uljana Wolfs Buch „Etymologischer Gossip“ liest. Es versammelt Essays und Reden aus den letzten fünfzehn Jahren, die Wolf für diese Ausgabe überarbeitet und in ihrer Gesamtheit so komponiert hat, dass sich verschiedene Formen zu einem poetisch-ethischen Buch fügen, einer subtilen intellektuellen, ästhetischen und politischen Autobiografie, einem Vorschlag, anders zu denken und anders zu handeln. Von „Übersetzung als Widerstand“, schreibt Wolf in ihrem Buch und erklärt im Gespräch, beim literarischen Schreiben wie beim Übersetzen sei es nötig, „alle Sprachen der Welt im Kopf zu haben“, auch wenn man sie nicht spreche, um so „eine Art poetic of relation, eine Poetik der Beziehung zu praktizieren.“
Genau dieses Denken in Beziehungen, das sich auf die Philosophie von Édouard Glissant beruft, ist es, das man als Leser verpasst, wenn man sich nur damit aufhält, den „offensichtlichen Fehler aufzuspüren und zu untersuchen“, nicht aber „das Ganze“ zu beachten, wie Briggs Helen Lowe-Porter zitierend verlangt. Wer nur nach Fehlern sucht und dann triumphierend in der Buchhandlung steht, ist blind für dieses Ganze, für sich selbst im Gefüge der Beziehungen und die historischen und kulturellen Bedingungen einer Übersetzung. Eine „Übung in Zartgefühl“ nennt Briggs mit ihrem Kollegen David Horton ihre Vorstellung vom Lesen und Übersetzen im Gegensatz zu solcher Blindheit.
„Zartgefühl“ meine auch „die Kunst, nicht alle Gegenstände gleich zu behandeln“. Uljana Wolf praktiziert dieses Zartgefühl in ihrem Buch sehr viel strenger als Kate Briggs. Der Horizont ihrer Schreibweise und Lesart ist weiter und führt doch zu so spielerischen, aber eben auch sofort erhellenden Sätzen wie diesem: „Wiegenlieder sind Arbeitslieder am Schallrand der Sprache.“ „Etymologischer Gossip“ setzt eine Zäsur, was das Zusammendenken von Leben und Schreiben, von Ethik und Poetik angeht. Ein eigentlich kurzes, aber zentrales Kapitel ist Zong! gewidmet, einem 2008 von der karibisch-kanadischen Dichterin M. NourbeSe Philip veröffentlichtes Buch, das Wolf als einen „der einflussreichsten und bedeutendsten englischsprachigen Gedichtbände der letzten Jahre“ bezeichnet. Zong! lege Zeugnis ab von einem Massaker, das 1781 an Bord des gleichnamigen Schiffs an etwa 150 versklavten Menschen verübt wurde, um die Versicherung zu betrügen. Eine Gerichtsakte dokumentiert den Fall, in der „das unermessliche Rasen des Nichtgesagten“ eingeschlossen sei. Uljana Wolf beschreibt, wie Philip versucht, durch die Anordnung der Worte auf der weißen Seite, einen Atem-Raum zu schaffen, der den Toten der Zong, denen ihr Text gedenkt, verwehrt wurde.
Auch Wolfs Buch, wie das von Briggs, ragt in eine weiter reichende Debatte hinein: Am 20. September veröffentlichte M. NourbeSe Philip auf ihrer Facebook-Seite einen langen Text in dem sie ihre Anfang des Monats veröffentlichte Forderung erklärt, die italienische Übersetzung von Zong! zu vernichten. Der Hintergrund: Im Juni hatte der italienische Verlag Benway Series zwar rechtmäßig, aber von der Autorin unauthorisiert Zong! in der Übersetzung der Dichterin Renata Morresi veröffentlicht. So berichtet es Philip.
In dieser Konstellation und bei einem so komplizierten und existenziellen Projekt wie Zong! übergangen worden zu sein, ist das eine. Schwer wiegt für M. NourbeSe Philip aber vor allem, dass Morresi die Organisation des Textes verändert habe, ihm den Atem-Raum genommen hat. Morresi gab zudem zu, Zong! im Kontext der Migrationsdebatte in Italien zu sehen, also das Buch für europäische Zwecke zu instrumentalisieren.
„Form hilft dem Denken sich zu erinnern“, schreibt Wolf. „Nur so bleibt das Denken dringend.“ In ihrer Erklärung, warum sie Zong! nicht „einfach“ übersetzt habe, schreibt Wolf: Ihr stehe, wenn sie sich ihre Position als weiße Mitteleuropäerin bewusst mache, nicht das Recht zu, die Rituale der „zungenredenden Ahnenschrift“ Philips nachzuahmen. Mit anderen Worten: Es geht auch hier darum, sich in Beziehung zu setzen zum Text, zu seiner Sprache und den darin Sprechenden. Es gehe darum, einen Weg zu finden, „den Text sichtbar zu machen durch behutsames unübersetzen.“ – Das Gegenteil von Morresis Verfahren.
So, wie es leicht ist, nicht über das Übersetzen nachzudenken, so leicht wäre es, eine solche Genauigkeit für übertrieben zu halten. Ist sie das? – Wer seine Beziehungen zu Sprachen und literarischen Werken und ihren Übersetzungen so reflektiert wie Uljana Wolf, läuft nicht Gefahr, seine Deutungshoheit an der Kasse einer Buchhandlung verteidigen zu müssen. Wer so denkt, lernt wie Wolf mit Ilse Aichinger, dass Fehler dazu führen können, dass die „Sprache Falten schlägt, die zu neuen Falten führen“. Lernt, was es eigentlich heißt, die „beste“ Übersetzung zu finden: „Um das Beste zu sein, muss es brutal sein – gute Worte oder Sprachen sind nur gut, weil sie andere Worte ausgelöscht haben, eben jene ‚schwächeren Möglichkeiten’“.
Von Uljana Wolf wiederum kann man lernen, wie „gegendefinitorische Unterwanderungsarbeiten des nomadischen Denkens“ aussehen könnten. Und auch, dass „biografisch-nomadische Ereignisse“ sie nicht per se möglich machen. Beide, Kate Briggs und Uljana Wolf, befragen die Bedingungen der Sprach- und Subjektwerdung auf eine Weise, dass man plötzlich zuversichtlich meint: Es wäre gar nicht so schwierig, sich gemeinsam neu zu denken. Mit Ungenauigkeit, Subjektivismus oder Qualitätsverlusten hat das rein gar nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall, versteht man nach der Lektüre dieser beiden Bücher: „Let’s dance!“
Die beste Übersetzung ist immer
brutal, weil sie
andere Worte auslöscht
Die Bücher von Briggs und Wolf haben mit den vielen aktuellen Versuchen zu tun, Gesellschaft anders zu denken: Tim Etchells Installation „All we have is words, All we have is worlds“ in Athen, 2016.
Foto: picture alliance / NurPhoto
Kate Briggs:
This Little Art. Essay.
Aus dem Englischen von Sabine Voß. Ink Press, Zürich 2021.
368 Seiten, 23 Euro.
Uljana Wolf: Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Kookbooks
Verlag, Berlin 2021.
232 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de