Dieses Buch ist ein Experiment. Es unternimmt den Versuch, eine Geistesgeschichte der geistigen Beeinträchtigung zu schreiben, indem es die Debatten über den Wert behinderten Lebens nachzeichnet, wie sie in den letzten 150 Jahren geführt wurden. Abgrund dieser Epoche war ein schier unvorstellbares Massenmordprojekt, das eine komplexe Vorgeschichte hat und eine erstaunlich lange Nachgeschichte. Die Eugenik zu verlernen, hat sich in Deutschland als ein außerordentlich zäher Prozess erwiesen, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Dagmar Herzog schildert die immer wiederkehrenden Konflikte über die Deutung von Fakten und die daraus zu ziehenden praktischen Konsequenzen. In diesen sowohl politisch als auch emotional hoch aufgeladenen Auseinandersetzungen vermischten sich Konzepte aus Medizin und Pädagogik mit religiös-theologischen Vorstellungen, aber auch mit solchen über Arbeit und Sexualität, menschliche Verwundbarkeit und wechselseitige Abhängigkeit. Wie soll man über die Mitbürger:innen mit den unterschiedlichsten kognitiven Beeinträchtigungen und psychiatrischen Diagnosen denken und fühlen? Wie mit ihnen umgehen? Indem die Deutschen über diese Fragen stritten, rangen sie stets auch um ihr Selbstverständnis als Nation.
Dagmar Herzog schildert die immer wiederkehrenden Konflikte über die Deutung von Fakten und die daraus zu ziehenden praktischen Konsequenzen. In diesen sowohl politisch als auch emotional hoch aufgeladenen Auseinandersetzungen vermischten sich Konzepte aus Medizin und Pädagogik mit religiös-theologischen Vorstellungen, aber auch mit solchen über Arbeit und Sexualität, menschliche Verwundbarkeit und wechselseitige Abhängigkeit. Wie soll man über die Mitbürger:innen mit den unterschiedlichsten kognitiven Beeinträchtigungen und psychiatrischen Diagnosen denken und fühlen? Wie mit ihnen umgehen? Indem die Deutschen über diese Fragen stritten, rangen sie stets auch um ihr Selbstverständnis als Nation.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein wichtiges Buch, das schwer zu ertragen ist, hat Dagmar Herzog laut Rezensentin Regina Schidel geschrieben. Es widmet sich, erfahren wir, der Geschichte der deutschen Eugenik, wobei die systematischen Morde der Nationalsozialisten zwar im Zentrum der Argumentation stehen, jedoch nicht das alleinige Thema sind. Stattdessen zeichnet Herzog Schidel zufolge nach, wie bereits Ende des 19. Jahrhunderts menschliches Leben unter dem Aspekt der Nützlichkeit betrachtet wurde, weshalb Forderungen, unter anderem von Karl Binding und Alfred Hoche vorgebracht, nach Tötung vermeintlich unwerten Lebens in der Bevölkerung auf breiten Rückhalt stießen. Was die Behindertenmorde der Nazis angeht, wird im Buch, legt die Rezensentin dar, unter anderem die wenig erfreuliche Rolle der Kirchen thematisiert. Auch die äußerst schleppende Aufarbeitung der Euthanasie-Verbrechen findet im Buch Erwähnung, heißt es weiter, wobei Schidel der Ansicht ist, dass Herzog noch zu gnädig mit unserer Gegenwart ist. Der Autorin zufolge hat die Gesellschaft einiges gelernt im Umgang mit Behinderung. Die ansonsten von dem Buch sehr angetane Rezensentin hingegen verweist auf nach wie vor grassierende Behindertenfeindlichkeit, unter anderem mit Blick auf selektive Schwangerschaftsabbrüche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2024Wann wird ein Verbrechen eingesehen?
Den Euthanasiemorden der Nationalsozialisten fielen zwischen 1939 und 1945 an die 300.000 Menschen zum Opfer. Mehrheitlich handelte es sich um psychisch Kranke, geistig oder körperlich behinderte Insassen von Heil-und Pflegeanstalten, deren Leben als "lebensunwert" galt. Die unselige Karriere dieses Begriffs begann im Jahr 1920 mit der Veröffentlichung der Schrift "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens", verfasst von dem angesehenen Juristen Karl Binding und dem nicht minder namhaften Psychiater Alfred Hoche. Zwar gab es seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert immer wieder Versuche, Mordgedanken gegen behinderte Personen salonfähig zu machen und das christliche Fürsorgeleitbild zu durchbrechen. Doch erst der schmale Band des renommierten Autorenduos führte zu einer folgenschweren diskursiven Umorientierung und verankerte den Begriff des "lebensunwerten Lebens" im allgemeinen Sprachgebrauch und kollektiven Denken.
Dieser moralisch-politischen Destabilisierung widmet Dagmar Herzog eines der fünf Kapitel ihrer vielschichtigen Studie zur wechselvollen Geschichte der deutschen Debatte über den Wert des behinderten Lebens. Zudem rekonstruiert die in New York lehrende Historikerin die Vorgeschichte der titelgebenden "eugenischen Phantasmen", die im nationalsozialistischen Massenmord kulminierten, und zeigt, wie zählebig diese Ideologie in der Bundesrepublik nachwirkte. Rund 150 Jahre geraten hierbei in den Blick: angefangen bei der Herausbildung einer soliden Infrastruktur an karitativen Einrichtungen von 1870 an, die mit einer Klassifizierung und Hierarchisierung der unterschiedlichen Beeinträchtigungen (nach "Heilbarkeit" und "Brauchbarkeit") einherging, über die allmähliche Einbettung des Themas Behinderung in den "rassenhygienischen" Kontext bis hin zu den Selbstbestimmungs- und Inklusionspostulaten der Gegenwart. Dabei stellt Herzog immer wieder aufs Neue die Frage, welche zeithistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Gegebenheiten, Gruppendynamiken, Interessenlagen und Argumente zusammenkommen müssen, damit sich die Paradigmen einer gesamtgesellschaftlichen Debatte in die ein oder andere Richtung verkehren konnten.
Im Fall der diskursiven Neujustierung, die von Binding und Hoche in der Weimarer Republik angestoßen wurde, spielte neben der desolaten wirtschaftlichen Lage auch der gekränkte Nationalstolz nach dem Ersten Weltkrieg eine Rolle. Daher wurde die Öffentlichkeit besonders hellhörig, als die Pflege- und Heilanstalten von den beiden Autoren als enormer Kostenfaktor gegeißelt wurden. Auf Zustimmung stießen auch die sozialdarwinistischen Passagen, in denen Binding und Hoche es als "kontraselektiv" verdammten, dass die "unheilbar Blödsinnigen" über Jahrzehnte hinweg "künstlich großgepeppelt" wurden. Der Vorwurf richtete sich ausdrücklich ans christliche Lager, die Hauptinstanz der Behindertenfürsorge. Akribisch durchforstet Herzog die bisher kaum erforschten Schriften, in denen Pfarrer, Theologen und Heilpädagogen auf Binding und Hoche reagierten. In einigen dieser Stellungnahmen findet sich aufrechtes Entsetzen und scharfer Widerspruch. Aus anderen spricht Ambivalenz oder als Barmherzigkeit getarnte Befürwortung der Mordidee. So war der Hamburger Geistliche und Anstaltsdirektor Friedrich Lensch keineswegs der Einzige, der in rhetorischer Absicht die Frage aufwarf, "ob man nicht schon um der Kranken selbst willen sie von diesem Leben, dass doch kaum Leben genannt werden könne, befreien sollte".
Folgt man Herzog, grassierte bereits vor 1933 eine regelrechte "Theo-Biopolitik" unter tonangebenden Christen, von denen sich die meisten bemühten, dem eugenischen Diskurstrend zumindest auf halber Strecke entgegenzukommen. Symptomatisch für diese Kompromissbereitschaft war die "Treysaer Resolution". Ein programmatisches Dokument, das 1931 von führenden Vertretern des karitativen protestantischen Dachverbands "Innere Mission" verabschiedet wurde und als Alternative zum Massenmord an behinderten Menschen deren Sterilisation vorschlug, zunächst noch auf "freiwilliger" Basis. Als 1934 das nationalsozialistische Gesetz zur Zwangssterilisation in Kraft trat, gelangte dies in protestantischen Heimen mit konfessionstypischem Pflichteifer zur massenhaften Anwendung. Die katholische Seite äußerte offiziell Missbilligung, ließ die Eingriffe aber in ihren Einrichtungen dennoch zu. Ungefähr 400.000 als "erbkrank" eingestufte Menschen wurden bis 1945 zwangsweise unfruchtbar gemacht.
Die eugenischen Verbrechen des Dritten Reichs werden von Herzog nur knapp behandelt. Umso ausführlicher widmet sie sich der Frage, unter welchen Bedingungen ein Verbrechen überhaupt als solches erkannt und anerkannt wird. Denn damit hatte man es nach 1945 hierzulande ganz und gar nicht eilig, zumindest was die Leidtragenden des nationalsozialistischen Eugenikprogramms betraf. Gemäß dem westdeutschen Entschädigungsgesetz von 1956 wurden nämlich nur jene, die "aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung" verfolgt wurden, als Opfer des Dritten Reichs anerkannt. Und die eugenischen Massenmorde und Verstümmelungen wurden, so die heute unvorstellbare, damals aber offizielle Interpretation, aus keinem dieser Gründe begangen.
Dabei hatten die Nationalsozialisten und ihre Vordenker einst selbst unmissverständlich formuliert, dass die "Ballastexistenzen" beseitigt werden müssten, um aus den Deutschen endlich ein schönes, vitales, kluges, überlegenes Volk zu machen. Wenn Herzog diese affektive Verheißung des Dritten Reichs prägnant herausarbeitet, knüpft sie ausdrücklich an ihr originelles Buch zur nationalsozialistischen Sexualpolitik ("Die Politisierung der Lust", 2005) an. Die Erkenntnis, dass die NS-Eugenik integraler Bestandteil des NS-Rassismus war, dämmerte dem bundesrepublikanischen Bewusstsein erst nach 1980, als endlich auch die diskriminierende Erinnerungs- und Entschädigungspolitik korrigiert wurde.
In den letzten beiden Kapiteln, die sich dem Verlernen der Eugenik in Ost- und Westdeutschland kurz vor und nach der Wiedervereinigung widmen, würdigt Herzog die "radikalen Verfechter der Ententmenschlichung", die mit unterschiedlichsten Mitteln gegen die Abwertung des behinderten Daseins gekämpft haben: die Historikerin Gisela Bock, der Journalist Ernst Klee, der Psychiater Klaus Dörner, die Mitglieder der "Krüppelbewegung" und der Schriftsteller Franz Fühmann, der in der dezidiert antifaschistischen, antieugenischen DDR gegen die realexistierende Behindertenfeindlichkeit anschrieb.
Wenn Herzog im Nachwort nochmals die Errungenschaften dieser Aktivisten und Wissenschaftler für die aufmerksam gewordene Gegenwart rühmt, rundet sich ihre nüchtern-prägnante Diskursgeschichte zu einer moralischen Fortschrittserzählung, die nicht völlig frei von Pathos ist. Wem das zu optimistisch anmutet, der muss sich lediglich an die vorangegangenen Seiten erinnern, auf denen Herzog rekonstruiert hat, wie umstandslos Zivilisation in Barbarei kippt. MARIANNA LIEDER
Dagmar Herzog: "Eugenische Phantasmen". Eine deutsche Geschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
390 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Den Euthanasiemorden der Nationalsozialisten fielen zwischen 1939 und 1945 an die 300.000 Menschen zum Opfer. Mehrheitlich handelte es sich um psychisch Kranke, geistig oder körperlich behinderte Insassen von Heil-und Pflegeanstalten, deren Leben als "lebensunwert" galt. Die unselige Karriere dieses Begriffs begann im Jahr 1920 mit der Veröffentlichung der Schrift "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens", verfasst von dem angesehenen Juristen Karl Binding und dem nicht minder namhaften Psychiater Alfred Hoche. Zwar gab es seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert immer wieder Versuche, Mordgedanken gegen behinderte Personen salonfähig zu machen und das christliche Fürsorgeleitbild zu durchbrechen. Doch erst der schmale Band des renommierten Autorenduos führte zu einer folgenschweren diskursiven Umorientierung und verankerte den Begriff des "lebensunwerten Lebens" im allgemeinen Sprachgebrauch und kollektiven Denken.
Dieser moralisch-politischen Destabilisierung widmet Dagmar Herzog eines der fünf Kapitel ihrer vielschichtigen Studie zur wechselvollen Geschichte der deutschen Debatte über den Wert des behinderten Lebens. Zudem rekonstruiert die in New York lehrende Historikerin die Vorgeschichte der titelgebenden "eugenischen Phantasmen", die im nationalsozialistischen Massenmord kulminierten, und zeigt, wie zählebig diese Ideologie in der Bundesrepublik nachwirkte. Rund 150 Jahre geraten hierbei in den Blick: angefangen bei der Herausbildung einer soliden Infrastruktur an karitativen Einrichtungen von 1870 an, die mit einer Klassifizierung und Hierarchisierung der unterschiedlichen Beeinträchtigungen (nach "Heilbarkeit" und "Brauchbarkeit") einherging, über die allmähliche Einbettung des Themas Behinderung in den "rassenhygienischen" Kontext bis hin zu den Selbstbestimmungs- und Inklusionspostulaten der Gegenwart. Dabei stellt Herzog immer wieder aufs Neue die Frage, welche zeithistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Gegebenheiten, Gruppendynamiken, Interessenlagen und Argumente zusammenkommen müssen, damit sich die Paradigmen einer gesamtgesellschaftlichen Debatte in die ein oder andere Richtung verkehren konnten.
Im Fall der diskursiven Neujustierung, die von Binding und Hoche in der Weimarer Republik angestoßen wurde, spielte neben der desolaten wirtschaftlichen Lage auch der gekränkte Nationalstolz nach dem Ersten Weltkrieg eine Rolle. Daher wurde die Öffentlichkeit besonders hellhörig, als die Pflege- und Heilanstalten von den beiden Autoren als enormer Kostenfaktor gegeißelt wurden. Auf Zustimmung stießen auch die sozialdarwinistischen Passagen, in denen Binding und Hoche es als "kontraselektiv" verdammten, dass die "unheilbar Blödsinnigen" über Jahrzehnte hinweg "künstlich großgepeppelt" wurden. Der Vorwurf richtete sich ausdrücklich ans christliche Lager, die Hauptinstanz der Behindertenfürsorge. Akribisch durchforstet Herzog die bisher kaum erforschten Schriften, in denen Pfarrer, Theologen und Heilpädagogen auf Binding und Hoche reagierten. In einigen dieser Stellungnahmen findet sich aufrechtes Entsetzen und scharfer Widerspruch. Aus anderen spricht Ambivalenz oder als Barmherzigkeit getarnte Befürwortung der Mordidee. So war der Hamburger Geistliche und Anstaltsdirektor Friedrich Lensch keineswegs der Einzige, der in rhetorischer Absicht die Frage aufwarf, "ob man nicht schon um der Kranken selbst willen sie von diesem Leben, dass doch kaum Leben genannt werden könne, befreien sollte".
Folgt man Herzog, grassierte bereits vor 1933 eine regelrechte "Theo-Biopolitik" unter tonangebenden Christen, von denen sich die meisten bemühten, dem eugenischen Diskurstrend zumindest auf halber Strecke entgegenzukommen. Symptomatisch für diese Kompromissbereitschaft war die "Treysaer Resolution". Ein programmatisches Dokument, das 1931 von führenden Vertretern des karitativen protestantischen Dachverbands "Innere Mission" verabschiedet wurde und als Alternative zum Massenmord an behinderten Menschen deren Sterilisation vorschlug, zunächst noch auf "freiwilliger" Basis. Als 1934 das nationalsozialistische Gesetz zur Zwangssterilisation in Kraft trat, gelangte dies in protestantischen Heimen mit konfessionstypischem Pflichteifer zur massenhaften Anwendung. Die katholische Seite äußerte offiziell Missbilligung, ließ die Eingriffe aber in ihren Einrichtungen dennoch zu. Ungefähr 400.000 als "erbkrank" eingestufte Menschen wurden bis 1945 zwangsweise unfruchtbar gemacht.
Die eugenischen Verbrechen des Dritten Reichs werden von Herzog nur knapp behandelt. Umso ausführlicher widmet sie sich der Frage, unter welchen Bedingungen ein Verbrechen überhaupt als solches erkannt und anerkannt wird. Denn damit hatte man es nach 1945 hierzulande ganz und gar nicht eilig, zumindest was die Leidtragenden des nationalsozialistischen Eugenikprogramms betraf. Gemäß dem westdeutschen Entschädigungsgesetz von 1956 wurden nämlich nur jene, die "aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung" verfolgt wurden, als Opfer des Dritten Reichs anerkannt. Und die eugenischen Massenmorde und Verstümmelungen wurden, so die heute unvorstellbare, damals aber offizielle Interpretation, aus keinem dieser Gründe begangen.
Dabei hatten die Nationalsozialisten und ihre Vordenker einst selbst unmissverständlich formuliert, dass die "Ballastexistenzen" beseitigt werden müssten, um aus den Deutschen endlich ein schönes, vitales, kluges, überlegenes Volk zu machen. Wenn Herzog diese affektive Verheißung des Dritten Reichs prägnant herausarbeitet, knüpft sie ausdrücklich an ihr originelles Buch zur nationalsozialistischen Sexualpolitik ("Die Politisierung der Lust", 2005) an. Die Erkenntnis, dass die NS-Eugenik integraler Bestandteil des NS-Rassismus war, dämmerte dem bundesrepublikanischen Bewusstsein erst nach 1980, als endlich auch die diskriminierende Erinnerungs- und Entschädigungspolitik korrigiert wurde.
In den letzten beiden Kapiteln, die sich dem Verlernen der Eugenik in Ost- und Westdeutschland kurz vor und nach der Wiedervereinigung widmen, würdigt Herzog die "radikalen Verfechter der Ententmenschlichung", die mit unterschiedlichsten Mitteln gegen die Abwertung des behinderten Daseins gekämpft haben: die Historikerin Gisela Bock, der Journalist Ernst Klee, der Psychiater Klaus Dörner, die Mitglieder der "Krüppelbewegung" und der Schriftsteller Franz Fühmann, der in der dezidiert antifaschistischen, antieugenischen DDR gegen die realexistierende Behindertenfeindlichkeit anschrieb.
Wenn Herzog im Nachwort nochmals die Errungenschaften dieser Aktivisten und Wissenschaftler für die aufmerksam gewordene Gegenwart rühmt, rundet sich ihre nüchtern-prägnante Diskursgeschichte zu einer moralischen Fortschrittserzählung, die nicht völlig frei von Pathos ist. Wem das zu optimistisch anmutet, der muss sich lediglich an die vorangegangenen Seiten erinnern, auf denen Herzog rekonstruiert hat, wie umstandslos Zivilisation in Barbarei kippt. MARIANNA LIEDER
Dagmar Herzog: "Eugenische Phantasmen". Eine deutsche Geschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
390 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2024Die Mehrheit schwieg
In „Eugenische Phantasmen“ erzählt Dagmar Herzog die Geschichte des NS-Terrors gegen Menschen mit Behinderung – und die seiner bis heute unvollendeten Aufarbeitung.
Im Kant-Jahr ist es angezeigt, seine berühmteste Frage „Was ist Aufklärung?“ umzuformulieren. In: „Was ist Aufarbeitung?“ Der Inbegriff deutscher Geschichtspolitik ist zur Phrase verkümmert: Irgendwer begeht einen Fehler, Medien skandalisieren das, schon versprechen Verantwortliche, es werde „aufgearbeitet“, woraufhin wenig geschieht. Da kommt das neue Buch von Dagmar Herzog über die Aufarbeitung der Ermordung und die Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderung in der NS-Diktatur zur rechten Zeit. Denn die New Yorker Historikerin, bekannt durch Arbeiten zur modernen Sexual- und Gewaltgeschichte, zeigt mit dieser Fallgeschichte, was „Aufarbeitung“ wirklich heißt.
Diese muss nicht mehr bei null anfangen. Der NS-Terror gegen Menschen mit Behinderung ist umfassend erforscht, aber längst nicht in seiner vollen Bedeutung erfasst. Es bleibt eine intellektuelle und emotionale Herausforderung. Selbst wenn man die Geschichte zu kennen meint, stößt man an Grenzen des Verstehens und erlebt Momente der Fassungslosigkeit. Zugleich gilt es, differenziert zu urteilen. Es waren drei Gruppen, die sich der Arbeit für Menschen mit Behinderungen gewidmet haben: die Heil- und Sonderpädagogik, die Psychiatrie sowie die konfessionellen Wohlfahrtspflege.
Besonders bei letzterer kann Herzog abgründige Ambivalenzen aufzeigen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten christliche Aktivisten – man würde sie heute „evangelikal“ nennen – damit begonnen, sich um Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu kümmern. Sie taten es fromm-paternalistisch und doch mit einem neuartigen Sinn für die Würde dieser Menschen. So schrieb Matthias Sengelmann, der Gründer der Alsterdorfer Anstalten, 1886: „Wir haben es nicht mit ‚Fällen‘ zu thun, sondern mit Mitmenschen, in denen eine unsterbliche Seele wohnt, wenn auch eine verhüllte.“ Für sie dazu sein, sei ein „Privileg“, erklärte Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel.
Eine katastrophale Wende brachten der verlorene Erste Weltkrieg und die 1920 erschienene Schrift „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens“ des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche. Sie war ein Angriff auf die christliche Fürsorge, denn deren Ablehnung der „Sterbehilfe“ sei unbarmherzig und gefährde die verarmte Nation. Es folgten intensive Debatten, bei denen Protestanten ihr Engagement für Menschen mit Behinderung verteidigten (für Katholiken gab es hier nichts zu diskutieren). Aber sie drangen nicht durch. Schlimmer noch, sie gingen teilweise auf „eugenische“ Argumente der Gegenseite ein. Dies führte 1931 zu einer fatalen Entscheidung: Evangelische Träger lehnten die „Sterbehilfe“ ab, erklärten die freiwillige Sterilisation aber für erlaubt. Damit hatten sie eine abschüssige Ebene betreten. 1933 brach auch in der Heilpädagogik, der Psychiatrie sowie der konfessionellen Behindertenhilfe Begeisterung für die Diktatur aus. Bis zum Massenmord sollten noch einige Jahre vergehen. Aber wichtige Schritten waren getan. Da war die Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg, wie sich die Belegzahlen durch Aushungerung senken lassen. Behinderungen wurden hierarchisiert, Listen angelegt. Mit einem nach innen gewendeten Rassismus schuf man die ideologische Grundlage – und begann mit der massenhaften Zwangssterilisation, die Unversehrtheit von Menschen mit Behinderung anzugreifen.
Als von 1940 an die Mordaktionen begannen, war es zu spät. Es gab Versuche, Widerstand zu leisten: Briefe wurden geschrieben, Proteste eingelegt, Familien dazu gedrängt, ihre Angehörigen aus den Heimen zu holen, verzweifelte Rettungsversuche unternommen. Aber in einer „Mischung aus Willfährigkeit gegenüber und Sichanlegen mit dem Staat – und letztlich quälend unmöglichen Nichtentscheidungen“ konnten die konfessionellen Träger die ihnen Anvertrauten nicht schützen. Sie standen unter einem übermächtigen Druck, in Teilen kooperierten sie auch. Zu lange wurde dies von Justiz, Politik, Medien, Medizin, Pädagogik oder Kirchen nicht aufgearbeitet. Überhaupt gab es in der Gesellschaft kein Unrechtsbewusstsein. Es herrschte eine tief sitzende Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung. Einsame Stimmen forderten eine Anerkennung des Unrechts. Aber die Mehrheit schwieg oder verbreitete Widerstandlegenden, besonders in den Kirchen. Doch von den späten Siebzigern an forderte eine neue Generation Selbstkritik ein. Es begann ein harter Kampf. Aufarbeitung braucht Mut und langen Atem. Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen und verschiedenen, christlichen oder säkular-humanistischen, Prägungen verbündeten sich deshalb, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen. Betroffene selbst meldeten sich zu Wort. Es ist bewegend zu lesen, wie Herzog den Aktivistinnen und Aktivisten in West- und Ostdeutschland ein Denkmal setzt. Diese erreichten, dass der Massenmord erforscht wurde. Sie veränderten die praktische Arbeit von Grund auf: Integration sollte Segregation ablösen. Sie sorgten dafür, dass die Gesellschaft sich neu verständigte, was sich auch sprachlich auswirkte. Man macht sich gegenwärtig gern über „politisch korrekte“ Jargons lustig. Wer aber bei Herzog all diese grauenhaften historischen Zitate liest, erkennt, was für ein Zivilisationsgewinn darin liegt, wenn menschenwürdig über Menschen mit Behinderungen gesprochen wird.
Am Ende ihres intensiv recherchierten, bohrend nachdenklichen, leidenschaftlich fragenden Buches weist Herzog darauf hin, dass eine erfolgreiche Aufarbeitung keinen Anlass für Fortschrittsstolz bietet. Die Achtung der Menschenwürde war für Menschen mit Behinderungen nie selbstverständlich und bleibt gefährdet (die Stichworte „AfD“ und „Pflegenotstand“ mögen genügen). Sie muss täglich neu verteidigt und verwirklicht werden. Dabei hilft es, sich die beiden Seiten der Aufarbeitung vor Augen zu halten: das unstillbare Entsetzen über Versagen und Schuld sowie das dankbare Staunen über Mut und Kreativität.
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Ein intensiv
recherchiertes, bohrend
nachdenkliches Buch
Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen – Eine deutsche Geschichte. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 390 Seiten,
36 Euro.
Dagmar Herzog, geboren 1961, ist Expertin für moderne Sexual- und Gewaltgeschichte und Professorin an der New Yorker City University.
Foto: ICI
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Eugenische Phantasmen“ erzählt Dagmar Herzog die Geschichte des NS-Terrors gegen Menschen mit Behinderung – und die seiner bis heute unvollendeten Aufarbeitung.
Im Kant-Jahr ist es angezeigt, seine berühmteste Frage „Was ist Aufklärung?“ umzuformulieren. In: „Was ist Aufarbeitung?“ Der Inbegriff deutscher Geschichtspolitik ist zur Phrase verkümmert: Irgendwer begeht einen Fehler, Medien skandalisieren das, schon versprechen Verantwortliche, es werde „aufgearbeitet“, woraufhin wenig geschieht. Da kommt das neue Buch von Dagmar Herzog über die Aufarbeitung der Ermordung und die Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderung in der NS-Diktatur zur rechten Zeit. Denn die New Yorker Historikerin, bekannt durch Arbeiten zur modernen Sexual- und Gewaltgeschichte, zeigt mit dieser Fallgeschichte, was „Aufarbeitung“ wirklich heißt.
Diese muss nicht mehr bei null anfangen. Der NS-Terror gegen Menschen mit Behinderung ist umfassend erforscht, aber längst nicht in seiner vollen Bedeutung erfasst. Es bleibt eine intellektuelle und emotionale Herausforderung. Selbst wenn man die Geschichte zu kennen meint, stößt man an Grenzen des Verstehens und erlebt Momente der Fassungslosigkeit. Zugleich gilt es, differenziert zu urteilen. Es waren drei Gruppen, die sich der Arbeit für Menschen mit Behinderungen gewidmet haben: die Heil- und Sonderpädagogik, die Psychiatrie sowie die konfessionellen Wohlfahrtspflege.
Besonders bei letzterer kann Herzog abgründige Ambivalenzen aufzeigen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten christliche Aktivisten – man würde sie heute „evangelikal“ nennen – damit begonnen, sich um Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu kümmern. Sie taten es fromm-paternalistisch und doch mit einem neuartigen Sinn für die Würde dieser Menschen. So schrieb Matthias Sengelmann, der Gründer der Alsterdorfer Anstalten, 1886: „Wir haben es nicht mit ‚Fällen‘ zu thun, sondern mit Mitmenschen, in denen eine unsterbliche Seele wohnt, wenn auch eine verhüllte.“ Für sie dazu sein, sei ein „Privileg“, erklärte Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel.
Eine katastrophale Wende brachten der verlorene Erste Weltkrieg und die 1920 erschienene Schrift „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens“ des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche. Sie war ein Angriff auf die christliche Fürsorge, denn deren Ablehnung der „Sterbehilfe“ sei unbarmherzig und gefährde die verarmte Nation. Es folgten intensive Debatten, bei denen Protestanten ihr Engagement für Menschen mit Behinderung verteidigten (für Katholiken gab es hier nichts zu diskutieren). Aber sie drangen nicht durch. Schlimmer noch, sie gingen teilweise auf „eugenische“ Argumente der Gegenseite ein. Dies führte 1931 zu einer fatalen Entscheidung: Evangelische Träger lehnten die „Sterbehilfe“ ab, erklärten die freiwillige Sterilisation aber für erlaubt. Damit hatten sie eine abschüssige Ebene betreten. 1933 brach auch in der Heilpädagogik, der Psychiatrie sowie der konfessionellen Behindertenhilfe Begeisterung für die Diktatur aus. Bis zum Massenmord sollten noch einige Jahre vergehen. Aber wichtige Schritten waren getan. Da war die Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg, wie sich die Belegzahlen durch Aushungerung senken lassen. Behinderungen wurden hierarchisiert, Listen angelegt. Mit einem nach innen gewendeten Rassismus schuf man die ideologische Grundlage – und begann mit der massenhaften Zwangssterilisation, die Unversehrtheit von Menschen mit Behinderung anzugreifen.
Als von 1940 an die Mordaktionen begannen, war es zu spät. Es gab Versuche, Widerstand zu leisten: Briefe wurden geschrieben, Proteste eingelegt, Familien dazu gedrängt, ihre Angehörigen aus den Heimen zu holen, verzweifelte Rettungsversuche unternommen. Aber in einer „Mischung aus Willfährigkeit gegenüber und Sichanlegen mit dem Staat – und letztlich quälend unmöglichen Nichtentscheidungen“ konnten die konfessionellen Träger die ihnen Anvertrauten nicht schützen. Sie standen unter einem übermächtigen Druck, in Teilen kooperierten sie auch. Zu lange wurde dies von Justiz, Politik, Medien, Medizin, Pädagogik oder Kirchen nicht aufgearbeitet. Überhaupt gab es in der Gesellschaft kein Unrechtsbewusstsein. Es herrschte eine tief sitzende Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung. Einsame Stimmen forderten eine Anerkennung des Unrechts. Aber die Mehrheit schwieg oder verbreitete Widerstandlegenden, besonders in den Kirchen. Doch von den späten Siebzigern an forderte eine neue Generation Selbstkritik ein. Es begann ein harter Kampf. Aufarbeitung braucht Mut und langen Atem. Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen und verschiedenen, christlichen oder säkular-humanistischen, Prägungen verbündeten sich deshalb, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen. Betroffene selbst meldeten sich zu Wort. Es ist bewegend zu lesen, wie Herzog den Aktivistinnen und Aktivisten in West- und Ostdeutschland ein Denkmal setzt. Diese erreichten, dass der Massenmord erforscht wurde. Sie veränderten die praktische Arbeit von Grund auf: Integration sollte Segregation ablösen. Sie sorgten dafür, dass die Gesellschaft sich neu verständigte, was sich auch sprachlich auswirkte. Man macht sich gegenwärtig gern über „politisch korrekte“ Jargons lustig. Wer aber bei Herzog all diese grauenhaften historischen Zitate liest, erkennt, was für ein Zivilisationsgewinn darin liegt, wenn menschenwürdig über Menschen mit Behinderungen gesprochen wird.
Am Ende ihres intensiv recherchierten, bohrend nachdenklichen, leidenschaftlich fragenden Buches weist Herzog darauf hin, dass eine erfolgreiche Aufarbeitung keinen Anlass für Fortschrittsstolz bietet. Die Achtung der Menschenwürde war für Menschen mit Behinderungen nie selbstverständlich und bleibt gefährdet (die Stichworte „AfD“ und „Pflegenotstand“ mögen genügen). Sie muss täglich neu verteidigt und verwirklicht werden. Dabei hilft es, sich die beiden Seiten der Aufarbeitung vor Augen zu halten: das unstillbare Entsetzen über Versagen und Schuld sowie das dankbare Staunen über Mut und Kreativität.
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Ein intensiv
recherchiertes, bohrend
nachdenkliches Buch
Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen – Eine deutsche Geschichte. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 390 Seiten,
36 Euro.
Dagmar Herzog, geboren 1961, ist Expertin für moderne Sexual- und Gewaltgeschichte und Professorin an der New Yorker City University.
Foto: ICI
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»[Eine] brillante Studie ... Zum Verlernen eugenischer Phantasmen und einem Bekenntnis zu radikaler Gleichwertigkeit menschlicher Differenz bietet Dagmar Herzogs Buch und dessen Lektüre ... einen entscheidenden Schlüssel.« Regina Schidel wochentaz 20240920