Dieses Kind bleibt nicht unter dem Rock der Großmutter sitzen. Es will hinaus. Und doch ist die Stube der Ort der Geborgenheit, in der sich die Großeltern, Mutter und Kind aufhalten, in der gekocht und gegessen wird, in der man sich wäscht und zusammensitzt. »Wir leben arm, aber gesund«, sagt die Mutter. Doch was das Kind erlebt und beobachtet, ist reich. Da gibt es das Abendkränzchen der Großeltern, wo es die Erwachsenen belauschen kann. Da sind die Nachbarskinder, mit denen es durch die Wiesen und Wälder streift und durch den Ort. Da sind die Sozis, die Kommunisten und die Nazis, die sich bekämpfen. Und die Streifzüge mit der Großmutter zum Himbeer- und Blaubeerpflücken, zum Tannenzapfen- und Holzsammeln. In kurzen und ausdrucksstarken Bildern erzählt Hans Stilett aus seiner Kindheit: von der Freude, von der Neugier, vom Tod, von der Natur und Menschen. Er ruft damit eine Zeit in Erinnerung, die lang vorbei und doch in so vielen eigenen Erfahrungen eines jeden von uns noch aufgehoben ist. Ein wunderbares kleines Buch, das lange nachklingt.In kurzen und ausdrucksstarken Bildern erzählt Hans Stilett aus seiner Kindheit: von der Freude, von der Neugier, vom Tod, von der Natur und Menschen. Er ruft damit eine Zeit in Erinnerung, die lang vorbei und doch in so vielen eigenen Erfahrungen eines jeden von uns noch aufgehoben ist. Ein wunderbares kleines Buch, das lange nachklingt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit 91 Jahren beweist Hans Stilett, der sämtliche Essays von Michel de Montaigne brillant übersetzte, dass er auch ein wunderbarer und großer Erzähler ist, versichert Rezensent Hilmar Klute. In dem kleinen Prosaband "Eulenrod" liest der Kritiker kurze, aber zauberhaft erzählte Erinnerungen Stiletts an seine Kindheit in einer thüringischen Kleinstadt Anfang der Dreißiger Jahre, folgt den Naturträumereien des kleinen Jungen und erlebt Stilett bei seinen ersten Schwärmereien. Zugleich lobt der Rezensent das Vermögen des Autors, aus kindlicher Perspektive von politischen Unruhen, etwa den Prügeleien zwischen Kommunisten und Nazis zu berichten. Nach der Lektüre dieses "biografischen Mosaiks" fühlt sich Klute vom Erlebnishunger des Zehnjährigen angesteckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2013Von noch unverankerten Wörtern
Die Sprachen der Vögel und des Waldes: Hans Stiletts großartige Kindheitserinnerungen aus Thüringen
Deutlich und nüchtern aus der Perspektive des Abschieds beglückt uns Hans Stilett mit Erinnerungssplittern seiner Kindheit in Thüringen. Die kleinen, nur Einheimischen bekannten Orte umschließen die Momentaufnahmen aus einer Welt am Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu einem Rayon, der niemals verlassen wird. Wir tauchen ein in die Landschaft und in die Topographie eines lange Jahrzehnte schlummernden Tagtraums: Eulenrod.
Der Autor ist zurückgekehrt in die Augenblicke des Kindes, in die vielfältig hereinprasselnde vaterlose Welt, in der nur die Großmutter und die Mutter - diese verträumt und das "Schöne" liebend, jene von strenger "praktischer" Güte - dem Buben Geborgenheit geben können. An einem "Lebensroman" schreibt die Mutter, sie kann mit den Vögeln sprechen, beherrscht "Finkisch" und "Meisisch", nur dem schelmischen "Amselmiano" ist sie nicht gewachsen.
Mit leichter Hand überlagern sich die Bilder des Drinnen, die olfaktorischen und visuellen Sensationen allergrößter, intimer Nähe (zur Großmutter) mit den Bewegungen und Farben des Waldes, den Leuchtfeuern von Gewittern und den mühsamen Freuden der Beerenlese. In einem verblüffenden, schreckbannenden Bild erzählt Stilett "vom Gold der Blitze": "Ich greif mir Bleistift und Papier und renn ans linke Stubenfenster, um sie im Niedersausen zu packen, Blatt um Blatt."
Überwältigend, weil überwältigend genau ist das Konkrete und Unverwechselbare der einzelnen Momente. In dieser ebenso dinglichen wie sinnlichen Welt wird den stummen Gegenständen ebenso viel Platz eingeräumt wie den Reden der Menschen und den herumgeisternden, noch unverankerten Wörtern.
Auf kleinstem Raum finden sich zu Kürzestgeschichten verdichtet Episoden, wie jene vom Lumpensammler, von dem es heißt, er sei "vor den Bolschewisten geflohn" und der von der Mutter gebeten wird, dem Jungen Russisch beizubringen: "Mit schwarzen Nägeln setzt er komische Buchstaben aufs Papier. Wenn er sie ausspricht, knarrt seine Stimme derart, daß ich nichts versteh. Ratlos guckt er mich an. ,Es hat keinen Zweck', sagt meine Mutter traurig; die letzte Stunde bezahlt sie ihm doppelt."
Gespensterhaft tauchen die "Kommunisten" auf, wenig später die "Braunhemden" - diese Wörter springen durch den Text und stecken ineinander wie die Kegel im Fang-den-Hut-Spiel. Das Kind hat keine Erklärung dafür, nur eine gestische, akustische, bisweilen sehr hektische Erinnerung an sie. Die übrigen Erwachsenen bewegen sich ganz offenkundig anders. Allerschönstes Straßentheater, dem der Junge staunend beiwohnt, wenn bei einem Umzug der Kommunisten "Herr Distelmeier das Fenster aufmacht und schreit: ,Rot!' Die Marschierer antworten im Sprechchor: ,Front!'"
Nur durch die sinnierende Erinnerung voneinander geschieden sind die Ereignisse und Erscheinungen, die Namen und die Wörter. "Im Hinterhof ist der Birnbaum wieder bis zur Spitze erblüht, über Nacht." Das punctum dieses Satzes ist aus achtzigjähriger Distanz zum Geschehen dieses "wieder".
Hans Stilett sucht nicht Pointen, er hantiert nicht mit Anekdoten, die sich des Beifalls von vornherein gewiss sein können, sondern er setzt eine Fülle unverwechselbarer und beiläufig prägender Momente neu zusammen, nach einer schier endlosen Zeit der Ablagerung und Reifung. Die Lebenszeit selbst wird hier spürbar, die mit sanfter Macht dem Autor die Feder führt: "Meine Mutter war bei der Geburt so ,lebensschwach', sagt die Großmutter, ,daß die Hebamme mit einem Eimer zu Schusters Wiesen naufgerannt ist, um Tau zu sammeln'. Darin hat man sie gebadet."
Sehr sachte und doch unabweisbar stößt das Kind Hans immer wieder an den Rand seiner Welt - und verlässt sie für eine Atempause von eichendorffscher Levitation. So, wenn das schmächtige Kind im Wald wegen der drückenden Schwüle fast ohnmächtig und von der Preiselbeeren Suchenden in den Schatten einer Lichtung gezerrt wird: "In der Schwüle fang ich an zu dösen, schweb hinaus über den Wald, über die Wälder, über das weite Land der blinkenden Dörfer."
Oder wenn er, eine zinnenbewehrte Burg malend, an den Rand des Blattes gerät und nach dem Hinzufügen eines weiteren Blattes abermals an den Rand stößt - so lange bis das Unvermeidliche eintritt: "Wuchtig wachsen so die Mauern ins Breite, bis übern Tisch. Da laß ich die Burg einfach abstürzen."
Wie ein unbewusster Kommentar, ein Echo zu dem, was Winsor McCay vor 1914 mit dem erwachenden, noch von Träumen schweren Little Nemo als kindheitsrettende Serie ersonnen hat, kehrt für den kleinen Hans als Augenblick ungetrübten Glücks des Aufwachens wieder: "Wenn meine Mutter mich morgens weckt und merkt, daß ich aus den Träumen nicht rausfitz, sagt sie leise, fast erschrocken: ,Dussel noch bißl!' Und dann muß ich doch raus."
Eine äußerlich karge, aber in ihrer Freundlichkeit und Behutsamkeit reiche Welt lässt Hans Stilett vor uns auferstehen; in diesem Erwachen zur Welt werden die unveräußerlichen und immer wieder erneuerbaren Botenstoffe des Wunsches nach Glück bewahrt. Für uns, für das Glück des Lesers, hat er sie in diesem bewegenden großen Büchlein aufgerufen, festgehalten und überliefert.
HANNS ZISCHLER.
Hans Stilett: "Eulenrod". Biographisches Mosaik.
Kunstmann Verlag, München 2013. 107 S., geb., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Sprachen der Vögel und des Waldes: Hans Stiletts großartige Kindheitserinnerungen aus Thüringen
Deutlich und nüchtern aus der Perspektive des Abschieds beglückt uns Hans Stilett mit Erinnerungssplittern seiner Kindheit in Thüringen. Die kleinen, nur Einheimischen bekannten Orte umschließen die Momentaufnahmen aus einer Welt am Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu einem Rayon, der niemals verlassen wird. Wir tauchen ein in die Landschaft und in die Topographie eines lange Jahrzehnte schlummernden Tagtraums: Eulenrod.
Der Autor ist zurückgekehrt in die Augenblicke des Kindes, in die vielfältig hereinprasselnde vaterlose Welt, in der nur die Großmutter und die Mutter - diese verträumt und das "Schöne" liebend, jene von strenger "praktischer" Güte - dem Buben Geborgenheit geben können. An einem "Lebensroman" schreibt die Mutter, sie kann mit den Vögeln sprechen, beherrscht "Finkisch" und "Meisisch", nur dem schelmischen "Amselmiano" ist sie nicht gewachsen.
Mit leichter Hand überlagern sich die Bilder des Drinnen, die olfaktorischen und visuellen Sensationen allergrößter, intimer Nähe (zur Großmutter) mit den Bewegungen und Farben des Waldes, den Leuchtfeuern von Gewittern und den mühsamen Freuden der Beerenlese. In einem verblüffenden, schreckbannenden Bild erzählt Stilett "vom Gold der Blitze": "Ich greif mir Bleistift und Papier und renn ans linke Stubenfenster, um sie im Niedersausen zu packen, Blatt um Blatt."
Überwältigend, weil überwältigend genau ist das Konkrete und Unverwechselbare der einzelnen Momente. In dieser ebenso dinglichen wie sinnlichen Welt wird den stummen Gegenständen ebenso viel Platz eingeräumt wie den Reden der Menschen und den herumgeisternden, noch unverankerten Wörtern.
Auf kleinstem Raum finden sich zu Kürzestgeschichten verdichtet Episoden, wie jene vom Lumpensammler, von dem es heißt, er sei "vor den Bolschewisten geflohn" und der von der Mutter gebeten wird, dem Jungen Russisch beizubringen: "Mit schwarzen Nägeln setzt er komische Buchstaben aufs Papier. Wenn er sie ausspricht, knarrt seine Stimme derart, daß ich nichts versteh. Ratlos guckt er mich an. ,Es hat keinen Zweck', sagt meine Mutter traurig; die letzte Stunde bezahlt sie ihm doppelt."
Gespensterhaft tauchen die "Kommunisten" auf, wenig später die "Braunhemden" - diese Wörter springen durch den Text und stecken ineinander wie die Kegel im Fang-den-Hut-Spiel. Das Kind hat keine Erklärung dafür, nur eine gestische, akustische, bisweilen sehr hektische Erinnerung an sie. Die übrigen Erwachsenen bewegen sich ganz offenkundig anders. Allerschönstes Straßentheater, dem der Junge staunend beiwohnt, wenn bei einem Umzug der Kommunisten "Herr Distelmeier das Fenster aufmacht und schreit: ,Rot!' Die Marschierer antworten im Sprechchor: ,Front!'"
Nur durch die sinnierende Erinnerung voneinander geschieden sind die Ereignisse und Erscheinungen, die Namen und die Wörter. "Im Hinterhof ist der Birnbaum wieder bis zur Spitze erblüht, über Nacht." Das punctum dieses Satzes ist aus achtzigjähriger Distanz zum Geschehen dieses "wieder".
Hans Stilett sucht nicht Pointen, er hantiert nicht mit Anekdoten, die sich des Beifalls von vornherein gewiss sein können, sondern er setzt eine Fülle unverwechselbarer und beiläufig prägender Momente neu zusammen, nach einer schier endlosen Zeit der Ablagerung und Reifung. Die Lebenszeit selbst wird hier spürbar, die mit sanfter Macht dem Autor die Feder führt: "Meine Mutter war bei der Geburt so ,lebensschwach', sagt die Großmutter, ,daß die Hebamme mit einem Eimer zu Schusters Wiesen naufgerannt ist, um Tau zu sammeln'. Darin hat man sie gebadet."
Sehr sachte und doch unabweisbar stößt das Kind Hans immer wieder an den Rand seiner Welt - und verlässt sie für eine Atempause von eichendorffscher Levitation. So, wenn das schmächtige Kind im Wald wegen der drückenden Schwüle fast ohnmächtig und von der Preiselbeeren Suchenden in den Schatten einer Lichtung gezerrt wird: "In der Schwüle fang ich an zu dösen, schweb hinaus über den Wald, über die Wälder, über das weite Land der blinkenden Dörfer."
Oder wenn er, eine zinnenbewehrte Burg malend, an den Rand des Blattes gerät und nach dem Hinzufügen eines weiteren Blattes abermals an den Rand stößt - so lange bis das Unvermeidliche eintritt: "Wuchtig wachsen so die Mauern ins Breite, bis übern Tisch. Da laß ich die Burg einfach abstürzen."
Wie ein unbewusster Kommentar, ein Echo zu dem, was Winsor McCay vor 1914 mit dem erwachenden, noch von Träumen schweren Little Nemo als kindheitsrettende Serie ersonnen hat, kehrt für den kleinen Hans als Augenblick ungetrübten Glücks des Aufwachens wieder: "Wenn meine Mutter mich morgens weckt und merkt, daß ich aus den Träumen nicht rausfitz, sagt sie leise, fast erschrocken: ,Dussel noch bißl!' Und dann muß ich doch raus."
Eine äußerlich karge, aber in ihrer Freundlichkeit und Behutsamkeit reiche Welt lässt Hans Stilett vor uns auferstehen; in diesem Erwachen zur Welt werden die unveräußerlichen und immer wieder erneuerbaren Botenstoffe des Wunsches nach Glück bewahrt. Für uns, für das Glück des Lesers, hat er sie in diesem bewegenden großen Büchlein aufgerufen, festgehalten und überliefert.
HANNS ZISCHLER.
Hans Stilett: "Eulenrod". Biographisches Mosaik.
Kunstmann Verlag, München 2013. 107 S., geb., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main