Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2015Ein kurzer Rausch reinsten Glücks
In „Euphoria“ erzählt die US-amerikanische Schriftstellerin Lily King von drei Ethnologen und ihrer Begegnung mit dem
Stamm der Tam – der Roman wurde vom Leben der berühmten Anthropologin Margaret Mead inspiriert
VON ULRICH RÜDENAUER
Die Euphorie, erklärt die Anthropologin Nell Stone ihrem Kollegen Andrew Bankson, stelle sich nach ungefähr zwei Monaten ein. Dann habe man bei der Arbeit das Gefühl, „endlich den Zugang gefunden zu haben. Plötzlich erscheint alles ein Ganzes zu ergeben. Es ist purer Selbstbetrug – man ist ja erst seit acht Wochen da –, und was folgt, ist bodenlose Verzweiflung, weil sich nichts, aber auch gar nichts zusammenfügen will. Aber für diesen einen Augenblick meint man alles im Griff zu haben. Es ist ein ganz kurzer Rausch reinsten Glücks.“
Diesen Erfahrungstaumel möchte Lily King mit dem Titel ihres neuen Romans „Euphoria“ fassen, und er ist es, der die jungen Wissenschaftler ihres Buchs antreibt. Sie werden ihn noch einmal erleben, in einer intensiven, erkenntnisrauschhaften Nacht; die Verzweiflung aber begleitet sie stetig. Monate und Jahre bringen die Forscher im Regenwald Neuguineas unter indigenen Stämmen zu; sie erlernen ihre Sprache, studieren ihre Gebräuche, beobachten ihr Zusammenleben. Die Amerikanerin Nell Stone und ihr Mann Schuyler Fenwick, genannt Fen, kommen 1931 dorthin, als der Brite Bankson sich bereits am Fluss Sepik ein Revier für seine Studien gesichert hat. Er lebt bei den Kiona, einsam und seelisch ein wenig verwittert. Nell leidet unter Malaria-Schüben, sie ist erschöpft und betrübt, und als ihr Mann und sie schon entschieden sind, das Land Richtung Australien zu verlassen, kommt es zu einem folgenreichen Zusammentreffen mit Andrew Bankson. Die drei finden in mehrerlei Hinsicht zueinander: Bankson verhilft ihnen zu einem neuen Forschungsobjekt, dem Volk der Tam, und er fühlt sich durch die Begegnung belebt und auf obsessive Weise zu der jungen Wissenschaftlerin hingezogen. Lily King schildert feinsinnig die behutsame Annäherung zwischen Nell, Bankson und Fen, die Missverständnisse und Eitelkeiten, erotischen Verwicklungen und Zweifel. Es ist schön, wie die Autorin den Spieß umdreht und die Beobachter zu Beobachteten macht. Die Ethnologen selbst werden hier erforscht, in ihrer Leidenschaft, Wissensgier und Eifersucht.
Ihre Heldin Nell Stone hat King aus dem Geist von Margaret Mead geformt, die in den 1930er-Jahren der Superstar einer noch jungen Wissenschaft war. Die Anthropologin veröffentlichte 1928 unter den Fittichen ihres Lehrers Franz Boas die Arbeit „Coming of Age in Samoa“, eine Feldstudie, die Furore machte, weil sie nicht nur die Adoleszenz, die Riten und das Geschlechterverhältnis der Samoaner beschrieb, sondern ihre Darstellung provokativ der einengenden Moral westlicher Gesellschaften gegenüberstellte. Es war ein Kult- und Skandalbuch, das noch Jahre später von den Protagonisten der sexuellen Revolution als Bibel gehandelt wurde.
Nun sind zwischenzeitlich nicht wenige von Meads Thesen stark angezweifelt worden – das Schicksal eines jeden Forscherlebens. Ihre Bedeutung als Ikone der Wissenschaftsgeschichte und feministische Vordenkerin ist jedoch weiterhin unbestritten. Und ihr Leben ist so prall gefüllt mit abenteuerlichen Begebenheiten, dass sich gewiss ein Dutzend Romane darüber schreiben ließen.
Die 1962 geborene US-Amerikanerin Lily King hat für ihren vierten Roman eine Episode aus Margaret Meads Biografie herausgegriffen. Mead, ihr damaliger Ehemann Reo Fortune und Gregory Bateson, den sie später heiraten sollte, trafen 1933 für kurze Zeit am Sepik aufeinander. King macht einige Anleihen bei den Leben der drei Wissenschaftler: Nell Stone ist wie Mead eine selbstbewusste Frau, deren Erfolg ihren Mann demütigt. Reo Fortune erscheint wie Fen weniger als Wissenschaftler denn als Abenteurer: „Fen wollte die Eingeborenen nicht erforschen, er wollte selber einer sein. Sein Interesse war kein ontologisches. Der Reiz der Anthropologie lag für ihn nicht darin, die Geschichte der Menschheit zu ergründen, er lag darin, barfuß zu laufen, mit den Fingern zu essen und für alle hörbar zu furzen.“
Die detailreiche Beschreibung von Nells Arbeit, ihrer Annäherungen an die Frauen des Dorfes, ihrer Disziplin verdankt sich Berichten über Margaret Meads Studien. Der mit sich selbst hadernde Bankson entstammt wie Gregory Bateson einer englischen Forscherfamilie. King bedient sich zudem bei einigen Erkenntnissen, die Mead und ihre zeitweilige Geliebte Ruth Benedict – im Roman als Helen Benjamin firmierend – in den Dreißigerjahren von ihren Reisen mitgebracht haben. So lässt sie Nell Stone bei den Tam auf unbekannte Formen des Zusammenlebens stoßen, auf matriarchalische Strukturen, auf rituelle Handlungen, die sonst noch nie beobachtet wurden. Mit Mead teilt Nell ihren Humor und ihre Humanität; die Überheblichkeit anderer Anthropologen, die die abendländische Kultur als Krönung der Schöpfung betrachten, kennen Mead und ihre Romanschwester nicht. Es gehe um Menschen, nicht um Zoologie, heißt es einmal.
Aber nicht nur die beschriebenen Stämme in Kings Buch sind fiktiv, sondern auch die psychischen Verstrickungen der drei Protagonisten zumindest fiktionalisiert; das hier nicht verratene Romanende entfernt sich gänzlich von Margaret Meads Biografie. Kings Kunstfiguren emanzipieren sich nach und nach von der historischen Vorlage und werden in der facettenreichen, sinnlichen Erzählung zu dreidimensionalen Wesen. Zur Wirkung des Buches trägt nicht zuletzt bei, dass King den zwar stattlichen, aber doch fragil erscheinenden und mit einer tragischen Familiengeschichte geschlagenen Bankson im zweiten Kapitel zum Ich-Erzähler macht. Seine Skepsis und sein Begehren gestatten ihm umso aufmerksamere, nervös fiebrige Beobachtungen. Während Fen vollauf damit beschäftigt ist, seine Minderwertigkeitsgefühle durch den waghalsigen Diebstahl eines Kultobjekts zu kompensieren, kommen sich Nell und Bankson immer näher.
Wie Nell selbst das Beziehungsgeflecht entziffert und ihre Arbeit dennoch weiterverfolgt, können wir in ihren eingestreuten Tagebuchaufzeichnungen nachlesen – knappen Notizen, die einiges über ihr Verständnis der Ethnologie verraten. Einmal formuliert sie ein Prinzip ihrer Arbeit, das auf kuriose Weise auch auf Kings Roman zutrifft: „Man achtet viel stärker auf alles Übrige, wenn man keine Worte versteht. Sobald das Verstehen einsetzt, fällt so viel anderes weg. Man beginnt sich ganz auf die Worte zu verlassen, aber Worte sind eben nur bedingt verlässlich.“
Lily King betrachtet ihre Figuren beim Nicht-Verstehen und Suchen, und sie gestattet sich trotz der vielen wissenschaftshistorischen Anklänge beim Schreiben Offenheit und Neugier. So entsteht erzählerische Verlässlichkeit.
Lily King dreht den Spieß um,
sie beobachtet die Beobachter,
ihre Begierden und Zweifel
Margaret Mead, 1930 im American Museum of Natural History, New York. 1933 war die Anthropologin gemeinsam mit Reo Fortune und Gregory Bateson am Sepik-Fluss – diese Episode wird im Roman reflektiert.
Foto: Getty Images
Lily King: Euphoria. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Verlag C. H. Beck. München 2015. 262 Seiten. 19,95 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Euphoria“ erzählt die US-amerikanische Schriftstellerin Lily King von drei Ethnologen und ihrer Begegnung mit dem
Stamm der Tam – der Roman wurde vom Leben der berühmten Anthropologin Margaret Mead inspiriert
VON ULRICH RÜDENAUER
Die Euphorie, erklärt die Anthropologin Nell Stone ihrem Kollegen Andrew Bankson, stelle sich nach ungefähr zwei Monaten ein. Dann habe man bei der Arbeit das Gefühl, „endlich den Zugang gefunden zu haben. Plötzlich erscheint alles ein Ganzes zu ergeben. Es ist purer Selbstbetrug – man ist ja erst seit acht Wochen da –, und was folgt, ist bodenlose Verzweiflung, weil sich nichts, aber auch gar nichts zusammenfügen will. Aber für diesen einen Augenblick meint man alles im Griff zu haben. Es ist ein ganz kurzer Rausch reinsten Glücks.“
Diesen Erfahrungstaumel möchte Lily King mit dem Titel ihres neuen Romans „Euphoria“ fassen, und er ist es, der die jungen Wissenschaftler ihres Buchs antreibt. Sie werden ihn noch einmal erleben, in einer intensiven, erkenntnisrauschhaften Nacht; die Verzweiflung aber begleitet sie stetig. Monate und Jahre bringen die Forscher im Regenwald Neuguineas unter indigenen Stämmen zu; sie erlernen ihre Sprache, studieren ihre Gebräuche, beobachten ihr Zusammenleben. Die Amerikanerin Nell Stone und ihr Mann Schuyler Fenwick, genannt Fen, kommen 1931 dorthin, als der Brite Bankson sich bereits am Fluss Sepik ein Revier für seine Studien gesichert hat. Er lebt bei den Kiona, einsam und seelisch ein wenig verwittert. Nell leidet unter Malaria-Schüben, sie ist erschöpft und betrübt, und als ihr Mann und sie schon entschieden sind, das Land Richtung Australien zu verlassen, kommt es zu einem folgenreichen Zusammentreffen mit Andrew Bankson. Die drei finden in mehrerlei Hinsicht zueinander: Bankson verhilft ihnen zu einem neuen Forschungsobjekt, dem Volk der Tam, und er fühlt sich durch die Begegnung belebt und auf obsessive Weise zu der jungen Wissenschaftlerin hingezogen. Lily King schildert feinsinnig die behutsame Annäherung zwischen Nell, Bankson und Fen, die Missverständnisse und Eitelkeiten, erotischen Verwicklungen und Zweifel. Es ist schön, wie die Autorin den Spieß umdreht und die Beobachter zu Beobachteten macht. Die Ethnologen selbst werden hier erforscht, in ihrer Leidenschaft, Wissensgier und Eifersucht.
Ihre Heldin Nell Stone hat King aus dem Geist von Margaret Mead geformt, die in den 1930er-Jahren der Superstar einer noch jungen Wissenschaft war. Die Anthropologin veröffentlichte 1928 unter den Fittichen ihres Lehrers Franz Boas die Arbeit „Coming of Age in Samoa“, eine Feldstudie, die Furore machte, weil sie nicht nur die Adoleszenz, die Riten und das Geschlechterverhältnis der Samoaner beschrieb, sondern ihre Darstellung provokativ der einengenden Moral westlicher Gesellschaften gegenüberstellte. Es war ein Kult- und Skandalbuch, das noch Jahre später von den Protagonisten der sexuellen Revolution als Bibel gehandelt wurde.
Nun sind zwischenzeitlich nicht wenige von Meads Thesen stark angezweifelt worden – das Schicksal eines jeden Forscherlebens. Ihre Bedeutung als Ikone der Wissenschaftsgeschichte und feministische Vordenkerin ist jedoch weiterhin unbestritten. Und ihr Leben ist so prall gefüllt mit abenteuerlichen Begebenheiten, dass sich gewiss ein Dutzend Romane darüber schreiben ließen.
Die 1962 geborene US-Amerikanerin Lily King hat für ihren vierten Roman eine Episode aus Margaret Meads Biografie herausgegriffen. Mead, ihr damaliger Ehemann Reo Fortune und Gregory Bateson, den sie später heiraten sollte, trafen 1933 für kurze Zeit am Sepik aufeinander. King macht einige Anleihen bei den Leben der drei Wissenschaftler: Nell Stone ist wie Mead eine selbstbewusste Frau, deren Erfolg ihren Mann demütigt. Reo Fortune erscheint wie Fen weniger als Wissenschaftler denn als Abenteurer: „Fen wollte die Eingeborenen nicht erforschen, er wollte selber einer sein. Sein Interesse war kein ontologisches. Der Reiz der Anthropologie lag für ihn nicht darin, die Geschichte der Menschheit zu ergründen, er lag darin, barfuß zu laufen, mit den Fingern zu essen und für alle hörbar zu furzen.“
Die detailreiche Beschreibung von Nells Arbeit, ihrer Annäherungen an die Frauen des Dorfes, ihrer Disziplin verdankt sich Berichten über Margaret Meads Studien. Der mit sich selbst hadernde Bankson entstammt wie Gregory Bateson einer englischen Forscherfamilie. King bedient sich zudem bei einigen Erkenntnissen, die Mead und ihre zeitweilige Geliebte Ruth Benedict – im Roman als Helen Benjamin firmierend – in den Dreißigerjahren von ihren Reisen mitgebracht haben. So lässt sie Nell Stone bei den Tam auf unbekannte Formen des Zusammenlebens stoßen, auf matriarchalische Strukturen, auf rituelle Handlungen, die sonst noch nie beobachtet wurden. Mit Mead teilt Nell ihren Humor und ihre Humanität; die Überheblichkeit anderer Anthropologen, die die abendländische Kultur als Krönung der Schöpfung betrachten, kennen Mead und ihre Romanschwester nicht. Es gehe um Menschen, nicht um Zoologie, heißt es einmal.
Aber nicht nur die beschriebenen Stämme in Kings Buch sind fiktiv, sondern auch die psychischen Verstrickungen der drei Protagonisten zumindest fiktionalisiert; das hier nicht verratene Romanende entfernt sich gänzlich von Margaret Meads Biografie. Kings Kunstfiguren emanzipieren sich nach und nach von der historischen Vorlage und werden in der facettenreichen, sinnlichen Erzählung zu dreidimensionalen Wesen. Zur Wirkung des Buches trägt nicht zuletzt bei, dass King den zwar stattlichen, aber doch fragil erscheinenden und mit einer tragischen Familiengeschichte geschlagenen Bankson im zweiten Kapitel zum Ich-Erzähler macht. Seine Skepsis und sein Begehren gestatten ihm umso aufmerksamere, nervös fiebrige Beobachtungen. Während Fen vollauf damit beschäftigt ist, seine Minderwertigkeitsgefühle durch den waghalsigen Diebstahl eines Kultobjekts zu kompensieren, kommen sich Nell und Bankson immer näher.
Wie Nell selbst das Beziehungsgeflecht entziffert und ihre Arbeit dennoch weiterverfolgt, können wir in ihren eingestreuten Tagebuchaufzeichnungen nachlesen – knappen Notizen, die einiges über ihr Verständnis der Ethnologie verraten. Einmal formuliert sie ein Prinzip ihrer Arbeit, das auf kuriose Weise auch auf Kings Roman zutrifft: „Man achtet viel stärker auf alles Übrige, wenn man keine Worte versteht. Sobald das Verstehen einsetzt, fällt so viel anderes weg. Man beginnt sich ganz auf die Worte zu verlassen, aber Worte sind eben nur bedingt verlässlich.“
Lily King betrachtet ihre Figuren beim Nicht-Verstehen und Suchen, und sie gestattet sich trotz der vielen wissenschaftshistorischen Anklänge beim Schreiben Offenheit und Neugier. So entsteht erzählerische Verlässlichkeit.
Lily King dreht den Spieß um,
sie beobachtet die Beobachter,
ihre Begierden und Zweifel
Margaret Mead, 1930 im American Museum of Natural History, New York. 1933 war die Anthropologin gemeinsam mit Reo Fortune und Gregory Bateson am Sepik-Fluss – diese Episode wird im Roman reflektiert.
Foto: Getty Images
Lily King: Euphoria. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Verlag C. H. Beck. München 2015. 262 Seiten. 19,95 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2015Man sieht immer das, was man sucht
Einsam, zweisam, dreisam: Lily King verstrickt in "Euphoria" die Liebesgeschichte der Ethnologin Margaret Mead mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Roman in schwüler Atmosphäre.
Eine schwere tropische Hitze liegt über dem Roman von Lily King. Wächserne, tellergroße Blätter säumen den Sepik, einen Fluss im Norden Neuguineas. Im Jahr 1932 treffen dort drei junge Ethnologen aufeinander, und es verschlingen sich Wissenschaft und Leidenschaft wie üppige Gewächse in diesem in den Vereinigten Staaten hochgelobten Buch der bei uns bisher kaum übersetzten amerikanischen Autorin.
Lily King bewegt sich an den Grenzen des historischen Romans. Denn sie orientiert sich an einer realhistorischen Gestalt: der Ethnologen-Ikone Margaret Mead. Sie übernimmt jede Menge Fakten aus dem Leben der seit ihrer ersten Veröffentlichung "Coming of Age in Samoa" (1928) weltberühmten Wissenschaftlerin, löst dann aber die Fiktion so vollständig von der Biographie ihres Vorbildes, dass sie eine ganz eigene Wendung nimmt. Zunächst folgt die Geschichte allerdings verbürgten Tatsachen: Margaret Mead und ihr zweiter Ehemann, der australische Ethnologe Reo Fortune, suchten nach einem Jahr der Feldforschung bei einem friedlichen Hochlandstamm im Torricelligebirge und einer zehrenden Zeit bei den unzugänglichen Mundugumor eine neue Herausforderung. Sie begegneten dem ebenfalls in der Region forschenden Engländer Gregory Bateson und verbrachten die nächsten Monate gemeinsam.
Diese Monate gestaltet Lily King auf wirklich lesenswerte Weise: Sie imaginiert die ehelichen Spannungen durch die Konkurrenz und die unterschiedlichen Methoden der Forschenden sowie die tiefe Einsamkeit des Engländers, der nach einem misslungenen Selbstmordversuch die anderen in seiner Nähe halten will. Sie schildert die fieberhafte Suche nach einem neuen Stamm und Forschungsobjekt, das sie am fiktiven Tamsee mit einem kunstfertigen Volk finden. Für die Darstellung von deren Lebensweise und Riten muss die Autorin viel gelesen und recherchiert haben. Über all dem liegt der Sog der Dreisamkeit, der osmotische Austausch von Gefühlen und Ideen. Dabei ist die satt-feuchte Atmosphäre des Romans so stark, dass sie dessen leichte perspektivische Schwächen überdeckt: Über weite Strecken ist der junge Engländer der Ich-Erzähler. Tagebuchartige Notizen der Protagonistin und ein langer, trunkener Monolog ihres Ehemannes sind in den Gang der Handlung eingefügt, damit wir auch aus ihrer Sicht unmittelbare Eindrücke erhalten. Warum diese tragfähige Konstruktion durch Passagen ergänzt wird, in denen eine weitere, gar nicht motivierte Instanz erzählt, bleibt rätselhaft und unbefriedigend, ebenso wie die oftmals allzu große Deutlichkeit der Dialoge.
Auch die ist gar nicht nötig, denn die intellektuelle Dimension des Romans erschließt sich von ganz allein: Die Erforscher menschlichen Verhaltens werden selbst in ihrer ganzen hilflosen Menschlichkeit gezeigt. So wird anschaulich, wie sehr ihre wissenschaftlichen Interessen und Ergebnisse von ihrer Prägung und ihrem Temperament abhängig sind. "Ich fragte sie, ob sie meine, dass man eine fremde Kultur jemals restlos verstehen könne. Ich sagte, je länger ich hier sei, desto absurder erschiene mir der Versuch, und im Grund interessiere mich inzwischen weit mehr die Frage, wie wir überhaupt darauf kamen, uns irgendeine Objektivität anzumaßen, wo wir doch jeder unsere eigene Definition der Dinge mitbrächten, unsere eigene Auffassung von Güte, Stärke, Männlichkeit, Weiblichkeit, Gott, Zivilisation, Recht und Unrecht." Wissenschaft, das vermittelt uns Lily King, nicht nur die Ethnologie, unterliegt den Beschränkungen der menschlichen Einsichtsfähigkeit und ist immer an eine Perspektive gebunden. Beobachten und Erleben sind voneinander nicht zu trennen.
Zur Eigenart historischer Romane gehört es, mit der Gestaltung von etwas Vergangenem eine ganze Menge über die Gegenwart zu sagen, und so führt die Fiktionalisierung von Leben und Werk einer der ersten Ethnologinnen mitten hinein in aktuelle Debatten, ist der Roman von Lily King auch eine Auseinandersetzung mit kulturrelativistischen Positionen, für die Margaret Mead bis heute steht. Die drei Protagonisten lesen wie im Rausch das an Ruth Benedicts "Patterns of Culture" orientierte Manuskript einer Freundin und sind tief bewegt von der Idee der Eigenständigkeit und Unvergleichbarkeit aller Kulturen. Doch die zu Beginn der dreißiger Jahre revolutionäre, sich gegen den Kolonialismus und ein verbreitetes biologistisches Denken richtende Annahme, fremde kulturelle Phänomene könnten allein aus sich selbst heraus verstanden werden, versieht der Roman mit einem skeptischen Fragezeichen. Denn den Ethnologen gelingt es nicht, aus ihrer eigenen Weltsicht auszubrechen. Und die Forscherin kommt angesichts willkürlich getöteter Säuglinge an einen Punkt, an dem sie dies auch gar nicht will.
Bis heute gilt Margaret Mead als Wegbereiterin der sexuellen Revolution, als eine der ersten, die in ihrer Forschung nachzuweisen versuchte, dass Geschlechterrollen nicht immer und überall gleich und naturgegeben sind. In Lily Kings Roman beobachtet die junge Frau beim Stamm der Tam eine Rollenumkehr. Nach einigen Monaten darf sie teilhaben an einer verrauchten Zeremonie in der Hitze einer Hütte, in der entfesselte weibliche Körper ihre erotische Unabhängigkeit bezeugen. Sie sehe, was sie suche, wirft ihr Mann ihr vor. Ihrer beider Verstrickung in den Geschlechterkampf zeigt einmal mehr die unlösbare Verbindung von Leben und Theorie, die dieser sinnlich-suggestive und gedanklich anregende Roman beglaubigt. Dabei nehmen die Züge des Kampfes immer bedrohlichere Formen an. Jede Art von Zivilisation sei nur ein dünner Firnis, bemerkt der Ehemann, darunter lauere überall Barbarei und Gewalt - und eine Dunkelheit, die fortlebt in allen Reisen zum Unerforschlichen, die seit Joseph Conrad unternommen werden.
SANDRA KERSCHBAUMER.
Lily King: "Euphoria". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Roth. Verlag C. H. Beck, München 2015. 262 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einsam, zweisam, dreisam: Lily King verstrickt in "Euphoria" die Liebesgeschichte der Ethnologin Margaret Mead mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Roman in schwüler Atmosphäre.
Eine schwere tropische Hitze liegt über dem Roman von Lily King. Wächserne, tellergroße Blätter säumen den Sepik, einen Fluss im Norden Neuguineas. Im Jahr 1932 treffen dort drei junge Ethnologen aufeinander, und es verschlingen sich Wissenschaft und Leidenschaft wie üppige Gewächse in diesem in den Vereinigten Staaten hochgelobten Buch der bei uns bisher kaum übersetzten amerikanischen Autorin.
Lily King bewegt sich an den Grenzen des historischen Romans. Denn sie orientiert sich an einer realhistorischen Gestalt: der Ethnologen-Ikone Margaret Mead. Sie übernimmt jede Menge Fakten aus dem Leben der seit ihrer ersten Veröffentlichung "Coming of Age in Samoa" (1928) weltberühmten Wissenschaftlerin, löst dann aber die Fiktion so vollständig von der Biographie ihres Vorbildes, dass sie eine ganz eigene Wendung nimmt. Zunächst folgt die Geschichte allerdings verbürgten Tatsachen: Margaret Mead und ihr zweiter Ehemann, der australische Ethnologe Reo Fortune, suchten nach einem Jahr der Feldforschung bei einem friedlichen Hochlandstamm im Torricelligebirge und einer zehrenden Zeit bei den unzugänglichen Mundugumor eine neue Herausforderung. Sie begegneten dem ebenfalls in der Region forschenden Engländer Gregory Bateson und verbrachten die nächsten Monate gemeinsam.
Diese Monate gestaltet Lily King auf wirklich lesenswerte Weise: Sie imaginiert die ehelichen Spannungen durch die Konkurrenz und die unterschiedlichen Methoden der Forschenden sowie die tiefe Einsamkeit des Engländers, der nach einem misslungenen Selbstmordversuch die anderen in seiner Nähe halten will. Sie schildert die fieberhafte Suche nach einem neuen Stamm und Forschungsobjekt, das sie am fiktiven Tamsee mit einem kunstfertigen Volk finden. Für die Darstellung von deren Lebensweise und Riten muss die Autorin viel gelesen und recherchiert haben. Über all dem liegt der Sog der Dreisamkeit, der osmotische Austausch von Gefühlen und Ideen. Dabei ist die satt-feuchte Atmosphäre des Romans so stark, dass sie dessen leichte perspektivische Schwächen überdeckt: Über weite Strecken ist der junge Engländer der Ich-Erzähler. Tagebuchartige Notizen der Protagonistin und ein langer, trunkener Monolog ihres Ehemannes sind in den Gang der Handlung eingefügt, damit wir auch aus ihrer Sicht unmittelbare Eindrücke erhalten. Warum diese tragfähige Konstruktion durch Passagen ergänzt wird, in denen eine weitere, gar nicht motivierte Instanz erzählt, bleibt rätselhaft und unbefriedigend, ebenso wie die oftmals allzu große Deutlichkeit der Dialoge.
Auch die ist gar nicht nötig, denn die intellektuelle Dimension des Romans erschließt sich von ganz allein: Die Erforscher menschlichen Verhaltens werden selbst in ihrer ganzen hilflosen Menschlichkeit gezeigt. So wird anschaulich, wie sehr ihre wissenschaftlichen Interessen und Ergebnisse von ihrer Prägung und ihrem Temperament abhängig sind. "Ich fragte sie, ob sie meine, dass man eine fremde Kultur jemals restlos verstehen könne. Ich sagte, je länger ich hier sei, desto absurder erschiene mir der Versuch, und im Grund interessiere mich inzwischen weit mehr die Frage, wie wir überhaupt darauf kamen, uns irgendeine Objektivität anzumaßen, wo wir doch jeder unsere eigene Definition der Dinge mitbrächten, unsere eigene Auffassung von Güte, Stärke, Männlichkeit, Weiblichkeit, Gott, Zivilisation, Recht und Unrecht." Wissenschaft, das vermittelt uns Lily King, nicht nur die Ethnologie, unterliegt den Beschränkungen der menschlichen Einsichtsfähigkeit und ist immer an eine Perspektive gebunden. Beobachten und Erleben sind voneinander nicht zu trennen.
Zur Eigenart historischer Romane gehört es, mit der Gestaltung von etwas Vergangenem eine ganze Menge über die Gegenwart zu sagen, und so führt die Fiktionalisierung von Leben und Werk einer der ersten Ethnologinnen mitten hinein in aktuelle Debatten, ist der Roman von Lily King auch eine Auseinandersetzung mit kulturrelativistischen Positionen, für die Margaret Mead bis heute steht. Die drei Protagonisten lesen wie im Rausch das an Ruth Benedicts "Patterns of Culture" orientierte Manuskript einer Freundin und sind tief bewegt von der Idee der Eigenständigkeit und Unvergleichbarkeit aller Kulturen. Doch die zu Beginn der dreißiger Jahre revolutionäre, sich gegen den Kolonialismus und ein verbreitetes biologistisches Denken richtende Annahme, fremde kulturelle Phänomene könnten allein aus sich selbst heraus verstanden werden, versieht der Roman mit einem skeptischen Fragezeichen. Denn den Ethnologen gelingt es nicht, aus ihrer eigenen Weltsicht auszubrechen. Und die Forscherin kommt angesichts willkürlich getöteter Säuglinge an einen Punkt, an dem sie dies auch gar nicht will.
Bis heute gilt Margaret Mead als Wegbereiterin der sexuellen Revolution, als eine der ersten, die in ihrer Forschung nachzuweisen versuchte, dass Geschlechterrollen nicht immer und überall gleich und naturgegeben sind. In Lily Kings Roman beobachtet die junge Frau beim Stamm der Tam eine Rollenumkehr. Nach einigen Monaten darf sie teilhaben an einer verrauchten Zeremonie in der Hitze einer Hütte, in der entfesselte weibliche Körper ihre erotische Unabhängigkeit bezeugen. Sie sehe, was sie suche, wirft ihr Mann ihr vor. Ihrer beider Verstrickung in den Geschlechterkampf zeigt einmal mehr die unlösbare Verbindung von Leben und Theorie, die dieser sinnlich-suggestive und gedanklich anregende Roman beglaubigt. Dabei nehmen die Züge des Kampfes immer bedrohlichere Formen an. Jede Art von Zivilisation sei nur ein dünner Firnis, bemerkt der Ehemann, darunter lauere überall Barbarei und Gewalt - und eine Dunkelheit, die fortlebt in allen Reisen zum Unerforschlichen, die seit Joseph Conrad unternommen werden.
SANDRA KERSCHBAUMER.
Lily King: "Euphoria". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Roth. Verlag C. H. Beck, München 2015. 262 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main