Produktdetails
- Politik- und Gesellschaftsgeschichte Bd.48
- Verlag: Dietz, Bonn
- 1998.
- Seitenzahl: 1295
- Deutsch
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 1786g
- ISBN-13: 9783801240868
- ISBN-10: 380124086X
- Artikelnr.: 07380344
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.1998Die Internationale der Achtundvierziger
Nach der Epoche der Analyse hebt nun das Zeitalter der Synthese an: Die Revolution von 1848/49 als europäischer Umsturz
Die beiden ersten Jubiläumsjahre, in denen die deutschen Historiker auf die Revolution von 1848/49 zurückblicken konnten, standen unter keinem guten Stern. Ein halbes Jahrhundert später blieb die Revolution fast unbeachtet: Jedenfalls ist 1898 kein Buch erschienen, das heute noch nennenswert wäre. Der Konsens, daß die Bismarcksche Reichsgründung auf gloriose Weise die Anstrengungen der "Achtundvierziger" obsolet gemacht habe, erstickte jede wissenschaftliche Neugier. Und von den wenigen Veröffentlichungen, die hundert Jahre später, 1948, unter den denkbar ungünstigsten Umständen der unmittelbaren Nachkriegszeit erschienen, bleibt nur Rudolf Stadelmanns "Soziale und politische Geschichte der Revolution" als eine frische und gerechtere Deutung bestehen.
Jetzt aber, 150 Jahre nach der Revolution, präsentiert sich ein ganz anderes Bild. Eine Vielzahl von aufschlußreichen Darstellungen wirft von allen Seiten neues Licht auf das Revolutionsjahr. Nach den Pionierstudien von Dieter Langewiesche, Wolfram Siemann und anderen scheint die Zeit der Synthese und des Perspektivenwechsels gekommen zu sein.
Ein herausragendes Beispiel für diesen Anlauf zu einer bilanzierenden Neuinterpretation ist der voluminöse Band "Europa 1848", der von Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche so umsichtig vorbereitet und herausgegeben worden ist, daß er alle Aussicht hat, in den kommenden Jahren als "Handbuch" der Revolutionsforschung zu fungieren. Ebenso wie die gleichfalls neue Anthologie "Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849" von Dieter Langewiesche stellt er die europäische Revolutionsgeschichte in den Mittelpunkt.
Was ist das Neue, das Weiterführende an dieser Zwischenbilanz? Zunächst bedeutet die Überwindung des deutschen - wenn man so will: des germanozentrischen - Provinzialismus durch die Öffnung hin zu einer vergleichenden europäischen Geschichte einen entscheidenden Schritt nach vorn. Das ist zum einen ein Reflex der politischen Innovation, daß Europa seit vierzig Jahren zusammenwächst. Die meisten der bei den beiden Projekten kooperierenden fünfzig Historiker und Historikerinnen werden diesen veränderten Kontext vermutlich begrüßen, denn sage und schreibe 49 sind Kinder dieser "goldenen Jahre" von Westeuropa, ein einziger stammt aus Prag. Selbstverständlich argumentieren diese Autoren innerhalb des lebensgeschichtlichen Kontextes der politischen Renaissance Europas. Doch nur ein enges wissenssoziologisches Urteil würde sich damit zufriedengeben, diese geradezu banale Standortabhängigkeit der Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Europäischen Union zu konstatieren.
Darüber hinaus gibt es nämlich eine Fülle von wissenschaftsimmanenten Impulsen, die darauf hindrängen, die nationalgeschichtliche Enge zu überwinden und einen weiteren Erkenntnishorizont für den Vergleich historischer Phänomene zu gewinnen. So wird in den fünf Hauptabteilungen des "Handbuchs" (Ursachen, Zentren und Verlauf; Stadt und Land; Revolutionäre Politik und Politik in der Revolution; Gesellschaft im Umbau; Folgen) der europäische Schauplatz Schritt für Schritt ausgemessen. Auf diese Weise kommen die Entstehungs- und die Verlaufsgeschichte, die Schwerpunktbildung und die Reaktionsmuster, die übergreifenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den rund anderthalb Dutzend von der Revolution erschütterten Staaten mit eindrucksvoller Tiefenschärfe zur Geltung. Der Blick wandert nicht nur nach Preußen oder Baden, sondern durch Italien, Frankreich, Belgien, Holland, Skandinavien, die deutschen Staaten, Österreich und Ungarn bis in die Walachei. Außerdem wird erklärt, warum die Schweiz nach dem Sonderbundskrieg von 1847 und England nach dem pragmatisch klugen Entschärfen der chartistischen Verfassungsbewegung 1848 nicht noch einmal in die rote Gefahrenzone gerieten.
Der zweite Vorzug dieser Synthese besteht darin, daß der Pluralismus der Revolutionen klarer als zuvor hervortritt. Es geht nicht nur um die alte Einbahnstraße von den "März-Unruhen" zur Frankfurter Nationalversammlung und zu ihrem Scheitern. Vielmehr tritt eine Vielzahl von Bürgerkriegs- und Protestphänomenen hervor: in den Haupt- und Kleinstädten, auf dem flachen Land, in explosiven Regionen neben "Zonen der Stille", auf der Straße, im Rathaus, im Parlament, beim Barrikadenkampf, auf Volksversammlungen und Vereinstagen. Oft rückt die Erfahrungs- und Perzeptionsgeschichte dieses komplexen Protestverhaltens in den Mittelpunkt. Das entschiedenste Plädoyer für diesen generationsspezifischen Paradigmenwechsel findet sich im jetzt von Christian Jansen und Thomas Mergel herausgegebenen Band "Die Revolutionen von 1848/49" (Göttingen 1998). Der plakative Begriff "der" Revolution wird endlich einer realitätsnäheren Differenzierung unterworfen.
Überhaupt wird eine gerechtere Akzentuierung großgeschrieben. Die "Agrarrevolution", wie der konservative Publizist Hermann Wagener das Aufbegehren auf dem Lande damals treffend nannte, gewinnt einen hohen Stellenwert. Diese erschütterte nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Systeme, in denen noch immer rund 75 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebten, sondern sie besaß darüber hinaus auch eine geradezu strategische Bedeutung für den Revolutionsverlauf, denn in allen klassischen Revolutionen der politischen Neuzeit - von der Englischen und Amerikanischen über die Französische bis zur Russischen und Chinesischen Revolution - hing der Erfolg von der Revolutionierung der ländlichen Gesellschaft ab. Als die deutsche Agrarrevolution bis zum Sommer 1848 von den liberalen März-Regierungen und lernfähigen Konservativen abgefangen wurde, indem sie deren wesentliche Reformforderungen erfüllten, verlor die informelle Allianz der Revolutionskräfte erheblich an Durchschlagskraft.
Aufgewertet wird auch die Rolle des Militärs. Wie sich erneut zeigt, lohnt es sich, die Schwächen der Revolutionsbewegung von der Stärke der Gegenrevolution analytisch zu trennen. Langewiesche macht klar, wie wichtig während der Belastungsprobe des Bürgerkriegs die Loyalität und Einsatzfähigkeit der Streitkräfte bei der Niederwerfung der Revolution war - zuerst in Paris, dann in Prag, in Wien, Berlin, Baden, Oberitalien, Ungarn . . . Auch der innerdeutsche Vergleich gewinnt: Endlich wird die Privilegierung Preußens und Südwestdeutschlands überwunden, indem die Revolution in Sachsen, Hessen, Schleswig und kleinräumigen Regionen und im überschaubaren lokalen Kontext zur Kenntnis genommen wird.
In anderen Bereichen hält das "Handbuch" den Ertrag der jüngeren Forschung fest: Thematisiert werden die immense Mobilisierungskraft des politischen Vereinswesens (der "Centralmärzverein" als Unterstützungsorganisation der Revolution zählte im Herbst 1848 fast eine Million Mitglieder), die frühe Parteienbildung, die Proliferation der politischen Presse, der Bodengewinn für die Frauenemanzipation, die "erste Internationale" der gegenrevolutionären Monarchen und vieles mehr.
Außerdem wird auf dem Wege des Vergleiches über ein Erklärungsmodell debattiert, das die gemeineuropäischen Ursachen des fast synchronen Revolutionsausbruchs genauer erfassen kann. Die beiden Wirtschaftshistoriker Helge Berger und Mark Spoerer haben (in Langewiesches Sammelband) die Auswirkungen der schmerzhaften europäischen Agrar- und Gewerbekrisen zwischen 1845 und 1847/48 untersucht, ihren Befund statistisch abgesichert und zu einer These zugespitzt: In all den Ländern, die von dieser letzten großen "Krise alten Typs" heimgesucht wurden, die Gesellschaften eigen ist, in denen die Agrarpreise - und noch nicht der industrielle Konjunkturrhythmus - die Entwicklung bestimmten, kam es zur Revolution. Tatsächlich kam es nur in ihnen dazu, denn krisenfreie Länder erlebten den Bürgerkrieg nicht. Damit knüpfen die Autoren zwar an vertraute Deutungen von Karl Marx bis zu dem Göttinger Agrarhistoriker Wilhelm Abel an. Sie verleihen dem Verweis auf die ökonomischen Kausalfaktoren aber mehr Gewicht. Die Bedeutung von Marx oder Abel wird niemand leugnen, aber zwischen Wirtschaftsabschwung und Revolution fehlt bei ihnen das Zwischenglied der politischen Legitimationskrise.
Denn daß dem alten Regime nach zwei bitteren Jahren, in denen es auf Hungerkrawalle mit Dragonern reagierte, keine Bewältigung der pressierenden Probleme mehr zugetraut wurde, sein Vertrauenskredit mithin verbraucht war, das gab den Anlaß dafür, zum aktiven Protest überzugehen. Bergers und Spoerers auf einer pointierten Gewichtung beruhende These über die gemeineuropäischen Revolutionsursachen verdient daher eine sorgfältig vergleichende Erörterung.
Und die Folgen? Überall in Europa ist die Revolution gescheitert, jedenfalls sofern man sie an den Maximalzielen der Revolutionsbewegungen mißt. Ein deutscher National- und Verfassungsstaat kam nicht zustande, der Aderlaß durch Verfolgung und Auswanderung war schlimm. Aber direkt oder indirekt hat die Revolution doch auch viel erreicht, indem sie in den Herrschaftsallianzen Furcht auslöste oder pragmatische Kompromisse lehrte. Man denke nur an den Fundus der Reichsverfassung, die Gesellschafts- und Agrarreformen, die Strafrechtsnovellen, die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, den Schub sozialpolitischer Gesetze, die wirtschaftspolitischen Konzessionen. Diese positiven Ergebnisse im Gedächtnis zu halten und die Revolution nicht als rundum "gescheitert" zu stigmatisieren - auch an dieser Traditionskritik und Revision des historischen Urteils wirkt das "Handbuch" überzeugend mit. HANS-ULRICH WEHLER
Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt, Dieter Langewiesche (Hrsg.): "Europa 1848". Revolution und Reform. J. H. W. Dietz Verlag, Bonn 1998. 1296 S., Abb., geb., 124,- DM.
Dieter Langewiesche (Hrsg.): "Demokratiebewegung und Revolution 1847 - 1849". Internationale Aspekte und europäische Verbindungen. G. Braun Verlag, Karlsruhe 1998. 232 S., geb., 36,- DM.
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Nach der Epoche der Analyse hebt nun das Zeitalter der Synthese an: Die Revolution von 1848/49 als europäischer Umsturz
Die beiden ersten Jubiläumsjahre, in denen die deutschen Historiker auf die Revolution von 1848/49 zurückblicken konnten, standen unter keinem guten Stern. Ein halbes Jahrhundert später blieb die Revolution fast unbeachtet: Jedenfalls ist 1898 kein Buch erschienen, das heute noch nennenswert wäre. Der Konsens, daß die Bismarcksche Reichsgründung auf gloriose Weise die Anstrengungen der "Achtundvierziger" obsolet gemacht habe, erstickte jede wissenschaftliche Neugier. Und von den wenigen Veröffentlichungen, die hundert Jahre später, 1948, unter den denkbar ungünstigsten Umständen der unmittelbaren Nachkriegszeit erschienen, bleibt nur Rudolf Stadelmanns "Soziale und politische Geschichte der Revolution" als eine frische und gerechtere Deutung bestehen.
Jetzt aber, 150 Jahre nach der Revolution, präsentiert sich ein ganz anderes Bild. Eine Vielzahl von aufschlußreichen Darstellungen wirft von allen Seiten neues Licht auf das Revolutionsjahr. Nach den Pionierstudien von Dieter Langewiesche, Wolfram Siemann und anderen scheint die Zeit der Synthese und des Perspektivenwechsels gekommen zu sein.
Ein herausragendes Beispiel für diesen Anlauf zu einer bilanzierenden Neuinterpretation ist der voluminöse Band "Europa 1848", der von Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche so umsichtig vorbereitet und herausgegeben worden ist, daß er alle Aussicht hat, in den kommenden Jahren als "Handbuch" der Revolutionsforschung zu fungieren. Ebenso wie die gleichfalls neue Anthologie "Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849" von Dieter Langewiesche stellt er die europäische Revolutionsgeschichte in den Mittelpunkt.
Was ist das Neue, das Weiterführende an dieser Zwischenbilanz? Zunächst bedeutet die Überwindung des deutschen - wenn man so will: des germanozentrischen - Provinzialismus durch die Öffnung hin zu einer vergleichenden europäischen Geschichte einen entscheidenden Schritt nach vorn. Das ist zum einen ein Reflex der politischen Innovation, daß Europa seit vierzig Jahren zusammenwächst. Die meisten der bei den beiden Projekten kooperierenden fünfzig Historiker und Historikerinnen werden diesen veränderten Kontext vermutlich begrüßen, denn sage und schreibe 49 sind Kinder dieser "goldenen Jahre" von Westeuropa, ein einziger stammt aus Prag. Selbstverständlich argumentieren diese Autoren innerhalb des lebensgeschichtlichen Kontextes der politischen Renaissance Europas. Doch nur ein enges wissenssoziologisches Urteil würde sich damit zufriedengeben, diese geradezu banale Standortabhängigkeit der Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Europäischen Union zu konstatieren.
Darüber hinaus gibt es nämlich eine Fülle von wissenschaftsimmanenten Impulsen, die darauf hindrängen, die nationalgeschichtliche Enge zu überwinden und einen weiteren Erkenntnishorizont für den Vergleich historischer Phänomene zu gewinnen. So wird in den fünf Hauptabteilungen des "Handbuchs" (Ursachen, Zentren und Verlauf; Stadt und Land; Revolutionäre Politik und Politik in der Revolution; Gesellschaft im Umbau; Folgen) der europäische Schauplatz Schritt für Schritt ausgemessen. Auf diese Weise kommen die Entstehungs- und die Verlaufsgeschichte, die Schwerpunktbildung und die Reaktionsmuster, die übergreifenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den rund anderthalb Dutzend von der Revolution erschütterten Staaten mit eindrucksvoller Tiefenschärfe zur Geltung. Der Blick wandert nicht nur nach Preußen oder Baden, sondern durch Italien, Frankreich, Belgien, Holland, Skandinavien, die deutschen Staaten, Österreich und Ungarn bis in die Walachei. Außerdem wird erklärt, warum die Schweiz nach dem Sonderbundskrieg von 1847 und England nach dem pragmatisch klugen Entschärfen der chartistischen Verfassungsbewegung 1848 nicht noch einmal in die rote Gefahrenzone gerieten.
Der zweite Vorzug dieser Synthese besteht darin, daß der Pluralismus der Revolutionen klarer als zuvor hervortritt. Es geht nicht nur um die alte Einbahnstraße von den "März-Unruhen" zur Frankfurter Nationalversammlung und zu ihrem Scheitern. Vielmehr tritt eine Vielzahl von Bürgerkriegs- und Protestphänomenen hervor: in den Haupt- und Kleinstädten, auf dem flachen Land, in explosiven Regionen neben "Zonen der Stille", auf der Straße, im Rathaus, im Parlament, beim Barrikadenkampf, auf Volksversammlungen und Vereinstagen. Oft rückt die Erfahrungs- und Perzeptionsgeschichte dieses komplexen Protestverhaltens in den Mittelpunkt. Das entschiedenste Plädoyer für diesen generationsspezifischen Paradigmenwechsel findet sich im jetzt von Christian Jansen und Thomas Mergel herausgegebenen Band "Die Revolutionen von 1848/49" (Göttingen 1998). Der plakative Begriff "der" Revolution wird endlich einer realitätsnäheren Differenzierung unterworfen.
Überhaupt wird eine gerechtere Akzentuierung großgeschrieben. Die "Agrarrevolution", wie der konservative Publizist Hermann Wagener das Aufbegehren auf dem Lande damals treffend nannte, gewinnt einen hohen Stellenwert. Diese erschütterte nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Systeme, in denen noch immer rund 75 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebten, sondern sie besaß darüber hinaus auch eine geradezu strategische Bedeutung für den Revolutionsverlauf, denn in allen klassischen Revolutionen der politischen Neuzeit - von der Englischen und Amerikanischen über die Französische bis zur Russischen und Chinesischen Revolution - hing der Erfolg von der Revolutionierung der ländlichen Gesellschaft ab. Als die deutsche Agrarrevolution bis zum Sommer 1848 von den liberalen März-Regierungen und lernfähigen Konservativen abgefangen wurde, indem sie deren wesentliche Reformforderungen erfüllten, verlor die informelle Allianz der Revolutionskräfte erheblich an Durchschlagskraft.
Aufgewertet wird auch die Rolle des Militärs. Wie sich erneut zeigt, lohnt es sich, die Schwächen der Revolutionsbewegung von der Stärke der Gegenrevolution analytisch zu trennen. Langewiesche macht klar, wie wichtig während der Belastungsprobe des Bürgerkriegs die Loyalität und Einsatzfähigkeit der Streitkräfte bei der Niederwerfung der Revolution war - zuerst in Paris, dann in Prag, in Wien, Berlin, Baden, Oberitalien, Ungarn . . . Auch der innerdeutsche Vergleich gewinnt: Endlich wird die Privilegierung Preußens und Südwestdeutschlands überwunden, indem die Revolution in Sachsen, Hessen, Schleswig und kleinräumigen Regionen und im überschaubaren lokalen Kontext zur Kenntnis genommen wird.
In anderen Bereichen hält das "Handbuch" den Ertrag der jüngeren Forschung fest: Thematisiert werden die immense Mobilisierungskraft des politischen Vereinswesens (der "Centralmärzverein" als Unterstützungsorganisation der Revolution zählte im Herbst 1848 fast eine Million Mitglieder), die frühe Parteienbildung, die Proliferation der politischen Presse, der Bodengewinn für die Frauenemanzipation, die "erste Internationale" der gegenrevolutionären Monarchen und vieles mehr.
Außerdem wird auf dem Wege des Vergleiches über ein Erklärungsmodell debattiert, das die gemeineuropäischen Ursachen des fast synchronen Revolutionsausbruchs genauer erfassen kann. Die beiden Wirtschaftshistoriker Helge Berger und Mark Spoerer haben (in Langewiesches Sammelband) die Auswirkungen der schmerzhaften europäischen Agrar- und Gewerbekrisen zwischen 1845 und 1847/48 untersucht, ihren Befund statistisch abgesichert und zu einer These zugespitzt: In all den Ländern, die von dieser letzten großen "Krise alten Typs" heimgesucht wurden, die Gesellschaften eigen ist, in denen die Agrarpreise - und noch nicht der industrielle Konjunkturrhythmus - die Entwicklung bestimmten, kam es zur Revolution. Tatsächlich kam es nur in ihnen dazu, denn krisenfreie Länder erlebten den Bürgerkrieg nicht. Damit knüpfen die Autoren zwar an vertraute Deutungen von Karl Marx bis zu dem Göttinger Agrarhistoriker Wilhelm Abel an. Sie verleihen dem Verweis auf die ökonomischen Kausalfaktoren aber mehr Gewicht. Die Bedeutung von Marx oder Abel wird niemand leugnen, aber zwischen Wirtschaftsabschwung und Revolution fehlt bei ihnen das Zwischenglied der politischen Legitimationskrise.
Denn daß dem alten Regime nach zwei bitteren Jahren, in denen es auf Hungerkrawalle mit Dragonern reagierte, keine Bewältigung der pressierenden Probleme mehr zugetraut wurde, sein Vertrauenskredit mithin verbraucht war, das gab den Anlaß dafür, zum aktiven Protest überzugehen. Bergers und Spoerers auf einer pointierten Gewichtung beruhende These über die gemeineuropäischen Revolutionsursachen verdient daher eine sorgfältig vergleichende Erörterung.
Und die Folgen? Überall in Europa ist die Revolution gescheitert, jedenfalls sofern man sie an den Maximalzielen der Revolutionsbewegungen mißt. Ein deutscher National- und Verfassungsstaat kam nicht zustande, der Aderlaß durch Verfolgung und Auswanderung war schlimm. Aber direkt oder indirekt hat die Revolution doch auch viel erreicht, indem sie in den Herrschaftsallianzen Furcht auslöste oder pragmatische Kompromisse lehrte. Man denke nur an den Fundus der Reichsverfassung, die Gesellschafts- und Agrarreformen, die Strafrechtsnovellen, die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, den Schub sozialpolitischer Gesetze, die wirtschaftspolitischen Konzessionen. Diese positiven Ergebnisse im Gedächtnis zu halten und die Revolution nicht als rundum "gescheitert" zu stigmatisieren - auch an dieser Traditionskritik und Revision des historischen Urteils wirkt das "Handbuch" überzeugend mit. HANS-ULRICH WEHLER
Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt, Dieter Langewiesche (Hrsg.): "Europa 1848". Revolution und Reform. J. H. W. Dietz Verlag, Bonn 1998. 1296 S., Abb., geb., 124,- DM.
Dieter Langewiesche (Hrsg.): "Demokratiebewegung und Revolution 1847 - 1849". Internationale Aspekte und europäische Verbindungen. G. Braun Verlag, Karlsruhe 1998. 232 S., geb., 36,- DM.
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