Europäische Eliten - wer sind sie? Kulturpolitische Ambitionen der Europäischen Union einerseits, gelebter Alltag in EU-Europa andererseits - am Collège d'Europe (Europakolleg) berühren sich diese Sphären seit 1948. Studierende bereiten sich hier auf eine Tätigkeit in den EU-Institutionen in Brüssel vor. Die zukünftigen Experten der Europäisierung sind transnational bewandert und machen sich am Europakolleg die kulturellen und sozialen Codes des EU-Machtfelds zu eigen. Wird hier der »Homo Europaeus« geschaffen?
Auf der Grundlage von Interviews und mehrmonatiger Feldforschung vor Ort zeichnet dieses Buch ein detailliertes Bild des Internats- und Studienalltags und der Entstehung des spezifischen EU-Habitus.
Auf der Grundlage von Interviews und mehrmonatiger Feldforschung vor Ort zeichnet dieses Buch ein detailliertes Bild des Internats- und Studienalltags und der Entstehung des spezifischen EU-Habitus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2009Professionelle Europäer
Im Herbst 1949 kamen 23 Studierende in die alte flämische Hansestadt Brügge, um an einem dreiwöchigen Vorbereitungskurs des eben gegründeten Europakollegs teilzunehmen. Die "Session Préparatoire" war Generalprobe für das erste reguläre Studienjahr 1950 bis 1951, in dem sich junge europäische Universitätsabsolventen mit dem "europäischen Problem in seiner Gesamtheit" auseinandersetzen sollten, in einer Art Studium generale.
Unterrichtet wurden "historische und geographische Grundlagen", die soziale und wirtschaftliche Lage sowie "technische" Aspekte - nämlich rechtliche und institutionelle Voraussetzungen eines Prozesses europäischer Integration, der Anfang der fünfziger Jahre noch mehr Agenda als Realität schien. Noch vor Unterzeichnung des Vertrags zur Gründung der Montanunion wurden in Brügge Akteure künftiger europäischer Institutionen ausgebildet.
In einer ungemein spannenden, klugen und aufschlussreichen Studie zur europäischen Elitenbildung zeigt die Berliner Ethnologin Kerstin Poehls, dass die am Europakolleg lebenden und studierenden künftigen Europa-Experten auch heute noch den Realitäten immer einen Schritt voraus sind ("Europa backstage". Expertenwissen, Habitus und kulturelle Codes im Machtfeld der EU. transcript Verlag, Bielefeld 2009. 272 S., br., 28,80 [Euro]). Wer in Brügge studiert und lehrt, webt mit an einem Narrativ, dessen Teil er selbst wird - an der großen Fortschrittserzählung der europäischen Integration.
Die Geschichte des Kollegs beginnt im Mai 1948 auf dem Haager Kongress, wo unter dem Vorsitz des exilierten spanischen Diplomaten und Schriftstellers Salvador de Madariaga über eine "europäische Universität" diskutiert wird. Gemeinsam mit zwei anderen Vordenkern der Europäischen Bewegung, dem niederländischen Romanisten und Kulturpolitiker Hendrik Brugmans und dem belgischen Philosophen und Kapuzinerpater Karel Verleye, etablierte de Madariaga, ein Großonkel Javier Solanas, in der verschlafenen Altstadt von Brügge einen Ort, an dem "professionelle Europäer" geformt werden sollten. Der Plan ging auf: An die zweitausend der inzwischen über zehntausend Absolventen sollen heute in Brüssel tätig sein, keine andere Bildungsinstitution konnte mehr Ehemalige in der Kommissionsbürokratie plazieren.
Rund 400 Studierende aus 40 Ländern leben und studieren gegenwärtig pro Jahrgang am Europakolleg, etwa hundert von ihnen auf dem 1993 eröffneten Campus Natolin bei Warschau. Mag Osteuropa in der Imagination der Kollegiaten noch immer peripher sein: Dort wird auf integrierte Interdisziplinarität gesetzt, während sich das Studium in Brügge in die klassischen Fachbereiche "Recht", "Wirtschaft" und "Politik/Verwaltung" ausdifferenziert.
Längst steht das Europakolleg freilich im harten Wettbewerb mit unzähligen Aufbaustudiengängen, Graduiertenschulen und LL.M.-Programmen. Nicht nur darum drängt sich die von Kerstin Poehls bei ihren Feldforschungen immer wieder geschickt ins Spiel gebrachte Frage auf, ob Brügge und Natolin überhaupt (noch) Orte jenes oft kritisierten EU-Elitenmilieus sind, das über die Köpfe der Bürger hinweg ein brüchig gewordenes Integrationsnarrativ vorantreibt.
Das Europakolleg lehre die mehrsprachigen, mobilen und meist aus homogenem Mittelschichtmilieu kommenden Studierenden die Frage der eigenen Elitenzugehörigkeit auf so elegante wie überzeugende Weise implizit zu beantworten: durch einen Habitus, der souveränen Umgang mit Zeitnot, Leistungsdruck und sozialem Stress ebenso einschließt wie gekonntes "Navigieren im Feld der Identitätspolitiken". Und durch ein dichtes Netzwerk - die vielbeschworene "Mafia de Bruges", die im Kraftfeld Europäischen Regierens viele Probleme auf kurzem Weg löst, durch den Griff zum Telefon, ein Mittagessen oder eine informelle E-Mail.
Im Mikrokosmos des streng reglementierten gemeinsamen Lebens, Arbeitens und Studierens im Europakolleg kommt es dabei, ganz im Sinne der funktionalistischen "Méthode Monnet", zu einem spill over der europäischen Idee, zur Konstruktion ebenjenes Homo Europaeus, den Kerstin Poehls im Speisesaal und Seminarraum, in Wohnheimen und auf den Differenz spielerisch zuspitzenden national parties beobachtet hat. Das Europakolleg erweist sich als "Probebühne", auf der backstage für den großen Auftritt auf dem Brüsseler Parkett geübt wird. Täglich neu wird dort bestimmt, was und wer "europäisch" ist. Dabei wird, so das Urteil der scharfsichtigen Ethnologin, Nationales nicht etwa aufgehoben. Das fragile europäische Projekt muss "als imaginärer Raum immer neu ausgehandelt, kartiert, belebt und inhaltlich gefüllt werden".
ALEXANDRA KEMMERER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Herbst 1949 kamen 23 Studierende in die alte flämische Hansestadt Brügge, um an einem dreiwöchigen Vorbereitungskurs des eben gegründeten Europakollegs teilzunehmen. Die "Session Préparatoire" war Generalprobe für das erste reguläre Studienjahr 1950 bis 1951, in dem sich junge europäische Universitätsabsolventen mit dem "europäischen Problem in seiner Gesamtheit" auseinandersetzen sollten, in einer Art Studium generale.
Unterrichtet wurden "historische und geographische Grundlagen", die soziale und wirtschaftliche Lage sowie "technische" Aspekte - nämlich rechtliche und institutionelle Voraussetzungen eines Prozesses europäischer Integration, der Anfang der fünfziger Jahre noch mehr Agenda als Realität schien. Noch vor Unterzeichnung des Vertrags zur Gründung der Montanunion wurden in Brügge Akteure künftiger europäischer Institutionen ausgebildet.
In einer ungemein spannenden, klugen und aufschlussreichen Studie zur europäischen Elitenbildung zeigt die Berliner Ethnologin Kerstin Poehls, dass die am Europakolleg lebenden und studierenden künftigen Europa-Experten auch heute noch den Realitäten immer einen Schritt voraus sind ("Europa backstage". Expertenwissen, Habitus und kulturelle Codes im Machtfeld der EU. transcript Verlag, Bielefeld 2009. 272 S., br., 28,80 [Euro]). Wer in Brügge studiert und lehrt, webt mit an einem Narrativ, dessen Teil er selbst wird - an der großen Fortschrittserzählung der europäischen Integration.
Die Geschichte des Kollegs beginnt im Mai 1948 auf dem Haager Kongress, wo unter dem Vorsitz des exilierten spanischen Diplomaten und Schriftstellers Salvador de Madariaga über eine "europäische Universität" diskutiert wird. Gemeinsam mit zwei anderen Vordenkern der Europäischen Bewegung, dem niederländischen Romanisten und Kulturpolitiker Hendrik Brugmans und dem belgischen Philosophen und Kapuzinerpater Karel Verleye, etablierte de Madariaga, ein Großonkel Javier Solanas, in der verschlafenen Altstadt von Brügge einen Ort, an dem "professionelle Europäer" geformt werden sollten. Der Plan ging auf: An die zweitausend der inzwischen über zehntausend Absolventen sollen heute in Brüssel tätig sein, keine andere Bildungsinstitution konnte mehr Ehemalige in der Kommissionsbürokratie plazieren.
Rund 400 Studierende aus 40 Ländern leben und studieren gegenwärtig pro Jahrgang am Europakolleg, etwa hundert von ihnen auf dem 1993 eröffneten Campus Natolin bei Warschau. Mag Osteuropa in der Imagination der Kollegiaten noch immer peripher sein: Dort wird auf integrierte Interdisziplinarität gesetzt, während sich das Studium in Brügge in die klassischen Fachbereiche "Recht", "Wirtschaft" und "Politik/Verwaltung" ausdifferenziert.
Längst steht das Europakolleg freilich im harten Wettbewerb mit unzähligen Aufbaustudiengängen, Graduiertenschulen und LL.M.-Programmen. Nicht nur darum drängt sich die von Kerstin Poehls bei ihren Feldforschungen immer wieder geschickt ins Spiel gebrachte Frage auf, ob Brügge und Natolin überhaupt (noch) Orte jenes oft kritisierten EU-Elitenmilieus sind, das über die Köpfe der Bürger hinweg ein brüchig gewordenes Integrationsnarrativ vorantreibt.
Das Europakolleg lehre die mehrsprachigen, mobilen und meist aus homogenem Mittelschichtmilieu kommenden Studierenden die Frage der eigenen Elitenzugehörigkeit auf so elegante wie überzeugende Weise implizit zu beantworten: durch einen Habitus, der souveränen Umgang mit Zeitnot, Leistungsdruck und sozialem Stress ebenso einschließt wie gekonntes "Navigieren im Feld der Identitätspolitiken". Und durch ein dichtes Netzwerk - die vielbeschworene "Mafia de Bruges", die im Kraftfeld Europäischen Regierens viele Probleme auf kurzem Weg löst, durch den Griff zum Telefon, ein Mittagessen oder eine informelle E-Mail.
Im Mikrokosmos des streng reglementierten gemeinsamen Lebens, Arbeitens und Studierens im Europakolleg kommt es dabei, ganz im Sinne der funktionalistischen "Méthode Monnet", zu einem spill over der europäischen Idee, zur Konstruktion ebenjenes Homo Europaeus, den Kerstin Poehls im Speisesaal und Seminarraum, in Wohnheimen und auf den Differenz spielerisch zuspitzenden national parties beobachtet hat. Das Europakolleg erweist sich als "Probebühne", auf der backstage für den großen Auftritt auf dem Brüsseler Parkett geübt wird. Täglich neu wird dort bestimmt, was und wer "europäisch" ist. Dabei wird, so das Urteil der scharfsichtigen Ethnologin, Nationales nicht etwa aufgehoben. Das fragile europäische Projekt muss "als imaginärer Raum immer neu ausgehandelt, kartiert, belebt und inhaltlich gefüllt werden".
ALEXANDRA KEMMERER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Spannend, klug und aufschlussreich findet Rezensentin Alexandra Kemmerer die Feldstudie über das Europakolleg in Brügge und Natolin bei Warschau, die die Berliner Ethnologin Kerstin Poehls verfasst hat. Es geht um europäische Elitebildung und die Frage, was genau das bedeutet. Poehls nimmt die Rezensentin mit auf die Flure des Kollegs, in Speisesäle, Seminare und Wohnheime und erörtert "scharfsichtig" Netzwerke und die Schöpfung des Homo Europaeus durch integrierte Interdisziplinarität (Natolin) bzw. die klassischen Fachbereiche Recht, Wirtschaft und Politik (Brügge). Ein Urteil der Autorin, das die Rezensentin sich gemerkt hat, lautet, dass Nationales in der europäischen Idee nicht etwa aufgehoben wird, sondern der imaginäre Raum EU immer neu verhandelt, belebt, gefüllt werden muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Insgesamt leistet Poehls mit ihrer klar strukturierten und plausibel argumentierenden Analyse einen wichtigen Beitrag zur Europäisierungs-Debatte. Die Arbeit besticht besonders durch ihren konsequent praxeologischen Blick auf die Akteure, deren implizite und explizite Wissensbestände und die von ihnen angewandten kulturellen Codes [...]. Überdies bietet sie in ihrer Perspektive auf Eliten einen innovativen Beitrag zur Überwindung des dichotomen Kulturverständnisses.«
Karin Bückert, kulturen, 5 (2011) 20110426
Karin Bückert, kulturen, 5 (2011) 20110426