In seiner großen Gesamtdarstellung des europäischen Antisemitismus von 1880 bis 1945 zeigt der bekannte Historiker Götz Aly, dass der Holocaust nicht allein aus der deutschen Geschichte heraus erklärbar ist. Sowohl in West- als auch in Osteuropa hatten Antisemitismus und Judenfeindschaft seit 1880 sprunghaft zugenommen - angetrieben von Nationalismus und sozialen Krisen. Erstmals stellt Götz Aly hier den modernen Antisemitismus als grenzüberschreitendes Phänomen dar. Ohne die Schuld der deutschen Täter zu mindern, zeigt er, wie Rivalität und Neid, Diskriminierung und Pogrome seit Ende des 19. Jahrhunderts vielerorts dazu beigetragen haben, den Boden für Deportationen und Völkermord zu bereiten. Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die nationalsozialistischen Besatzer schließlich sechs Millionen Juden, die meisten in Osteuropa, teils unter Mithilfe lokaler Polizei und Behörden. Mit seinem gesamteuropäischen Blick ermöglicht Götz Aly ein neues, umfassendes Verständnis des Holocaust.
Ausgezeichnet mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2018.
Ausgezeichnet mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2018.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2017Die Dokumente in ein Raster gezwängt
Götz Aly analysiert einseitig den Antisemitismus in Europa von 1880 bis 1945
Die Geschichte Europas ist ebenso sehr von länderübergreifendem Austausch und Zusammenwirken geprägt wie von Vielfalt und Differenz. Irritierend vereinfachend und reißerisch erscheint deshalb der Titel von Götz Alys Buch. Dabei verspricht es erheblichen Erkenntnisgewinn, sorgsam empirisch herauszuarbeiten, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es hinsichtlich des Antisemitismus gibt, der sich im 19. Jahrhundert als soziale und politische Bewegung von Deutschland aus verbreitete, im Ersten Weltkrieg und in der krisengeschüttelten Nachkriegszeit radikalisierte und im Nationalsozialismus zur Ermordung von sechs Millionen Juden geführt hat.
Ein am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin angesiedeltes internationales Forschungs-Kolleg sowie eine damit verbundene Schriftenreihe über "Antisemitismus in Europa" (1879-1945) belegen das eindrücklich. Die daraus hervorgegangenen Studien hat Aly nicht in allen Fällen herangezogen. Unabhängig davon hätte seine Publikation mit dem zusammengetragenen umfangreichen Quellenfundus als gutgeschriebene facettenreiche Überblicksdarstellung durchaus bestehen können - wenn er die herangezogenen Dokumente nicht in dasselbe Raster gezwängt hätte, das bereits auf Deutschland bezogen zu kurz griff. Nun hat er - genauso wenig überzeugend - seine früheren widersprüchlichen Thesen von Sozialneid und interessengeleiteter Gleichheitssucht Europa übergestülpt. Sein Deutungsmodell wird jedoch weder der umfassenden Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert noch der Komplexität der darauffolgenden Entwicklungen gerecht.
Von leicht entflammbaren "Volksmassen" angesichts antijüdischer Parolen ist, konkret auf Russland bezogen, einmal die Rede. Alys auf die Praxis der Judenverfolgung gelegtes Augenmerk kreist aber weit übergreifender um diese Frage und mithin um die Wechselwirkung von Emotion und Ressentiment, die dies impliziert. Eben weil das so aktuell ist, sticht Alys Verengung des Blickwinkels umso klarer hervor. Er vernachlässigt die Verschränkungen des synchron und diachron vielschichtigen Vorurteils mit jeweils unterschiedlich gewichteten politischen, ökonomischen oder sozialen Impulsen.
Daraus resultieren Unschärfen bei der Interpretation von Diskursen und Handlungen. Ludwig Börnes zitierte Aussage etwa aus dem Jahr 1808 über "Neid und Habsucht" - die es als Motive auch zu früheren Zeiten schon gab - bezieht sich auf die Auswirkungen des großen Teilhabeversprechens der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Die damit verbundene Aufhebung der historisch gewachsenen Dominanzverhältnisse bedeutete einen kaum zu ermessenden Ansporn für die bis dahin nur an den gesellschaftlichen Rändern geduldeten Juden, die Zugangskriterien von Bildung und Leistung zu erfüllen.
Ein überdurchschnittlicher Aufstieg gelang zwar bei weitem nicht allen, schon gar nicht in Osteuropa. Die damit einhergehende Mobilität jedoch wurde aufgrund jener älteren Ungleichheitsvorstellungen argwöhnisch beobachtet. Letztere verschwanden nicht einfach, sondern boten gleichzeitig jenem Konglomerat aus Konkurrenzangst, Unterstellungen wirtschaftlicher Konspiration und Animositäten gegen die Moderne im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein wesentliches Fundament. Insofern überzeugt Alys Argument nicht, dass "nicht einmal die antisemitisch gestimmten katholischen Kleriker Polens" sich zu diesem Zeitpunkt auf das traditionelle Vorurteil bezogen, sondern "wirtschaftliche und soziale Argumente der Gegenwart geltend" gemacht hätten.
Anderswo in Europa war dies genauso. Nur waren Priester als moralische Autoritäten per se mit der langen Überlieferung christlich-antijüdischer Rituale und Motive assoziiert, mussten sie darum nicht einmal explizit formulieren, um entsprechende Affekte zu bedienen. Wenn Aly außerdem die jüdisch-bürgerlichen Eliten als "gelenkige Fremde" charakterisiert und - teils historische Stimmen anführend - bei russisch-jüdischen Schülern deren "überragende Wissbegier" hervorhebt oder bei deutsch-jüdischen Studenten, sie seien "so sehr viel gescheiter und betriebsamer" gewesen, verdreht er Inklusionshürden und Exklusionsargumente: Juden wurden trotz ihrer Verwurzelung in Sprache und Kultur und ihrer Loyalitätsbekundungen oder gerade wenn sie erfolgreich waren, rasch als "fremd" etikettiert.
Darum ist es in diesem Kontext richtig, darauf zu verweisen, dass die Idee der Nation einem Homogenitätsideal Raum bot, das ebenso exklusiv wie inklusiv ausgelegt werden konnte. Ein protektionistisch begründeter Numerus clausus für jüdische Studierende in Ungarn, Polen oder Rumänien lange vor dem Nationalsozialismus beispielsweise zeugt davon. Lithuanisierung, Magyarisierung, Hellenisierung, Polonisierung, Tschechisierung gingen nahezu unweigerlich zu Lasten von Minderheiten, konnten Zwangsassimilation, Zwangsumsiedlung, Vertreibung oder gar Mord bedeuten. Nicht falsch ist für das 20. Jahrhundert zudem, dass der Krieg zur Unterhöhlung von Moral und Menschlichkeit beitrug; auch dass das, was Aly die deutsche nationalsozialistische "Tatherrschaft" nennt, auf unterschiedliche Tatbereitschaft stieß, nicht zuletzt abhängig davon, ob sie eigenen sozial- beziehungsweise bevölkerungspolitischen Zielen gelegen kam; dass darum das Ausmaß der Deportationen nicht allein von Berlin bestimmt wurde und die Überlebenschancen für die verfolgten Juden nicht überall gleich waren.
Die Feststellung, dass Demokratien ihre eigenen Grundprinzipien wie Anerkennung und Integration von Minderheiten mitunter nicht beherzigen, gilt nicht nur für Europa. Das klägliche Versagen der Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 ist dafür ein Beispiel. Wichtig wäre indessen gewesen, herauszustellen, dass die Gefährdung des demokratischen Systems stets von jenen ausgeht, die seine Prinzipien ausnutzen, missachten oder sie schlicht mit Privilegien verwechseln.
ANDREA HOPP
Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 430 S., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Götz Aly analysiert einseitig den Antisemitismus in Europa von 1880 bis 1945
Die Geschichte Europas ist ebenso sehr von länderübergreifendem Austausch und Zusammenwirken geprägt wie von Vielfalt und Differenz. Irritierend vereinfachend und reißerisch erscheint deshalb der Titel von Götz Alys Buch. Dabei verspricht es erheblichen Erkenntnisgewinn, sorgsam empirisch herauszuarbeiten, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es hinsichtlich des Antisemitismus gibt, der sich im 19. Jahrhundert als soziale und politische Bewegung von Deutschland aus verbreitete, im Ersten Weltkrieg und in der krisengeschüttelten Nachkriegszeit radikalisierte und im Nationalsozialismus zur Ermordung von sechs Millionen Juden geführt hat.
Ein am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin angesiedeltes internationales Forschungs-Kolleg sowie eine damit verbundene Schriftenreihe über "Antisemitismus in Europa" (1879-1945) belegen das eindrücklich. Die daraus hervorgegangenen Studien hat Aly nicht in allen Fällen herangezogen. Unabhängig davon hätte seine Publikation mit dem zusammengetragenen umfangreichen Quellenfundus als gutgeschriebene facettenreiche Überblicksdarstellung durchaus bestehen können - wenn er die herangezogenen Dokumente nicht in dasselbe Raster gezwängt hätte, das bereits auf Deutschland bezogen zu kurz griff. Nun hat er - genauso wenig überzeugend - seine früheren widersprüchlichen Thesen von Sozialneid und interessengeleiteter Gleichheitssucht Europa übergestülpt. Sein Deutungsmodell wird jedoch weder der umfassenden Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert noch der Komplexität der darauffolgenden Entwicklungen gerecht.
Von leicht entflammbaren "Volksmassen" angesichts antijüdischer Parolen ist, konkret auf Russland bezogen, einmal die Rede. Alys auf die Praxis der Judenverfolgung gelegtes Augenmerk kreist aber weit übergreifender um diese Frage und mithin um die Wechselwirkung von Emotion und Ressentiment, die dies impliziert. Eben weil das so aktuell ist, sticht Alys Verengung des Blickwinkels umso klarer hervor. Er vernachlässigt die Verschränkungen des synchron und diachron vielschichtigen Vorurteils mit jeweils unterschiedlich gewichteten politischen, ökonomischen oder sozialen Impulsen.
Daraus resultieren Unschärfen bei der Interpretation von Diskursen und Handlungen. Ludwig Börnes zitierte Aussage etwa aus dem Jahr 1808 über "Neid und Habsucht" - die es als Motive auch zu früheren Zeiten schon gab - bezieht sich auf die Auswirkungen des großen Teilhabeversprechens der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Die damit verbundene Aufhebung der historisch gewachsenen Dominanzverhältnisse bedeutete einen kaum zu ermessenden Ansporn für die bis dahin nur an den gesellschaftlichen Rändern geduldeten Juden, die Zugangskriterien von Bildung und Leistung zu erfüllen.
Ein überdurchschnittlicher Aufstieg gelang zwar bei weitem nicht allen, schon gar nicht in Osteuropa. Die damit einhergehende Mobilität jedoch wurde aufgrund jener älteren Ungleichheitsvorstellungen argwöhnisch beobachtet. Letztere verschwanden nicht einfach, sondern boten gleichzeitig jenem Konglomerat aus Konkurrenzangst, Unterstellungen wirtschaftlicher Konspiration und Animositäten gegen die Moderne im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein wesentliches Fundament. Insofern überzeugt Alys Argument nicht, dass "nicht einmal die antisemitisch gestimmten katholischen Kleriker Polens" sich zu diesem Zeitpunkt auf das traditionelle Vorurteil bezogen, sondern "wirtschaftliche und soziale Argumente der Gegenwart geltend" gemacht hätten.
Anderswo in Europa war dies genauso. Nur waren Priester als moralische Autoritäten per se mit der langen Überlieferung christlich-antijüdischer Rituale und Motive assoziiert, mussten sie darum nicht einmal explizit formulieren, um entsprechende Affekte zu bedienen. Wenn Aly außerdem die jüdisch-bürgerlichen Eliten als "gelenkige Fremde" charakterisiert und - teils historische Stimmen anführend - bei russisch-jüdischen Schülern deren "überragende Wissbegier" hervorhebt oder bei deutsch-jüdischen Studenten, sie seien "so sehr viel gescheiter und betriebsamer" gewesen, verdreht er Inklusionshürden und Exklusionsargumente: Juden wurden trotz ihrer Verwurzelung in Sprache und Kultur und ihrer Loyalitätsbekundungen oder gerade wenn sie erfolgreich waren, rasch als "fremd" etikettiert.
Darum ist es in diesem Kontext richtig, darauf zu verweisen, dass die Idee der Nation einem Homogenitätsideal Raum bot, das ebenso exklusiv wie inklusiv ausgelegt werden konnte. Ein protektionistisch begründeter Numerus clausus für jüdische Studierende in Ungarn, Polen oder Rumänien lange vor dem Nationalsozialismus beispielsweise zeugt davon. Lithuanisierung, Magyarisierung, Hellenisierung, Polonisierung, Tschechisierung gingen nahezu unweigerlich zu Lasten von Minderheiten, konnten Zwangsassimilation, Zwangsumsiedlung, Vertreibung oder gar Mord bedeuten. Nicht falsch ist für das 20. Jahrhundert zudem, dass der Krieg zur Unterhöhlung von Moral und Menschlichkeit beitrug; auch dass das, was Aly die deutsche nationalsozialistische "Tatherrschaft" nennt, auf unterschiedliche Tatbereitschaft stieß, nicht zuletzt abhängig davon, ob sie eigenen sozial- beziehungsweise bevölkerungspolitischen Zielen gelegen kam; dass darum das Ausmaß der Deportationen nicht allein von Berlin bestimmt wurde und die Überlebenschancen für die verfolgten Juden nicht überall gleich waren.
Die Feststellung, dass Demokratien ihre eigenen Grundprinzipien wie Anerkennung und Integration von Minderheiten mitunter nicht beherzigen, gilt nicht nur für Europa. Das klägliche Versagen der Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 ist dafür ein Beispiel. Wichtig wäre indessen gewesen, herauszustellen, dass die Gefährdung des demokratischen Systems stets von jenen ausgeht, die seine Prinzipien ausnutzen, missachten oder sie schlicht mit Privilegien verwechseln.
ANDREA HOPP
Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 430 S., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In einem ausführlichen Resümee erklärt und veranschaulicht Rezensent Stefan Reinecke Götz Alys Kernthese und stellt diese als durchaus originell und einleuchtend dar. In "Europa gegen die Juden" betrachtet der Historiker den Antisemitismus als europäisches Phänomen, das mit dem modernen Kapitalismus auftrat und im Holocaust seinen Höhepunkt fand, lesen wir. Gekonnt, unterhaltsam und gut zu lesen, montiert er Quellen und Szenerien, sodass sie seine These unterstützen: Die Basis des Antisemitismus ist für Aly ein im Grunde antikapitalistischer Affekt, der Neid auf den Erfolg der Juden im modernen Europa, ein interessanter Gedanke, dem in Teilen sicher zuzustimmen ist, meint der Rezensent, der sich jedoch daran stört, wie Aly auf "Biegen und Brechen" alles umgeht oder auslässt, was seine Behauptung infrage stellen oder einschränken würde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Alys Panorama des Schreckens ist erschütternd, die Lektüre streckenweise für die Leser eine - notwendige - Zumutung. Martin Doerry Der Spiegel - LiteraturSpiegel 20170301