Das Buch zeigt Vielfalt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Wanderungsgeschehens in, aus und nach Europa. Es blickt nach "unten", in den Alltag des Migrationsgeschehens, in die Begegnung von Einheimischen und Fremden. Und es blickt nach "oben", auf die nationalen und internationalen Versuche, die als Gewinn erstrebten, als Verlust beklagten oder als Bedrohung dämonisierten Wanderungen zu beeinflussen. Arbeitswanderungen und Wanderhandel im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Unternehmerreisen, Ausbildungswanderungen und Industriespionage, überseeische Arbeitswanderungen, koloniale Siedlungswanderungen und der europäische Massenexodus in die Neue Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werden ebenso behandelt wie die Massenzwangswanderungen in den beiden Weltkriegen und danach, die Wanderungen der "Gastarbeiter" in Europa, Minderheitenwanderungen, neue Vertreibungen und "ethnische Säuberungen" im weiteren Verlauf des "Jahrhunderts der Flüchtlinge", das über di e Jahrtausendgrenze hinweg andauert. Am Ende steht die Auseinandersetzung mit dem neuen Feindbild der "illegalen Einwanderung" und mit dem organisierten Menschenschmuggel zwischen Migrationshilfe und organisiertem Verbrechen als Kehrseite der Abgrenzung der "Festung Europa" gegen unerwünschte Zuwanderungen von außen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2000Ahnungsloser Umgang mit der Einwanderung
Die Politik aus der Nähe kritisieren: Der Migrationsexperte Klaus J. Bade am Wissenschaftskolleg
"Es ist geradezu absurd, wie ahnungslos Politiker mit einer gesellschaftspolitisch so brisanten Frage wie der Einwanderung umgehen." Der Historiker und Migrationsforscher Klaus J. Bade geht hart ins Gericht mit der Konzeptlosigkeit in der deutschen Einwanderungspolitik: "Der Amnesieprozeß erreicht momentan seinen Höhepunkt: Die SPD scheint nicht mehr zu wissen, daß sie in der Opposition ein umfassendes Einwanderungsgesetz gefordert hat, die CDU nicht mehr, daß sie genau das, was sie jetzt fordert, in der Regierung verhindert hat." Mit seinen Veröffentlichungen bewegt sich der 1944 geborene Bade seit Jahren zwischen Wissenschaft und Politik: 1991 gründete er das Institut für Migrationsforschung und Integration (Imis) in Osnabrück und machte sich einen Namen als einer der führenden deutschen Migrationshistoriker. 1994 gehörte er zu den Initiatoren des "Manifests der 60", in dem 60 Wissenschaftler die Untätigkeit der Bundesregierung in der Migrationspolitik anprangerten. Seit neuestem gehört er nun zum Kreis der "Fellows" des Wissenschaftskollegs Berlin.
Eine brandneue Veröffentlichung hat Bade mit in den Grunewald gebracht: "Europa in Bewegung" heißt seine ambitionierte Überblicksdarstellung zur europäischen Migration seit dem 18. Jahrhundert. Eine imposante Synthese der Forschungsergebnisse zu fast allen europäischen Migrations- und Eingliederungsprozessen in dieser Zeit ist es geworden, in der er scheinbar beiläufig mit Klischees aufräumt und immer wieder neue Blickwinkel freigibt: Die Auswanderung nach Übersee etwa bestand auch im 19. Jahrhundert nicht nur aus der sattsam bekannten Familie mit Sack und Pack auf der Suche nach einer Existenz in der Neuen Welt, sondern genauso aus den Gruppen italienischer Landarbeiter, die nach der Ernte in ihrer Heimat jedes Jahr den Dampfer nach Argentinien bestiegen, um die unterschiedlichen Jahreszeiten auf der Südhalbkugel zum zusätzlichen Verdienst zu nutzen - und so über Jahre in zwei Gesellschaften fremd und zu Hause waren.
"Migrationsgeschichte zu betreiben hat auch einen politischen Zweck", so Bade. "Man kann Parallelen ziehen und feststellen, daß wir heute keineswegs in einer Ausnahmesituation leben. Im Gegenteil: Seit dem Ende der Teilung Europas hat der Kontinent in seine historische Rolle als Drehscheibe zwischen Süd und Nord, Ost und West zurückgefunden." Da es schon immer Migration in Europa gegeben habe, könne daraus gelernt werden, daß sie auch zu gestalten sei: "Mit dieser Erkenntnis kann dann die Angst vor Zuwanderung aufhören und etwas Normalität in die Diskussion einkehren."
Daß Politiker diese Schlüsse von selbst ziehen, glaubt Bade nicht - und arbeitet deswegen mit dem Berliner Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz und dem Freiburger Politologen Dieter Oberndörfer im "Rat für Migration" zusammen: "Wir wollen zweierlei: einerseits Politikberatung in Migrationsfragen - und dort, wo die Politik sich nicht beraten lassen möchte, eine kritische Politikbegleitung, bei der die Medien eine zentrale Rolle spielen." In ihrem unlängst erschienenen "Migrationsreport 2000" fordern sie vor allem eine schnelle Entscheidung für ein Zuwanderungsgesetz: Ein Entwurf müsse noch vor dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002 stehen, denn "über Details kann man streiten, das ist legitim. Aber wenn die Regierung sich verweigert, gibt es wieder Hetzkampagnen von der CDU zu diesem Thema."
Wenn die - nun auch räumliche - Nähe zur Politik dem Wissenschaftler Bade noch Zeit läßt, will er in seinem Jahr am Wissenschaftskolleg ein weiteres ambitioniertes Vorhaben angreifen: eine europäische Enzyklopädie zu "Migration - Minderheiten - Diaspora", an der er zusammen mit dem niederländischen Forscher Pieter C. Emmer arbeitet. Welche Zuwanderergruppen sind in den vergangenen Jahrhunderten schnell in der neuen Mehrheitsgesellschaft aufgegangen, welche haben noch mehrere Generationen ihr Anderssein kultiviert? "Die einfachen Fragen sind oft die schwierigsten", seufzt Bade. Die Arbeitsbedingungen am Wissenschaftskolleg jedenfalls findet er ideal: "Man kann sich interdisziplinär und multidisziplinär austauschen - und ganz zurückgezogen arbeiten." Wenn da nicht immer die Politik wäre.
JAN STERNBERG
Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Beck 2000, 480 S., DM 58,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Politik aus der Nähe kritisieren: Der Migrationsexperte Klaus J. Bade am Wissenschaftskolleg
"Es ist geradezu absurd, wie ahnungslos Politiker mit einer gesellschaftspolitisch so brisanten Frage wie der Einwanderung umgehen." Der Historiker und Migrationsforscher Klaus J. Bade geht hart ins Gericht mit der Konzeptlosigkeit in der deutschen Einwanderungspolitik: "Der Amnesieprozeß erreicht momentan seinen Höhepunkt: Die SPD scheint nicht mehr zu wissen, daß sie in der Opposition ein umfassendes Einwanderungsgesetz gefordert hat, die CDU nicht mehr, daß sie genau das, was sie jetzt fordert, in der Regierung verhindert hat." Mit seinen Veröffentlichungen bewegt sich der 1944 geborene Bade seit Jahren zwischen Wissenschaft und Politik: 1991 gründete er das Institut für Migrationsforschung und Integration (Imis) in Osnabrück und machte sich einen Namen als einer der führenden deutschen Migrationshistoriker. 1994 gehörte er zu den Initiatoren des "Manifests der 60", in dem 60 Wissenschaftler die Untätigkeit der Bundesregierung in der Migrationspolitik anprangerten. Seit neuestem gehört er nun zum Kreis der "Fellows" des Wissenschaftskollegs Berlin.
Eine brandneue Veröffentlichung hat Bade mit in den Grunewald gebracht: "Europa in Bewegung" heißt seine ambitionierte Überblicksdarstellung zur europäischen Migration seit dem 18. Jahrhundert. Eine imposante Synthese der Forschungsergebnisse zu fast allen europäischen Migrations- und Eingliederungsprozessen in dieser Zeit ist es geworden, in der er scheinbar beiläufig mit Klischees aufräumt und immer wieder neue Blickwinkel freigibt: Die Auswanderung nach Übersee etwa bestand auch im 19. Jahrhundert nicht nur aus der sattsam bekannten Familie mit Sack und Pack auf der Suche nach einer Existenz in der Neuen Welt, sondern genauso aus den Gruppen italienischer Landarbeiter, die nach der Ernte in ihrer Heimat jedes Jahr den Dampfer nach Argentinien bestiegen, um die unterschiedlichen Jahreszeiten auf der Südhalbkugel zum zusätzlichen Verdienst zu nutzen - und so über Jahre in zwei Gesellschaften fremd und zu Hause waren.
"Migrationsgeschichte zu betreiben hat auch einen politischen Zweck", so Bade. "Man kann Parallelen ziehen und feststellen, daß wir heute keineswegs in einer Ausnahmesituation leben. Im Gegenteil: Seit dem Ende der Teilung Europas hat der Kontinent in seine historische Rolle als Drehscheibe zwischen Süd und Nord, Ost und West zurückgefunden." Da es schon immer Migration in Europa gegeben habe, könne daraus gelernt werden, daß sie auch zu gestalten sei: "Mit dieser Erkenntnis kann dann die Angst vor Zuwanderung aufhören und etwas Normalität in die Diskussion einkehren."
Daß Politiker diese Schlüsse von selbst ziehen, glaubt Bade nicht - und arbeitet deswegen mit dem Berliner Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz und dem Freiburger Politologen Dieter Oberndörfer im "Rat für Migration" zusammen: "Wir wollen zweierlei: einerseits Politikberatung in Migrationsfragen - und dort, wo die Politik sich nicht beraten lassen möchte, eine kritische Politikbegleitung, bei der die Medien eine zentrale Rolle spielen." In ihrem unlängst erschienenen "Migrationsreport 2000" fordern sie vor allem eine schnelle Entscheidung für ein Zuwanderungsgesetz: Ein Entwurf müsse noch vor dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002 stehen, denn "über Details kann man streiten, das ist legitim. Aber wenn die Regierung sich verweigert, gibt es wieder Hetzkampagnen von der CDU zu diesem Thema."
Wenn die - nun auch räumliche - Nähe zur Politik dem Wissenschaftler Bade noch Zeit läßt, will er in seinem Jahr am Wissenschaftskolleg ein weiteres ambitioniertes Vorhaben angreifen: eine europäische Enzyklopädie zu "Migration - Minderheiten - Diaspora", an der er zusammen mit dem niederländischen Forscher Pieter C. Emmer arbeitet. Welche Zuwanderergruppen sind in den vergangenen Jahrhunderten schnell in der neuen Mehrheitsgesellschaft aufgegangen, welche haben noch mehrere Generationen ihr Anderssein kultiviert? "Die einfachen Fragen sind oft die schwierigsten", seufzt Bade. Die Arbeitsbedingungen am Wissenschaftskolleg jedenfalls findet er ideal: "Man kann sich interdisziplinär und multidisziplinär austauschen - und ganz zurückgezogen arbeiten." Wenn da nicht immer die Politik wäre.
JAN STERNBERG
Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Beck 2000, 480 S., DM 58,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Edgar Wolfrum ist sehr angetan davon, wie Klaus J. Bade "Anlässe und Motive von Migration", aber auch Aufnahmebedingungen für Immigranten in der Geschichte untersucht. Europa war immer ein Kontinent in Bewegung, erst der Kalte Krieg machte dem vorübergehend ein Ende. Bade lässt es aber auch nicht an deutlichen Worten zur gegenwärtigen Situation fehlen: Gegen eine europäische Festungsmentalität führt er ins Feld, dass die größten Wanderungsbewegungen der letzten Jahre nur zu 5 Prozent Europa betrafen. Eine wichtiges Buch für die aktuelle Diskussion, findet Wolfrum.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH