Der Architekt der EU-Ost-Erweiterung über die neue Weltmacht Europa
Europa steht unmittelbar vor dem Schritt auf die Bühne der Weltpolitik, nicht als Objekt, sondern als selbstbewusst handelnder Akteur. Die Europäische Union ist kein lockerer regionaler Zusammenschluss mehr, sondern eine Weltmacht im Prozess der Entstehung". Günter Verheugen gilt als Vater und Architekt der Ost-Erweiterung der EU. Er war in den letzten fünf Jahren als deutsches Mitglied der Europäischen Kommission verantwortlich für die Erweiterungsverhandlungen mit zwölf Staaten und die Zusammenarbeit mit der Türkei. Das Buch beschreibt die neuen strategischen Prioritäten für Europa nach den "historischen Wendepunkten" des 9. November 1989 (Fall der Berliner Mauer) und des 11. September 2001 (Terrorangriff auf New York). Breiten Raum nimmt in dem Buch, in dem immer wieder die persönlichen Erfahrungen und Begegnungen des Autors durchschimmern, das Verhältnis Europas zu den anderen weltpolitischen Akteuren der Zu
Europa steht unmittelbar vor dem Schritt auf die Bühne der Weltpolitik, nicht als Objekt, sondern als selbstbewusst handelnder Akteur. Die Europäische Union ist kein lockerer regionaler Zusammenschluss mehr, sondern eine Weltmacht im Prozess der Entstehung". Günter Verheugen gilt als Vater und Architekt der Ost-Erweiterung der EU. Er war in den letzten fünf Jahren als deutsches Mitglied der Europäischen Kommission verantwortlich für die Erweiterungsverhandlungen mit zwölf Staaten und die Zusammenarbeit mit der Türkei. Das Buch beschreibt die neuen strategischen Prioritäten für Europa nach den "historischen Wendepunkten" des 9. November 1989 (Fall der Berliner Mauer) und des 11. September 2001 (Terrorangriff auf New York). Breiten Raum nimmt in dem Buch, in dem immer wieder die persönlichen Erfahrungen und Begegnungen des Autors durchschimmern, das Verhältnis Europas zu den anderen weltpolitischen Akteuren der Zu
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2005Mut für Europa
Günter Verheugen wirbt für einen neuen Anlauf in der Gemeinschaftspolitik
Wer wissen will, was Europa ist und sein könnte, spricht am besten mit denjenigen, die der Kalte Krieg über fünfzig Jahre daran gehindert hat dazuzugehören. Günter Verheugen hat das als für die Erweiterung zuständiger EU-Kommissar von 1999 bis 2004 schon von Amts wegen tun müssen. Das hat ihn zu einem sehr bewußten Europäer werden lassen, der sich gedrängt fühlt, diese Erfahrung weiterzugeben. Sein Bericht über die Begegnungen mit Politikern der Beitritts- und Kandidatenländer beeindruckt und beschämt zugleich: Fast hat man den Eindruck, daß die Begeisterung für die europäische Idee dort am größten ist, wo der Weg zu einer Mitgliedschaft in der EU noch am weitesten ist. In den alten Mitgliedsländern ist eine ziemlich provinzielle Beschränkung auf eine westeuropäische Identität festzustellen, verbunden mit wachsender Diskrepanz zwischen europäischer Politik und dem Bewußtsein der Bevölkerung.
Verheugen kritisiert die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Eliten in den Mitgliedsländern, die in der Regel von der Notwendigkeit der Einigung Europas überzeugt sind, aber wenig dafür tun, diese Überzeugung zu verbreiten. Auf Dauer, mahnt er, werde sich Europa als bloßes Eliteprojekt nicht halten können. Nötig sei daher "die Kraft des Vorbilds" überzeugter Europäer. Sein besonderer Zorn (und auch sein Ärger als langjähriger Kommissar) gilt der beliebten Praxis, "Brüssel" für Probleme verantwortlich zu machen, die man auf nationaler Ebene verursacht hat. "Dieselben Branchen, die auf ihren Verbandstagen über Überregulierung klagen, erscheinen wenig später in Brüssel, um neue Vorschriften zu fordern." Zum Beispiel die oft gescholtene Norm für Traktorsitze: Die geht auf die Initiative eines deutschen Bundeslandes zurück, in dem ein Traktorhersteller mit hohem Sicherheitsstandard ansässig ist. Verheugen wehrt sich auch gegen überzogene Kritik am Demokratiedefizit der EU. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, daß sich die Kommission schärfere parlamentarische Kontrolle gefallen lassen muß als jede nationale Regierung und daß die Kommission mit etwas mehr als 20 000 Bediensteten weniger Menschen beschäftigt als etwa die Stadtverwaltung von Köln.
Die anschauliche Schilderung einer um Effizienz bemühten und von Respekt vor dem Bürger getragenen Kommissionsarbeit hindert ihn freilich nicht, verhalten Reformen anzumahnen: "Es ist in der Tat schwer einzusehen, weshalb nicht überall dort, wo die Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität in die Gemeinschaftspolitik überführt haben, dieselben demokratischen Standards gelten sollten wie in den einzelnen Ländern auch. Dazu müßten die nationalen Vetorechte abgeschafft werden, die Mehrheitsentscheidung müßte in allen Gemeinschaftspolitiken die Regel sein, und die Gesetzgebung müßte sich im hellen Licht der Öffentlichkeit abspielen."
Beim Durchgang durch die verschiedenen Felder der Gemeinschaftspolitik fällt Verheugen manches auf, was dringend verbesserungsbedürftig ist. In die europäische Forschung müßte viel mehr investiert werden, die europäische Rüstungsindustrie muß durch Integration wettbewerbsfähig gemacht werden, die europäische Weltraumpolitik bedarf stärkerer Beachtung und weiterer Förderung. Verheugen beklagt die irrationale Marktöffnungsphobie und beschreibt die Überprüfung des gesamten Rechtsbestandes der EU, die er gegenwärtig als Industriekommissar zu verantworten hat, als "wichtigen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung".
Mit den Reformanstrengungen verbindet er die Vision einer EU, die als "globaler Akteur" auftritt - mit den Vereinigten Staaten wirtschaftlich eng verflochten und freundschaftlich verbunden, aber doch unabhängig und eigenständig. Europa, so sein Plädoyer, sollte nicht fehlen, wenn Washington seine Weltmachtstellung mit anderen aufstrebenden Mächten teilen müßte. Folglich plädiert er auch für eine Weiterentwicklung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Eröffnung einer Beitrittsperspektive für die Türkei fordert er nicht nur im Hinblick auf ihre Demokratisierung, sondern auch mit geostrategischen Argumenten. Ob diesen nicht auch mit der aktiven Nachbarschaftspolitik Rechnung getragen werden könnte, die er für die anderen Anrainer der EU empfiehlt, diskutiert er nicht weiter.
Verheugen richtet freilich nicht nur Appelle an seine Leser, er macht auch Mut. Der Bericht über die große Erweiterungsrunde, die zum Beitritt von zehn neuen Mitgliedern zum 1. Mai 2004 geführt hat, läßt deutlich werden, wie eine geschickte Politik Schwierigkeiten meistern kann, die vielfach als unüberwindlich galten. In der EU-Kommission von Jacques Delors hielt man die Ost-Erweiterung Anfang der neunziger Jahre für ein Projekt, über das man vielleicht in 25 Jahren ernsthaft sprechen könnte. Tatsächlich wurde sie 2004 realisiert, ohne daß der Integrationsgrad Schaden genommen hätte.
Verheugen benennt eine Reihe von Politikern, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. So hat die Regierung Kohl starken Druck ausgeübt, als die meisten anderen noch zögerten. Polens Präsident Kwasniewski hat sein Land unbeirrt auf Europakurs gehalten, Papst Johannes Paul II. hat die antieuropäische Kampagne im katholischen Milieu Polens eingedämmt.
Verheugens eigene Rolle kommt nur indirekt zur Sprache. Es ist aber zu sehen, daß die Entscheidung für gleichzeitige Verhandlungen mit allen Beitrittskandidaten, verbunden mit einer kohärenten Heranführungsstrategie, für die Überwindung der vielfachen Widerstände ganz wesentlich gewesen ist. Sein Vertrauen in zuverlässige Verhandlungspartner bei den Beitrittskandidaten hat sich ebenso ausgezahlt wie sein Mut bei der Benennung ehrgeiziger Verhandlungsziele. Verheugens Bescheidenheit hat einen großen Vorzug: Sie läßt sein Plädoyer für mehr Europa glaubwürdig erscheinen.
WILFRIED LOTH
Günter Verheugen: Europa in der Krise. Für eine Neubegründung der europäischen Idee. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 231 Seiten, 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Günter Verheugen wirbt für einen neuen Anlauf in der Gemeinschaftspolitik
Wer wissen will, was Europa ist und sein könnte, spricht am besten mit denjenigen, die der Kalte Krieg über fünfzig Jahre daran gehindert hat dazuzugehören. Günter Verheugen hat das als für die Erweiterung zuständiger EU-Kommissar von 1999 bis 2004 schon von Amts wegen tun müssen. Das hat ihn zu einem sehr bewußten Europäer werden lassen, der sich gedrängt fühlt, diese Erfahrung weiterzugeben. Sein Bericht über die Begegnungen mit Politikern der Beitritts- und Kandidatenländer beeindruckt und beschämt zugleich: Fast hat man den Eindruck, daß die Begeisterung für die europäische Idee dort am größten ist, wo der Weg zu einer Mitgliedschaft in der EU noch am weitesten ist. In den alten Mitgliedsländern ist eine ziemlich provinzielle Beschränkung auf eine westeuropäische Identität festzustellen, verbunden mit wachsender Diskrepanz zwischen europäischer Politik und dem Bewußtsein der Bevölkerung.
Verheugen kritisiert die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Eliten in den Mitgliedsländern, die in der Regel von der Notwendigkeit der Einigung Europas überzeugt sind, aber wenig dafür tun, diese Überzeugung zu verbreiten. Auf Dauer, mahnt er, werde sich Europa als bloßes Eliteprojekt nicht halten können. Nötig sei daher "die Kraft des Vorbilds" überzeugter Europäer. Sein besonderer Zorn (und auch sein Ärger als langjähriger Kommissar) gilt der beliebten Praxis, "Brüssel" für Probleme verantwortlich zu machen, die man auf nationaler Ebene verursacht hat. "Dieselben Branchen, die auf ihren Verbandstagen über Überregulierung klagen, erscheinen wenig später in Brüssel, um neue Vorschriften zu fordern." Zum Beispiel die oft gescholtene Norm für Traktorsitze: Die geht auf die Initiative eines deutschen Bundeslandes zurück, in dem ein Traktorhersteller mit hohem Sicherheitsstandard ansässig ist. Verheugen wehrt sich auch gegen überzogene Kritik am Demokratiedefizit der EU. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, daß sich die Kommission schärfere parlamentarische Kontrolle gefallen lassen muß als jede nationale Regierung und daß die Kommission mit etwas mehr als 20 000 Bediensteten weniger Menschen beschäftigt als etwa die Stadtverwaltung von Köln.
Die anschauliche Schilderung einer um Effizienz bemühten und von Respekt vor dem Bürger getragenen Kommissionsarbeit hindert ihn freilich nicht, verhalten Reformen anzumahnen: "Es ist in der Tat schwer einzusehen, weshalb nicht überall dort, wo die Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität in die Gemeinschaftspolitik überführt haben, dieselben demokratischen Standards gelten sollten wie in den einzelnen Ländern auch. Dazu müßten die nationalen Vetorechte abgeschafft werden, die Mehrheitsentscheidung müßte in allen Gemeinschaftspolitiken die Regel sein, und die Gesetzgebung müßte sich im hellen Licht der Öffentlichkeit abspielen."
Beim Durchgang durch die verschiedenen Felder der Gemeinschaftspolitik fällt Verheugen manches auf, was dringend verbesserungsbedürftig ist. In die europäische Forschung müßte viel mehr investiert werden, die europäische Rüstungsindustrie muß durch Integration wettbewerbsfähig gemacht werden, die europäische Weltraumpolitik bedarf stärkerer Beachtung und weiterer Förderung. Verheugen beklagt die irrationale Marktöffnungsphobie und beschreibt die Überprüfung des gesamten Rechtsbestandes der EU, die er gegenwärtig als Industriekommissar zu verantworten hat, als "wichtigen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung".
Mit den Reformanstrengungen verbindet er die Vision einer EU, die als "globaler Akteur" auftritt - mit den Vereinigten Staaten wirtschaftlich eng verflochten und freundschaftlich verbunden, aber doch unabhängig und eigenständig. Europa, so sein Plädoyer, sollte nicht fehlen, wenn Washington seine Weltmachtstellung mit anderen aufstrebenden Mächten teilen müßte. Folglich plädiert er auch für eine Weiterentwicklung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Eröffnung einer Beitrittsperspektive für die Türkei fordert er nicht nur im Hinblick auf ihre Demokratisierung, sondern auch mit geostrategischen Argumenten. Ob diesen nicht auch mit der aktiven Nachbarschaftspolitik Rechnung getragen werden könnte, die er für die anderen Anrainer der EU empfiehlt, diskutiert er nicht weiter.
Verheugen richtet freilich nicht nur Appelle an seine Leser, er macht auch Mut. Der Bericht über die große Erweiterungsrunde, die zum Beitritt von zehn neuen Mitgliedern zum 1. Mai 2004 geführt hat, läßt deutlich werden, wie eine geschickte Politik Schwierigkeiten meistern kann, die vielfach als unüberwindlich galten. In der EU-Kommission von Jacques Delors hielt man die Ost-Erweiterung Anfang der neunziger Jahre für ein Projekt, über das man vielleicht in 25 Jahren ernsthaft sprechen könnte. Tatsächlich wurde sie 2004 realisiert, ohne daß der Integrationsgrad Schaden genommen hätte.
Verheugen benennt eine Reihe von Politikern, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. So hat die Regierung Kohl starken Druck ausgeübt, als die meisten anderen noch zögerten. Polens Präsident Kwasniewski hat sein Land unbeirrt auf Europakurs gehalten, Papst Johannes Paul II. hat die antieuropäische Kampagne im katholischen Milieu Polens eingedämmt.
Verheugens eigene Rolle kommt nur indirekt zur Sprache. Es ist aber zu sehen, daß die Entscheidung für gleichzeitige Verhandlungen mit allen Beitrittskandidaten, verbunden mit einer kohärenten Heranführungsstrategie, für die Überwindung der vielfachen Widerstände ganz wesentlich gewesen ist. Sein Vertrauen in zuverlässige Verhandlungspartner bei den Beitrittskandidaten hat sich ebenso ausgezahlt wie sein Mut bei der Benennung ehrgeiziger Verhandlungsziele. Verheugens Bescheidenheit hat einen großen Vorzug: Sie läßt sein Plädoyer für mehr Europa glaubwürdig erscheinen.
WILFRIED LOTH
Günter Verheugen: Europa in der Krise. Für eine Neubegründung der europäischen Idee. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 231 Seiten, 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein "vehementes Plädoyer für das zusammenwachsende Europa" erblickt Franziska Augstein in diesem Buch, das der EU-Kommissar Günter Verheugen vorgelegt hat. Seine Erklärung der EU - wozu sie da ist, wie sie funktioniert und was sie alles schon erreicht hat - lobt Augstein als "klar und anschaulich". Sie hebt hervor, dass Verheugen keine Schönfärberei betreibt und eben deshalb zu überzeugen vermag. Mit den zahllosen Europamuffeln und Kritikern aus Politik und Medien, die die EU schlecht reden, gehe er hart ins Gericht. So willig Verheugen den Bürgern erkläre, was sie an der EU haben, so enerviert sei er über "die politische Klasse der Mitgliedsstaaten". Diese müsse endlich begreifen, zitiert Augstein den Autor zustimmend, "dass sich nationale und europäische Verantwortung nicht mehr voneinander trennen lassen".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH