Kristjan Knalls Betrachtungen sind garantiert "politisch unkorrekt". Er reist durch Europa. Ein unbekannter Erdteil. Wenn Sie meinen, hier irrt der Werbetexter, dann begleiten Sie den Autor in die noch nicht von Birkenstocksandalen zertretenen Winkel: in die Bronx von Wien; nach Bosnien zur Balkanmukke; nach Transnistrien, der Parodie eines Staates; nach Dublin, wo der IRA-Soundtrack zu hören ist; zu Punk meets Hippie hinter den sieben Bergen bei Küstrin; nach Istanbul auf einen Tee für 200 Euro, bei dem die Rechnung von fünf Muskelkemals präsentiert wird. Die Sicht des Autors auf Land und Leute, Mentalität und Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2015Alkoholäquator und dunkler Tourismus
Der Berliner Autor Kristjan Knall verlässt als am Alltag teilnehmender Traveller und Antithese zum Touristen die deutsche Komfortzone, um in Europa die "toten Winkel des Kapitalismus" und "Relikte aus dem grauen Sozialismus" zu erkunden. Er tut dies auf eine höchst schnodderige Weise, Klischees aushöhlend, indem er sie überspitzt ("Frittieren ist die Superpower der Belgier"). Sein anarchisches Anti-Europa-Buch ist eine konsum- und kommunismuskritische, angenehm ideologiefreie Zeitreise und desillusionierende Geisterfahrt nach Absurdistan und seinen Ablegern zwischen Korruption (Vatikan) und Kulissenhaftigheit (Venedig), ein sprachlich nonchalantes Lustwandeln von prekären Pariser Banlieues als "Servicewüsten" über das blitzblanke Salzburg, dem er einen "Herzigkeitshirnschlag" attestiert, bis hin zu Bankenparadiesen und "Parasiten" wie Luxemburg. Es erkundet Estland als "Oberflächensozialstaat" und "Echtzeitdisneyland" oder Hippie-Nachwehen in Christiania als Anschein von Alternative. Knalls Reise durch die dunklen Ränder und Länder Europas führt zum "Zwergeinhornstaat" Island ("Björk ist der ideale Soundtrack für Selbstmitleid") oder zu den Nordratioanalmenschen Norwegens. Der Leser erfährt, dass es in Finnland das aktive Verb "selbstmorden" gibt oder dass der "Alkoholäquator zwischen Spaß- und Frustsaufen" etwa an den Alpen liegt. Der schwarze Reiseführer macht Stopps in der "Top-Dark-Tourism-Destination Verdun", bei Draculas Schloss in Transsilvanien oder durchstreift mit leichtem Fuß und spitzer Feder den Balkan als "wunderbares Bürgerkriegsgebiet". In einem unorthodoxen Duktus macht das amüsierende wie ernüchternde, mit skurrilen Statistiken unterfütterte Buch historische Irrungen, Verwirrungen, Verzerrungen im Wettbewerb der Weltwirtschaft, Kriege, Krisen, Konflikte und postsozialistische Traumata deutlich. Es zeigt im satirischen Zerrspiegel, wie stolze Nationen zu kapitalistischen Laufburschen, Grenzposten der globalen Vergnügungsgesellschaft, zu bloßen Gefangenen ihrer "Gottesfurchtstruktur", religiöser, monetärer und ideologischer Heilsversprechen wurden. Einziger Wermutstropfen ist bei allem Spaß an politischer Unkorrektheit Knalls Hang zu Kraftausdrücken, die der humorbegabte und beobachtungsgenaue Autor gar nicht nötig hätte.
sg
"Europa ist geil, nur hier nicht. Vorurteile fürs Handgepäck" von Kristjan Knall. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2015. 272 Seiten, einige Abbildungen. Broschiert, 12,99 Euro..
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Berliner Autor Kristjan Knall verlässt als am Alltag teilnehmender Traveller und Antithese zum Touristen die deutsche Komfortzone, um in Europa die "toten Winkel des Kapitalismus" und "Relikte aus dem grauen Sozialismus" zu erkunden. Er tut dies auf eine höchst schnodderige Weise, Klischees aushöhlend, indem er sie überspitzt ("Frittieren ist die Superpower der Belgier"). Sein anarchisches Anti-Europa-Buch ist eine konsum- und kommunismuskritische, angenehm ideologiefreie Zeitreise und desillusionierende Geisterfahrt nach Absurdistan und seinen Ablegern zwischen Korruption (Vatikan) und Kulissenhaftigheit (Venedig), ein sprachlich nonchalantes Lustwandeln von prekären Pariser Banlieues als "Servicewüsten" über das blitzblanke Salzburg, dem er einen "Herzigkeitshirnschlag" attestiert, bis hin zu Bankenparadiesen und "Parasiten" wie Luxemburg. Es erkundet Estland als "Oberflächensozialstaat" und "Echtzeitdisneyland" oder Hippie-Nachwehen in Christiania als Anschein von Alternative. Knalls Reise durch die dunklen Ränder und Länder Europas führt zum "Zwergeinhornstaat" Island ("Björk ist der ideale Soundtrack für Selbstmitleid") oder zu den Nordratioanalmenschen Norwegens. Der Leser erfährt, dass es in Finnland das aktive Verb "selbstmorden" gibt oder dass der "Alkoholäquator zwischen Spaß- und Frustsaufen" etwa an den Alpen liegt. Der schwarze Reiseführer macht Stopps in der "Top-Dark-Tourism-Destination Verdun", bei Draculas Schloss in Transsilvanien oder durchstreift mit leichtem Fuß und spitzer Feder den Balkan als "wunderbares Bürgerkriegsgebiet". In einem unorthodoxen Duktus macht das amüsierende wie ernüchternde, mit skurrilen Statistiken unterfütterte Buch historische Irrungen, Verwirrungen, Verzerrungen im Wettbewerb der Weltwirtschaft, Kriege, Krisen, Konflikte und postsozialistische Traumata deutlich. Es zeigt im satirischen Zerrspiegel, wie stolze Nationen zu kapitalistischen Laufburschen, Grenzposten der globalen Vergnügungsgesellschaft, zu bloßen Gefangenen ihrer "Gottesfurchtstruktur", religiöser, monetärer und ideologischer Heilsversprechen wurden. Einziger Wermutstropfen ist bei allem Spaß an politischer Unkorrektheit Knalls Hang zu Kraftausdrücken, die der humorbegabte und beobachtungsgenaue Autor gar nicht nötig hätte.
sg
"Europa ist geil, nur hier nicht. Vorurteile fürs Handgepäck" von Kristjan Knall. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2015. 272 Seiten, einige Abbildungen. Broschiert, 12,99 Euro..
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