Marktplatzangebote
18 Angebote ab € 2,20 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Daß Andrzej Szczypiorski nicht nur ein großer Erzähler, sondern auch ein brillanter Essayist ist, hat er schon mit Notizen zum Stand der Dinge bewiesen. Nun liegen in einem Band all die Reden und Essays vor, mit denen Szczypiorski in den letzten Jahren in aller Munde war, allem voran die Rede zum Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands, am 3. Oktober 1994 in Bremen.

Produktbeschreibung
Daß Andrzej Szczypiorski nicht nur ein großer Erzähler, sondern auch ein brillanter Essayist ist, hat er schon mit Notizen zum Stand der Dinge bewiesen. Nun liegen in einem Band all die Reden und Essays vor, mit denen Szczypiorski in den letzten Jahren in aller Munde war, allem voran die Rede zum Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands, am 3. Oktober 1994 in Bremen.
Autorenporträt
Andrzej Szczypiorski, geboren 1928 in Warschau, nach der Teilnahme am Aufstand dieser Stadt 1944 im KZ, 1981 interniert, Mitglied des Vorstandes des polnischen PEN-Clubs. Der Autor verstarb 2000 in Warschau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.1997

Ein Gefangener seiner Befreier
Erinnern heißt Verständnis suchen - Andrzej Szczypiorskis Reden und Essays seit 1990 · Von Gerhard Schulz

Vom ersten Ansehen her ist dies sicher kein Buch, das sogleich Neugier erweckt. Zwar sieht einem vom Umschlag her das freundlich-kluge Gesicht von Andrzej Szczypiorski entgegen, dem literarischen Vater der unvergeßlichen Frau Irma Seidenman aus Warschau, jener "goldblonden Schönheit mit blauen Augen und schlanker Gestalt", die dennoch eine Jüdin war, und das zu einer Zeit und an einem Ort, wo Judesein einem Todesurteil gleichkam. Der Titel "Europa ist unterwegs" jedoch, so scheint es, könnte ebenso auf jeder beliebigen Publikation irgendeines beliebigen Politikers stehen. Das aber wäre ein großes Mißverständnis, denn diese zweiunddreißig "Essays und Reden" Szczypiorskis aus den Jahren zwischen 1991 und 1996 haben nichts mit selbstgerechtem Politisieren, mit den Schablonen von Festrednerei oder undurchsichtigen Prophetien zu tun. Vielmehr bilden sie zusammen ein Buch, so faszinierend zu lesen wie einer der sechs Romane von ihm, die bisher ins Deutsche übersetzt worden sind. Es handelt von Polen, Deutschen, Christen und Juden, von Warschau und Sachsenhausen, von der vergänglichen Macht Hitlers, Stalins und Honeckers, von der unsicheren Frage nach der Fortdauer aufgeklärten Denkens, und es handelt von der Kraft des Gewissens, von Sprache, Kunst, Liebe und Tod. Umspannt also wird ein sehr viel größerer Raum als das Europa der Zukunft, von dem der Titel spricht.

Szczypiorski, damals zwanzig, hat an dem Warschauer Aufstand Anfang August 1944 gegen die deutsche Besatzung teilgenommen, der mit der völligen Zerstörung der Stadt endete. Danach wurde er in deutsche Konzentrationslager verschleppt. Mit dem Erinnern freilich macht er es sich schwer, denn es heißt für ihn nach Verständnis suchen; Anklagen wäre leichter gewesen, weil da nur längst Bekanntes und Gesagtes wiederholt werden müßte. War zum Beispiel das Attentat des Grafen Stauffenberg auf Hitler Ausdruck des Widerstands gegen den Nationalsozialismus oder nur der Versuch, zu später Stunde von Deutschland und damit vom eigenen Status zu retten, was noch zu retten war? Dies ist eine Meinung, die insbesondere von kommunistischer Seite vertreten wurde, weil man sich dort allein jeden wahren Widerstand und Antifaschismus zuschrieb.

Szczypiorski hält dagegen - die Polemik ist von der Kritik in der polnischen Presse an einer Gedenktafel für ihn provoziert -, daß der Heroismus Stauffenbergs geradezu "antike Ausmaße" besessen habe. "Er mußte sich von aller Solidarität mit der eigenen Nation, die gerade die Prüfung des Krieges erlebte, lossagen. Er mußte sich von seiner preußischen, adligen, aristokratischen, militärischen, familiären Tradition lossagen. Er mußte sich wortwörtlich von allem lossagen, um das Eine zu retten - das Gewissen und die Menschenwürde in der Uniform der deutschen Wehrmacht." Wer das zu tun den Mut hatte, wollte nicht Schaden begrenzen, sondern "im Lärm des moralischen Relativismus und im Getöse totalitärer Beschwörungen" aus dem "Gefühl individueller Verantwortung" eine "Wahl zwischen Gut und Böse" treffen. In Szczypiorskis Augen hat ihn das zum Europäer gemacht, was denn zugleich zeigt, daß das Europa, das er meint, durch ethische Fundamente und nicht durch Verteidigungsbündnisse oder Wirtschaftsunionen definiert wird.

"Heroismus" ist kein allzu lautes, unangemessenes Wort. Die totalitären Systeme haben moralische Entscheidungen derartig schwer gemacht, daß durchschnittliche Kraft für sie nicht mehr ausreicht. Im gleichen Maße aber sind auch geschichtliche Urteile, die sich auf sie beziehen, kompliziert geworden. Dreimal, so erzählt Szczypiorski, habe er das Kriegsende erlebt, einmal als ihn russische Soldaten aus dem Konzentrationslager befreiten, ein zweites Mal, als er sich aus dem brennenden Köpenick auf den Heimweg nach Polen machte, und ein drittes Mal fünfundvierzig Jahre später. Als Repräsentant des polnischen Parlaments ist er 1990 beim Abzug der sowjetischen Truppen zugegen und kommentiert ihn mit dem bemerkenswerten Satz: "Sie waren zu mir gekommen, hinter den Stacheldraht des KZ Sachsenhausen, um mich zu befreien. Später aber nahmen sie mir die Freiheit fast für das ganze Leben."

Denn woran erinnert werden muß: Das Werk des Schriftstellers Andrzej Szczypiorski ist unter der Doktrin des sozialistischen Realismus entstanden wie das der Autorinnen und Autoren der ehemaligen DDR, soweit sie diesen Staat nicht verließen. Das ist zwar lediglich die Feststellung einer einfachen biographischen Tatsache, aber sie überrascht dennoch, weil sie zugleich einen Unterschied offenlegt. Der Staat von Ulbricht und Honecker war deutscher realer Sozialismus, und das war etwas sehr anderes als der Sozialismus der Polen oder selbst derjenige der Sowjetunion. Der Gegensatz zwischen Polen und Deutschen ist eines der Themen dieses gesamten Buches, teils weil eine Reihe der Reden unmittelbar an deutsche Zuhörer gerichtet ist, teils aber auch, weil nur das Verständnis der Besonderheiten des anderen die Voraussetzung für eine zukünftige gute Nachbarschaft auf dem Weg nach Europa sein kann. Gewiß - ein Satz wie "Die Deutschen sind von ihrem Charakter her Perfektionisten, die Polen das Gegenteil" mag in solcher Allgemeinheit zum Widerspruch herausfordern, denn "Nationalcharaktere" sind ein Tummelplatz für Vorurteile, und man sieht gern in sie hinein, was man hineinsehen möchte. Aber allein die Tatsache, daß in der sogenannten DDR-Literatur schwerlich zu finden sein wird, was sich mit Szczypiorskis Romanen wie mit der Weitsicht und Freiheit seines Denkens vergleichen läßt, gibt zu denken.

Der Marxismus hatte für sich in Anspruch genommen, Erbe und Vollendung der Aufklärung zu sein, indem er im Sinne aufgeklärter Ideen die Geschichte beherrschbar zu machen glaubte. Das Resultat ist bekannt. Die Frage, ob dergleichen auch den Konkurs der Ideen selbst bedeute, beschäftigt nun Szczypiorski immer wieder, denn es fehlt ihm die Arroganz, sich am Ende der Geschichte zu wähnen oder sie als eine bloße Fiktion aus dem Nachdenken und damit der Verantwortung zu entlassen. "Die große ideelle Auseinandersetzung von über zehn Generationen existiert nicht mehr", heißt es in der Passauer Rede von 1995 und deutlicher noch im Essay über "Das Lager", über KZ und GULag, diese monströsen Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts zur Massentötung: "Auf der Schwelle des Lagers endet das Europa der Aufklärung." Das Lager aber "ist das Nichts. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts tragen wir alle das Lager in uns. Das ganze Leben wird zur Wahl. Für oder gegen das Lager. Für oder gegen das Nichts." Gewissen und Demut sind deshalb dem Christen Szczypiorski letzte Mittel zur Orientierung in einer Welt, die Gott den Menschen zur freien Verfügung gestellt hat.

Andrzej Szczypiorski: "Europa ist unterwegs". Essays und Reden. Aus dem Polnischen übersetzt von Klaus Staemmler. Diogenes Verlag, Zürich 1996. 365 S., geb., 42,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"The hitherto all-too-rare voices of practical reconciliation between nations are essential for the impending Sisyphean task of breathing new life into deceased Europe."(Sender Freies Berlin)
"The great narrator Szczypiorski shows that the great works of world literature such as Die schöne Frau Seidenman (Beautiful Frau Seidenman) and Eine Messe für die Stadt Arras (A Mass for the Town of Arras) did not originate in ivory towers; important insights of a writer and politically active man during a time of upheaval in Eastern Europe."(From the commendation for the award of the Nelly Sachs Prize 1989)