Die Europäische Union hat keinen Mangel an Kritik und Akzeptanzproblemen - doch die Ursachen werden häufig an der falschen Stelle gesucht. Während viele hoffen, dass sich durch eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments das Demokratiedefizit der Union beheben lässt, zeigt Dieter Grimm, warum diese Hoffnung trügt. In grundsätzlichen Erörterungen und Einzelstudien zeigt Grimm, einer der renommiertesten deutschen Rechtswissenschaftler, dass eine Ursache für die starken Akzeptanzprobleme meist übersehen wird, nämlich die Verselbständigung der exekutiven und judikativen Organe der EU (Kommission und Europäischer Gerichtshof) von den demokratischen Prozessen in den Mitgliedstaaten und der EU selbst, die ihre Wurzel wiederum in der vom Gerichtshof vorgenommenen "Konstitutionalisierung der Verträge" hat. Er geht den Ursachen für diese problematische Entwicklung nach und bietet Vorschläge zu ihrer Korrektur an.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Florian Meinel sieht in Dieter Grimm einen großen Skeptiker. Was der ehemalige Bundesverfassungsrichter in diesem Band in Essays, Fachbeiträgen und Vorträgen der jüngsten Zeit zum Thema Europa und seine Verfassung an Kritik und Vorschlägen anbringt, sorgt beim Rezensenten für Respekt. Schon weil der Autor ein so eminenter Kenner des Konstitutionalismus ist, wie Meinel findet. Ferner, da Grimm der EU auf die Weise nachweisen kann, wie wenig sie zwischen Verfassung und Vertrag, Recht und Politik zu unterscheiden imstande ist. Das ist laut Meinel viel mehr als konservative Europakritik, das ist der konkrete Aufruf zu einer Europäisierung des Europäischen Parlaments und offen politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene. Eines allerdings gibt der Rezensent zu bedenken: Auch wenn sie bei Grimm nicht vorkommen, so gibt es doch Mitgliedstaaten, die vermeintliche Fremdbestimmung als Garant für Rechtsstaatlichkeit sehen. Das Buch liest sich für Meinel eben auch als spezielle "Verlustgeschichte einer westdeutschen Generation".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.02.2016Die dunkle Seite
Der Staatsrechtler Dieter Grimm zeigt auf, wie das viel beklagte Demokratiedefizit in Europa zustande kam.
Er diagnostiziert eine folgenschwere Verlagerung von Kompetenzen – sie hatte sogar Züge eines verdeckten Putsches
VON ROLF LAMPRECHT
Die Geschichte der EU ist auch die Geschichte einer schleichenden illegitimen Machtübernahme. Zu dieser Erkenntnis verhilft das neueste Werk eines renommierten deutschen Staatsrechtlers. Seine Analyse fördert zutage, was „weithin unter der Aufmerksamkeitsschwelle der Politik und des Publikums“ verlief – eine folgenschwere Verlagerung von Kompetenzen, die „auf leisen Sohlen“ daher kam.
Der strenge Autor ist – das bleibt festzuhalten – kein Gegner, sondern ein Freund Europas. Dieter Grimm, Professor für öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-universität und der berühmten amerikanischen Yale Law School, hält die europäische Integration für „eine Notwendigkeit“, ist zugleich aber von der „tiefen Sorge erfüllt“, dass sie „auf dem falschen Weg“ ist. Das drückt auch der Titel seines Buches aus: „Europa ja – aber welches?“
Der Autor prüft mit kritischem Blick, wie es zu dem Demokratiedefizit gekommen ist, an dem die Gemeinschaft letztlich scheitern könnte. Wann tat sich die Kluft zwischen der „anfänglichen Europa-Euphorie“ und der „heutigen Europa-Lethargie“ auf? Grimm geht den Ursachen auf den Grund. Seine Einsichten lassen den Atem stocken – nicht, weil er sensationelle Neuigkeiten entdeckt, sondern weil er verblüffende Zusammenhänge herstellt, die so deutlich bisher keiner herausgearbeitet hat. Warum nicht? „Es galt ein unausgesprochenes Kritikverbot, damit das europäische Projekt nicht gefährdet würde.“ Der ehemalige Karlsruher Verfassungsrichter (von 1987 bis 1999) zeigt da keine Berührungsscheu.
Dieter Grimm lenkt den Blick auf Eingriffe, die Züge eines verdeckten Putschs an sich haben. Die Rede ist von zwei Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die weit zurückliegen. Doch diese Rechtsprechung von 1963 und 1964 ist nicht Geschichte, sondern bittere Gegenwart. Sie wirkt bis heute fort, sie perpetuiert die Schieflage der EU – und sie ist schuld an der mangelnden Akzeptanz in Europa. Diese Konsequenzen haben die Experten erst spät erkannt, die meisten Politiker gar nicht.
Grimm bringt die „Umwälzung“ auf den Punkt. Sprengkraft habe vor allem das eine Urteil entwickelt: „Indem es für das Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht beanspruchte, selbst vor dem höchsten nationalen Recht, der Verfassung.“ Damit habe sich der EuGH, so der Autor, „das Tor zu seinem Verständnis der Verträge selbst geöffnet“.
Was dem Nichtjuristen wie ein Staatsstreich vorkommt, empfanden Experten immerhin „als revolutionär“ – „zu Recht“, wie Grimm anmerkt. Er öffnet dem Laien die Augen für den Trick des EuGH. Dazu muss man wissen, dass – nach den Regeln der Kunst – auch im Völkerrecht Verträge wie Verträge ausgelegt werden – „am Willen der vertragschließenden Parteien“ orientiert und damit entsprechend „eng“. Doch der EuGH schuf sich „mit missionarischem Eifer“ eine eigene „Agenda“. Er interpretierte die Verträge „wie eine Staatsverfassung, nämlich mehr oder weniger losgelöst von dem Willen der Mitgliedstaaten“. Diese Rechtsprechung veränderte, so Grimm, den „Charakter“ der Verträge: „Auf eine kurze Formel gebracht, sind sie konstitutionalisiert worden“ – mit verheerenden Konsequenzen.
Der Jurist erinnert in seinem Privatissimum daran, dass eine Verfassung normalerweise aus überschaubaren Regeln besteht: über Ziele, Organe, Kompetenzen, Verfahren, Grundrechte. „Je mehr sie mit Gegenständen der Gesetzgebung angefüllt wird, desto weniger Demokratie ist möglich.“ Eben dies passiert permanent.
In der EU rangieren selbst Peanuts auf der obersten Ebene der Normen-Hierarchie. Die Verträge sind, so Grimm, „voll von Regeln, die im Staat auf der Ebene des einfachen Rechts geregelt wären“ – in der Öffentlichkeit diskutiert und im Parlament verabschiedet. In der EU dagegen sind solche Regeln in schwindelerregender Höhe angesiedelt. Dort „wird ihre Anwendung durch den EuGH quasi Verfassungsvollzug“ – dies am Rat und am EU-Parlament vorbei, „außerhalb der demokratischen Prozesse“, mit „tiefen Eingriffen in lang gewachsenen mitgliedstaatliche Strukturen“.
Die Wissenschaft brachte die Entwicklung auf einen Begriff: „Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration“. Negativ meint Liquidation nationalen, positiv Schaffung europäischen Rechts. Die Praxis zeigt: Es wurde fortan „leichter, nationales Recht zu beseitigen, als europäisches Recht zu erzeugen“. Für die Unanwendbarkeit nationalen Rechts genügte ein Richterspruch, die Setzung europäischen Rechts erforderte Einstimmigkeit unter 28 Staats- und Regierungschefs.
Im Nachhinein erklärt sich, warum vieles am Anfang nicht gesehen wurde. „Die fallübergreifende Wirkung eines Urteils“, betont Grimm, wird oft „erst sichtbar, wenn es sich zur ‚ständigen Rechtsprechung‘ verdichtet hat.“ So stellte sich heraus: Die Mitgliedstaaten der EU sind „nicht mehr in der Lage“, ihre eigenen Schutzstandards, etwa für den Konsumentenschutz, den Arbeitsschutz, den Gesundheitsschutz aufrechtzuerhalten. Und das Verbot staatlicher Beihilfen hat „zur Privatisierung zahlreicher öffentlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge geführt, ohne Rücksicht darauf, ob der Markt gleichwertige Leistungen erbringen kann“.
Der Preis, den die Gemeinschaft fordert, ist hoch. Zu hoch? Es kann passieren, beklagt der Autor, „dass ein Staat Entscheidungen unterworfen wird, die er im nationalen demokratischen Prozess abgelehnt hat“. Schlimmer noch: Er muss sie obendrein vertreten. Ein Teufelskreis.
Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof treffen Entscheidungen, die massiv in das Leben von mehr als 500 Millionen Bürgern eingreifen – aber sie müssen sich für ihr Tun nicht demokratisch verantworten. Parlamentarier und Politiker der Nationalstaaten werden von ihren Wählern für Entscheidungen verantwortlich gemacht, die sie nicht getroffen haben, aber vollziehen müssen – selbst solche, die sie für falsch halten.
Bei dem administrativen Durchmarsch, der die Gesellschaft mehr veränderte als jede Revolution, ging klammheimlich der demokratische Prozess verloren. Die Bürger werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie können, anders als auf nationaler Ebene, am Zustandekommen von EU-Normen weder passiv noch aktiv teilhaben. Es gibt keinen öffentlichen Diskurs und keine parlamentarische Debatte, nur eine EU-Verordnung mit Gesetzeskraft oder ein EuGH-Urteil mit Bindungswirkung, die wie der Blitz aus heiterem Himmel kommen. In dieser „Verselbständigung der exekutiven und judikativen Organe von den politischen Organen der EU und dem Willen der Mitgliedstaaten“ sieht Grimm „das eigentliche Demokratieproblem der EU“.
Selbst die europäischen Wahlen schaffen, was das Demokratiedefizit anbelangt, keine Abhilfe. Die Parteien, die der Bürger wählen kann, „sind nicht die Akteure im Europäischen Parlament“, „die Fraktionen, die dort als Akteure auftreten, kann man nicht wählen“.
Das Buch widerspiegelt den Reichtum an Erfahrungen, die der Autor in Jahrzehnten als Wissenschaftler, Hochschullehrer und Verfassungsrichter gesammelt hat. Ein epochales Werk, dem zu wünschen ist, dass die Adressaten seinen Rat ernst nehmen: Die Verträge auf einen „verfassungsartigen Teil“ zu beschränken und alles andere „auf die Ebene einfachen Rechts“ herabzustufen. „Damit in der EU möglich wird, was in jedem demokratischen Staat möglich ist: dass der Kurs der Rechtsprechung für die Zukunft politisch durch das Gesetz geändert werden kann.“
Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Korrespondent bei den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.
Zwei Urteile des EuGH
aus den 60er Jahren
perpetuieren die Schieflage
Selbst Wahlen
auf europäischer Ebene
schaffen keine Abhilfe
Dieter Grimm,
Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der euro-
päischen Demokratie.
Verlag C.H. Beck 2016,
288 Seiten, 24,95 Euro.
Europa in der Hitparade? Das war einmal – heute rangiert Europa bei vielen nur noch unter ferner liefen.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Staatsrechtler Dieter Grimm zeigt auf, wie das viel beklagte Demokratiedefizit in Europa zustande kam.
Er diagnostiziert eine folgenschwere Verlagerung von Kompetenzen – sie hatte sogar Züge eines verdeckten Putsches
VON ROLF LAMPRECHT
Die Geschichte der EU ist auch die Geschichte einer schleichenden illegitimen Machtübernahme. Zu dieser Erkenntnis verhilft das neueste Werk eines renommierten deutschen Staatsrechtlers. Seine Analyse fördert zutage, was „weithin unter der Aufmerksamkeitsschwelle der Politik und des Publikums“ verlief – eine folgenschwere Verlagerung von Kompetenzen, die „auf leisen Sohlen“ daher kam.
Der strenge Autor ist – das bleibt festzuhalten – kein Gegner, sondern ein Freund Europas. Dieter Grimm, Professor für öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-universität und der berühmten amerikanischen Yale Law School, hält die europäische Integration für „eine Notwendigkeit“, ist zugleich aber von der „tiefen Sorge erfüllt“, dass sie „auf dem falschen Weg“ ist. Das drückt auch der Titel seines Buches aus: „Europa ja – aber welches?“
Der Autor prüft mit kritischem Blick, wie es zu dem Demokratiedefizit gekommen ist, an dem die Gemeinschaft letztlich scheitern könnte. Wann tat sich die Kluft zwischen der „anfänglichen Europa-Euphorie“ und der „heutigen Europa-Lethargie“ auf? Grimm geht den Ursachen auf den Grund. Seine Einsichten lassen den Atem stocken – nicht, weil er sensationelle Neuigkeiten entdeckt, sondern weil er verblüffende Zusammenhänge herstellt, die so deutlich bisher keiner herausgearbeitet hat. Warum nicht? „Es galt ein unausgesprochenes Kritikverbot, damit das europäische Projekt nicht gefährdet würde.“ Der ehemalige Karlsruher Verfassungsrichter (von 1987 bis 1999) zeigt da keine Berührungsscheu.
Dieter Grimm lenkt den Blick auf Eingriffe, die Züge eines verdeckten Putschs an sich haben. Die Rede ist von zwei Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die weit zurückliegen. Doch diese Rechtsprechung von 1963 und 1964 ist nicht Geschichte, sondern bittere Gegenwart. Sie wirkt bis heute fort, sie perpetuiert die Schieflage der EU – und sie ist schuld an der mangelnden Akzeptanz in Europa. Diese Konsequenzen haben die Experten erst spät erkannt, die meisten Politiker gar nicht.
Grimm bringt die „Umwälzung“ auf den Punkt. Sprengkraft habe vor allem das eine Urteil entwickelt: „Indem es für das Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht beanspruchte, selbst vor dem höchsten nationalen Recht, der Verfassung.“ Damit habe sich der EuGH, so der Autor, „das Tor zu seinem Verständnis der Verträge selbst geöffnet“.
Was dem Nichtjuristen wie ein Staatsstreich vorkommt, empfanden Experten immerhin „als revolutionär“ – „zu Recht“, wie Grimm anmerkt. Er öffnet dem Laien die Augen für den Trick des EuGH. Dazu muss man wissen, dass – nach den Regeln der Kunst – auch im Völkerrecht Verträge wie Verträge ausgelegt werden – „am Willen der vertragschließenden Parteien“ orientiert und damit entsprechend „eng“. Doch der EuGH schuf sich „mit missionarischem Eifer“ eine eigene „Agenda“. Er interpretierte die Verträge „wie eine Staatsverfassung, nämlich mehr oder weniger losgelöst von dem Willen der Mitgliedstaaten“. Diese Rechtsprechung veränderte, so Grimm, den „Charakter“ der Verträge: „Auf eine kurze Formel gebracht, sind sie konstitutionalisiert worden“ – mit verheerenden Konsequenzen.
Der Jurist erinnert in seinem Privatissimum daran, dass eine Verfassung normalerweise aus überschaubaren Regeln besteht: über Ziele, Organe, Kompetenzen, Verfahren, Grundrechte. „Je mehr sie mit Gegenständen der Gesetzgebung angefüllt wird, desto weniger Demokratie ist möglich.“ Eben dies passiert permanent.
In der EU rangieren selbst Peanuts auf der obersten Ebene der Normen-Hierarchie. Die Verträge sind, so Grimm, „voll von Regeln, die im Staat auf der Ebene des einfachen Rechts geregelt wären“ – in der Öffentlichkeit diskutiert und im Parlament verabschiedet. In der EU dagegen sind solche Regeln in schwindelerregender Höhe angesiedelt. Dort „wird ihre Anwendung durch den EuGH quasi Verfassungsvollzug“ – dies am Rat und am EU-Parlament vorbei, „außerhalb der demokratischen Prozesse“, mit „tiefen Eingriffen in lang gewachsenen mitgliedstaatliche Strukturen“.
Die Wissenschaft brachte die Entwicklung auf einen Begriff: „Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration“. Negativ meint Liquidation nationalen, positiv Schaffung europäischen Rechts. Die Praxis zeigt: Es wurde fortan „leichter, nationales Recht zu beseitigen, als europäisches Recht zu erzeugen“. Für die Unanwendbarkeit nationalen Rechts genügte ein Richterspruch, die Setzung europäischen Rechts erforderte Einstimmigkeit unter 28 Staats- und Regierungschefs.
Im Nachhinein erklärt sich, warum vieles am Anfang nicht gesehen wurde. „Die fallübergreifende Wirkung eines Urteils“, betont Grimm, wird oft „erst sichtbar, wenn es sich zur ‚ständigen Rechtsprechung‘ verdichtet hat.“ So stellte sich heraus: Die Mitgliedstaaten der EU sind „nicht mehr in der Lage“, ihre eigenen Schutzstandards, etwa für den Konsumentenschutz, den Arbeitsschutz, den Gesundheitsschutz aufrechtzuerhalten. Und das Verbot staatlicher Beihilfen hat „zur Privatisierung zahlreicher öffentlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge geführt, ohne Rücksicht darauf, ob der Markt gleichwertige Leistungen erbringen kann“.
Der Preis, den die Gemeinschaft fordert, ist hoch. Zu hoch? Es kann passieren, beklagt der Autor, „dass ein Staat Entscheidungen unterworfen wird, die er im nationalen demokratischen Prozess abgelehnt hat“. Schlimmer noch: Er muss sie obendrein vertreten. Ein Teufelskreis.
Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof treffen Entscheidungen, die massiv in das Leben von mehr als 500 Millionen Bürgern eingreifen – aber sie müssen sich für ihr Tun nicht demokratisch verantworten. Parlamentarier und Politiker der Nationalstaaten werden von ihren Wählern für Entscheidungen verantwortlich gemacht, die sie nicht getroffen haben, aber vollziehen müssen – selbst solche, die sie für falsch halten.
Bei dem administrativen Durchmarsch, der die Gesellschaft mehr veränderte als jede Revolution, ging klammheimlich der demokratische Prozess verloren. Die Bürger werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie können, anders als auf nationaler Ebene, am Zustandekommen von EU-Normen weder passiv noch aktiv teilhaben. Es gibt keinen öffentlichen Diskurs und keine parlamentarische Debatte, nur eine EU-Verordnung mit Gesetzeskraft oder ein EuGH-Urteil mit Bindungswirkung, die wie der Blitz aus heiterem Himmel kommen. In dieser „Verselbständigung der exekutiven und judikativen Organe von den politischen Organen der EU und dem Willen der Mitgliedstaaten“ sieht Grimm „das eigentliche Demokratieproblem der EU“.
Selbst die europäischen Wahlen schaffen, was das Demokratiedefizit anbelangt, keine Abhilfe. Die Parteien, die der Bürger wählen kann, „sind nicht die Akteure im Europäischen Parlament“, „die Fraktionen, die dort als Akteure auftreten, kann man nicht wählen“.
Das Buch widerspiegelt den Reichtum an Erfahrungen, die der Autor in Jahrzehnten als Wissenschaftler, Hochschullehrer und Verfassungsrichter gesammelt hat. Ein epochales Werk, dem zu wünschen ist, dass die Adressaten seinen Rat ernst nehmen: Die Verträge auf einen „verfassungsartigen Teil“ zu beschränken und alles andere „auf die Ebene einfachen Rechts“ herabzustufen. „Damit in der EU möglich wird, was in jedem demokratischen Staat möglich ist: dass der Kurs der Rechtsprechung für die Zukunft politisch durch das Gesetz geändert werden kann.“
Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Korrespondent bei den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.
Zwei Urteile des EuGH
aus den 60er Jahren
perpetuieren die Schieflage
Selbst Wahlen
auf europäischer Ebene
schaffen keine Abhilfe
Dieter Grimm,
Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der euro-
päischen Demokratie.
Verlag C.H. Beck 2016,
288 Seiten, 24,95 Euro.
Europa in der Hitparade? Das war einmal – heute rangiert Europa bei vielen nur noch unter ferner liefen.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2016Dagegen ist kein demokratisches Kraut gewachsen
Gründlicher als die landläufige Kritik an Brüssel: Dieter Grimm analysiert Baufehler der Europäischen Union
Kann man über die Verfassungslage der EU heute ein Buch schreiben, in dem weder Flüchtlingskrise noch Finanzkrise vorkommen? Dieter Grimm, der es getan hat, ist ein Skeptiker der ersten Stunde. Als nach dem Vertrag von Maastricht die Rede von der Verfassung Europas aufgekommen war, bestritt der damalige Bundesverfassungsrichter Grimm in einer Kontroverse mit Jürgen Habermas das Anrecht der EU auf eine Verfassung. Einem bloß emphatischen Gebrauch des Verfassungsbegriffs hielt er damals wie heute eine historisch aufgeklärte Position der Skepsis entgegen. Grimm ist ein hervorragender Kenner des westlichen Konstitutionalismus und seiner Problemgeschichte und er weiß die Gegenwart mit diesem Erbe trefflich zu konfrontieren. Über Verfassungen zu sprechen heißt für den kategorialen Denker Grimm daher, zunächst einmal genau zu unterscheiden: zwischen Verfassung und Vertrag, zwischen Grundrechten und Demokratie, zwischen Staat und öffentlicher Gewalt, zwischen Verfassunggebung und Verfassungsanwendung, schließlich vor allem: zwischen Recht und Politik.
Die Beiträge seines neuen Buches, es sind Essays, Fachbeiträge und Vorträge aus der jüngsten Zeit, dienen dem Nachweis, dass der EU keine jener für die Verfassungsstaatlichkeit konstituierenden Unterscheidungen überzeugend gelungen ist: Ihre Gründungstexte sind Verträge, fungieren aber als Verfassung, das Europäische Parlament ist ein direkt gewähltes Organ, doch ihm fehlen eine verantwortliche Regierung als Gegenspieler und alle Elemente parlamentarischer Repräsentation: wahrhaft europäische Wahlen, wahrhaft europäische Parteien, ein europäisches Volk. Vollends im Argen liegt die Unterscheidung von Recht und Politik: In Wahrheit politische Entscheidungen werden als Gebote des Rechts verbrämt, um sie gegen Kritik zu immunisieren, während der Gerichtshof gleichzeitig in der Auslegung des Rechts einer politischen Agenda folgt, gegen die kein demokratisches Kraut gewachsen ist.
So dringt Grimms begriffliche Unterscheidungskraft viel tiefer als die landläufige konservative Europakritik: Eine volle Parlamentarisierung der EU bedeutet eben nicht notwendig schon Demokratisierung, weil sie den Rat schwächt und so die Einflusssphäre der mitgliedstaatlichen Demokratien mindert. Auch heißt Verfassung nicht schon immer Demokratie und Grundrechte. Wo bestimmte Auslegungen etwa der Vertragsartikel über wirtschaftliche Grundfreiheiten unbedingten Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht genießen, schrumpft der demokratische Entscheidungsspielraum, und gegenläufige Grundrechte werden überspielt.
Woran liegt das? Natürlich hängen die Baufehler eines Verfassungswerks immer auf die eine oder andere Weise mit seinen Entstehungsbedingungen zusammen. Grimm aber treibt die Engführung von Genealogie und Pathogenese auf die Spitze. Es war der Europäische Gerichtshof, der mit einer Ursünde alles vorweggenommen hat, indem er in einer lautlosen Revolution von oben Anfang der sechziger Jahre die Selbständigkeit und den Vorrang des Europarechts gegenüber den souveränen Mitgliedstaaten durchsetzte.
Für Grimm war es dieser Akt einer angemaßten Selbstermächtigung, der nur den Mitgliedstaaten zugestanden hätte, aus dem sich letztlich alles weitere ergab: die trotz ihres vom Parlament gewählten Präsidenten schwache Legitimation der Europäischen Kommission, das opake Aushandlungssystem des Rates, aber auch der tendenzielle Vorrang des Marktes vor politischen und sozialen Grundrechten. Die Aporien der schlecht begründeten Übertragung des Verfassungsgedankens in den supranationalen Raum setzen sich überall fort, und die verfassungsrechtliche Analyse gerät zu einer Art Schadensbesichtigung.
Grimm will die Union, aber eine andere. Was also soll sich ändern? Zumindest dreierlei: Begrenzung weiterer Kompetenzübertragungen, Europäisierung des Europäischen Parlaments durch ein europäisches Wahlrecht und europäische Parteien und mehr offen politische Entscheidungen auf der europäischen Ebene. Doch würde das der Union wirklich mehr Akzeptanz verschaffen? Und ist nicht einiges davon seit dem Vertrag von Lissabon tatsächlich geschehen? Seit die Mitgliedstaaten in den Krisen der letzten Jahre das Heft des Handelns in der Hand hatten, gibt es keinen Automatismus der Kompetenzerweiterung mehr. Das Europäische Parlament hat stark an Selbstbewusstsein gewonnen, und von Brexit bis TTIP ist an Politisierung kein Mangel.
Indessen sind die Legitimationsfragen keineswegs verstummt, die Zentrifugalkräfte sind stärker geworden, nicht in Deutschland, aber in vielen anderen Mitgliedstaaten. Sie freilich kommen bei Grimm bezeichnenderweise gar nicht vor. Doch die europäische Verfassungsfrage stellt sich in jedem Mitgliedstaat anders: Was hier als illegitime Fremdbestimmung erscheint, garantiert dort ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit.
Wolfgang Streeck, Fritz Scharpf und Hans-Magnus Enzensberger haben in den letzten Jahren sozialliberale Abgesänge auf das Europa der Gegenwart publiziert, Grimm liefert dieser Gattung nun die verfassungstheoretische Fundierung. Vielleicht sollte man jene Texte aber nicht zuletzt auch als die ganz eigene Verlustgeschichte einer westdeutschen Generation lesen: Als die parlamentarische Grundrechtsdemokratie in der Bundesrepublik vollendet war, trat Europa auf den Plan und gab die Richtung vor: den Binnenmarkt. Es bliebe aber zu ergänzen, dass dieses taktisch nützliche Amalgam von staatlichem und europäischem Recht, von europäischer Wirtschafts- und nationaler Sozialpolitik gerade auch immer das Ziel der von großen Mehrheiten getragenen deutschen Politik war. Die Bundesrepublik verdankt diesem institutionellen Arrangement und seinen ökonomischen Effekten ihre herausragende Stellung in Europa. Wo es Verfassungen gibt, sind Recht und Politik eben nie scharf zu unterscheiden. Für den historischen Konstitutionalismus verdanken wir diese Einsicht nicht zuletzt Dieter Grimm.
FLORIAN MEINEL
Dieter Grimm: "Europa ja - aber welches?" Zur Verfassung der europäischen Demokratie.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 288 S., br., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gründlicher als die landläufige Kritik an Brüssel: Dieter Grimm analysiert Baufehler der Europäischen Union
Kann man über die Verfassungslage der EU heute ein Buch schreiben, in dem weder Flüchtlingskrise noch Finanzkrise vorkommen? Dieter Grimm, der es getan hat, ist ein Skeptiker der ersten Stunde. Als nach dem Vertrag von Maastricht die Rede von der Verfassung Europas aufgekommen war, bestritt der damalige Bundesverfassungsrichter Grimm in einer Kontroverse mit Jürgen Habermas das Anrecht der EU auf eine Verfassung. Einem bloß emphatischen Gebrauch des Verfassungsbegriffs hielt er damals wie heute eine historisch aufgeklärte Position der Skepsis entgegen. Grimm ist ein hervorragender Kenner des westlichen Konstitutionalismus und seiner Problemgeschichte und er weiß die Gegenwart mit diesem Erbe trefflich zu konfrontieren. Über Verfassungen zu sprechen heißt für den kategorialen Denker Grimm daher, zunächst einmal genau zu unterscheiden: zwischen Verfassung und Vertrag, zwischen Grundrechten und Demokratie, zwischen Staat und öffentlicher Gewalt, zwischen Verfassunggebung und Verfassungsanwendung, schließlich vor allem: zwischen Recht und Politik.
Die Beiträge seines neuen Buches, es sind Essays, Fachbeiträge und Vorträge aus der jüngsten Zeit, dienen dem Nachweis, dass der EU keine jener für die Verfassungsstaatlichkeit konstituierenden Unterscheidungen überzeugend gelungen ist: Ihre Gründungstexte sind Verträge, fungieren aber als Verfassung, das Europäische Parlament ist ein direkt gewähltes Organ, doch ihm fehlen eine verantwortliche Regierung als Gegenspieler und alle Elemente parlamentarischer Repräsentation: wahrhaft europäische Wahlen, wahrhaft europäische Parteien, ein europäisches Volk. Vollends im Argen liegt die Unterscheidung von Recht und Politik: In Wahrheit politische Entscheidungen werden als Gebote des Rechts verbrämt, um sie gegen Kritik zu immunisieren, während der Gerichtshof gleichzeitig in der Auslegung des Rechts einer politischen Agenda folgt, gegen die kein demokratisches Kraut gewachsen ist.
So dringt Grimms begriffliche Unterscheidungskraft viel tiefer als die landläufige konservative Europakritik: Eine volle Parlamentarisierung der EU bedeutet eben nicht notwendig schon Demokratisierung, weil sie den Rat schwächt und so die Einflusssphäre der mitgliedstaatlichen Demokratien mindert. Auch heißt Verfassung nicht schon immer Demokratie und Grundrechte. Wo bestimmte Auslegungen etwa der Vertragsartikel über wirtschaftliche Grundfreiheiten unbedingten Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht genießen, schrumpft der demokratische Entscheidungsspielraum, und gegenläufige Grundrechte werden überspielt.
Woran liegt das? Natürlich hängen die Baufehler eines Verfassungswerks immer auf die eine oder andere Weise mit seinen Entstehungsbedingungen zusammen. Grimm aber treibt die Engführung von Genealogie und Pathogenese auf die Spitze. Es war der Europäische Gerichtshof, der mit einer Ursünde alles vorweggenommen hat, indem er in einer lautlosen Revolution von oben Anfang der sechziger Jahre die Selbständigkeit und den Vorrang des Europarechts gegenüber den souveränen Mitgliedstaaten durchsetzte.
Für Grimm war es dieser Akt einer angemaßten Selbstermächtigung, der nur den Mitgliedstaaten zugestanden hätte, aus dem sich letztlich alles weitere ergab: die trotz ihres vom Parlament gewählten Präsidenten schwache Legitimation der Europäischen Kommission, das opake Aushandlungssystem des Rates, aber auch der tendenzielle Vorrang des Marktes vor politischen und sozialen Grundrechten. Die Aporien der schlecht begründeten Übertragung des Verfassungsgedankens in den supranationalen Raum setzen sich überall fort, und die verfassungsrechtliche Analyse gerät zu einer Art Schadensbesichtigung.
Grimm will die Union, aber eine andere. Was also soll sich ändern? Zumindest dreierlei: Begrenzung weiterer Kompetenzübertragungen, Europäisierung des Europäischen Parlaments durch ein europäisches Wahlrecht und europäische Parteien und mehr offen politische Entscheidungen auf der europäischen Ebene. Doch würde das der Union wirklich mehr Akzeptanz verschaffen? Und ist nicht einiges davon seit dem Vertrag von Lissabon tatsächlich geschehen? Seit die Mitgliedstaaten in den Krisen der letzten Jahre das Heft des Handelns in der Hand hatten, gibt es keinen Automatismus der Kompetenzerweiterung mehr. Das Europäische Parlament hat stark an Selbstbewusstsein gewonnen, und von Brexit bis TTIP ist an Politisierung kein Mangel.
Indessen sind die Legitimationsfragen keineswegs verstummt, die Zentrifugalkräfte sind stärker geworden, nicht in Deutschland, aber in vielen anderen Mitgliedstaaten. Sie freilich kommen bei Grimm bezeichnenderweise gar nicht vor. Doch die europäische Verfassungsfrage stellt sich in jedem Mitgliedstaat anders: Was hier als illegitime Fremdbestimmung erscheint, garantiert dort ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit.
Wolfgang Streeck, Fritz Scharpf und Hans-Magnus Enzensberger haben in den letzten Jahren sozialliberale Abgesänge auf das Europa der Gegenwart publiziert, Grimm liefert dieser Gattung nun die verfassungstheoretische Fundierung. Vielleicht sollte man jene Texte aber nicht zuletzt auch als die ganz eigene Verlustgeschichte einer westdeutschen Generation lesen: Als die parlamentarische Grundrechtsdemokratie in der Bundesrepublik vollendet war, trat Europa auf den Plan und gab die Richtung vor: den Binnenmarkt. Es bliebe aber zu ergänzen, dass dieses taktisch nützliche Amalgam von staatlichem und europäischem Recht, von europäischer Wirtschafts- und nationaler Sozialpolitik gerade auch immer das Ziel der von großen Mehrheiten getragenen deutschen Politik war. Die Bundesrepublik verdankt diesem institutionellen Arrangement und seinen ökonomischen Effekten ihre herausragende Stellung in Europa. Wo es Verfassungen gibt, sind Recht und Politik eben nie scharf zu unterscheiden. Für den historischen Konstitutionalismus verdanken wir diese Einsicht nicht zuletzt Dieter Grimm.
FLORIAN MEINEL
Dieter Grimm: "Europa ja - aber welches?" Zur Verfassung der europäischen Demokratie.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 288 S., br., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"In bestechenden Analysen ist der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm dem Demokratieproblem der EU auf den Grund gegangen."
Thomas Assheuer, ZEIT, 8. Juni 2017
Thomas Assheuer, ZEIT, 8. Juni 2017