Produktdetails
- List Taschenbücher
- Verlag: List TB.
- Seitenzahl: 453
- Abmessung: 28mm x 125mm x 187mm
- Gewicht: 330g
- ISBN-13: 9783548601397
- ISBN-10: 3548601391
- Artikelnr.: 09804760
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999Kaddisch für die Diaspora
Bernard Wasserstein ist im Zweifel, ob das europäische Judentum eine Zukunft hat / Von Olga Mannheimer
Als sich der Philosoph Hermann Cohen noch wunderte, "wie wenig Gojim es gibt", sahen andere jüdische Denker ihr Volk dahinschwinden. Ist das Diasporajudentum auch ein Beweis für die jüdische Standhaftigkeit, so liegt die Sorge um sein Fortbestehen im Wesen der zerstreuten, ursprünglich ihrer Heimstätte beraubten und fortan vom Zerfall bedrohten Gemeinschaft selbst begründet.
Nun untersucht Bernard Wasserstein den Zustand der europäischen Diaspora - und stellt ihr nahendes Ende fest. Seine pessimistische Prognose, die im deutschen Titel "Europa ohne Juden" gipfelt, erregte beim Erscheinen des englischen Originals im Jahr 1996 nicht nur Widerspruch, sondern auch ironische Kommentare, kehrte doch der in Schottland geborene Autor im selben Jahr aus den Vereinigten Staaten auf den alten Kontinent zurück. Der Leiter des Centre for Jewish Studies in Oxford ist ein in der Fachwelt renommierter Historiker, der als Erster "Das europäische Judentum seit 1945" - so der Untertitel des vorliegenden Buches - zum Gegenstand einer umfassenden Untersuchung gemacht hat.
Einen derart weit gespannten Stoff aufzugreifen, ohne sich darin zu verheddern, ist schon an sich eine beachtliche Leistung: Nach elf Themenbereichen geordnet, bietet die Studie ein aufschlussreiches Resümee der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts aus jüdischem Blickwinkel. Seine ausgewogene, sachkundige Darstellung verschiedener Diaspora-Strömungen in ihrer Wechselbeziehung mit nichtjüdischen Gesellschaften umrahmt der Autor allerdings mit überraschend einseitigen Wertungen.
Infolge interkonfessioneller Ehen, niedriger Geburten- und hoher Auswanderungsraten habe sich die jüdische Bevölkerung in Europa seit Kriegsende auf knapp zwei Millionen halbiert und sehe heute, so Wasserstein, bestenfalls "einer langsamen Abnahme ihrer Zahl, schlimmstenfalls dem faktischen Untergang" entgegen. Überleben würden lediglich vereinzelte ultraorthodoxe Gruppen, "als malerische Überreste wie die Amish von Pennsylvania". Allen anderen - der großen Mehrheit der europäischen Juden - prophezeit der Autor am Ende seines Buches das Schicksal der winzigen jüdischen Gemeinschaft von Kai-feng: Jahrhundertelang hatte sie sich ihre ursprüngliche Identität bewahrt, war aber schließlich in der chinesischen Gesellschaft vollends aufgegangen. So werde auch in Europa von der Diaspora bald "nur noch eine körperlose Erinnerung zurückbleiben".
Das Los der Amish oder der Juden von Kai-feng: Auf diese Alternative spitzt sich für Wasserstein der Niedergang des europäischen Judentums zu. Wie hat es mit einer Kultur, die über zwei Jahrtausende hinweg Verachtung und Verfolgung getrotzt und selbst eine industriell organisierte Vernichtungsmaschinerie - wenn auch schwer versehrt - überstanden hat, so weit kommen können? Um diese Frage zu beantworten, zeichnet der Autor die Umstände der Diaspora und ihre Wandlung in verschiedenen ideologischen und nationalen Zusammenhängen seit Kriegsende nach. Er kommt zu dem Schluss, dass sie mangels äußeren Drucks ihre innere Kraft eingebüßt habe.
Die historische Rückschau setzt bei dem Elend der Überlebenden ein und liefert sogleich ein Beispiel für Wassersteins differenzierte Betrachtung. Ohne die Versäumnisse der alliierten Behörden zu rechtfertigen, vermittelt er Einblick in die Schwierigkeit der Aufgabe, jene "demoralisierte, hoffnungslose Menge gestrandeter Menschen" - so ein Bericht einer UN-Organisation - zu versorgen. Der Autor vermag verschiedene Gesichtspunkte, die Existenzbedingungen und die Seelenlage der Betroffenen einfühlsam darzustellen. Seine souveränen Quellenkenntnisse und analytischen Fähigkeiten sind eindrucksvoll. Ohne die Beteiligung von Juden an der Errichtung kommunistischer Regime zu verschweigen, schildert er aufrüttelnd die antijüdischen Kampagnen der Sowjetunion und die zeitweise gewaltsamen Ausschreitungen in ihren Satellitenstaaten, die in den zerschmetterten Zentren jüdischer Kultur auch deren letzte Überreste zu beseitigen suchten.
Unvergleichlich günstiger war das politische und gesellschaftliche Klima in Westeuropa. Nach den ersten bedrückenden Nachkriegsjahren bahnte sich ein Gesinnungswandel an, dessen Etappen Wasserstein an anschaulichen Einzelfällen und mit gutem Gespür für Spannung rekapituliert: Zum einen hatten die eindrucksvollen Leistungen des Staates Israel den Status der Juden verbessert und ihr Selbstbewusstsein wesentlich gestärkt. Zum anderen weckte die (allerdings spät erfolgende) Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Anteilnahme an den Realitäten des jüdischen Schicksals. Und schließlich erschlaffte die Triebfeder des traditionellen Antisemitismus, als die katholische Kirche Mitte der sechziger Jahre ihre judenfeindliche Doktrin verwarf.
Wassersteins komprimierter Überblick verdeutlicht, welch langer Weg innerhalb einer Generation zurückgelegt wurde. Sind - vor allem in nachkommunistischen Ländern - noch Relikte des alten Antisemitismus vorhanden, so hat sich in den liberalen, für kulturelle Unterschiede aufgeschlossenen Gesellschaften das Verhältnis zu den Juden grundlegend verbessert. Doch gerade die uneingeschränkten Chancen sozialer Eingliederung bergen nach Überzeugung des Historikers eine subtile Gefahr: "Je günstiger das gesellschaftliche Umfeld, desto eher lockert sich die Bindung der Juden an ihre Bräuche, Sprachen, Traditionen und Werte."
Kann man Jude und integriert sein? Das Dilemma besteht seit der Aufklärung, war doch die gesonderte, religiös verfügte Lebensweise eine wesentliche Bedingung jüdischer Kontinuität in der Zerstreuung. Welche Strategien frühere Generationen entwickelt haben, um die Anforderungen des Judentums und der Emanzipation miteinander in Einklang zu bringen, kann man in Victor Karadys Sozialgeschichte nachlesen; vor kurzem unter dem Titel "Gewalterfahrung und Utopie - Juden in der europäischen Moderne" erschienen, verdient sie nicht nur als Ergänzung zur vorliegenden Studie Erwähnung.
Wasserstein versteht es, vielfältige Aspekte in übergreifenden Entwicklungszügen eloquent zusammenzufassen. Und doch gelangt er zu einem wenig überzeugenden Befund. Wenn er die Auflösung der europäischen Diaspora beklagt, reduziert er sie auf jene Erscheinungsformen, die in religiöser Traditionstreue und somit in der Abgrenzung von der christlichen Lebenswelt begründet sind. Diesem eng gefassten Identitätsbegriff entspricht seine abfällige Bewertung der zeitgenössischen jüdischen Kultur - so ein Urteil verrät mehr die Gesinnung des Autors, als dass es Erkenntnis vermittelte.
Zweifellos haben die religiösen Elemente im Zuge allgemeiner Säkularisierung an Bedeutung verloren, nicht zuletzt, weil die neue, weltlich orientierte Generation das geistige und historische Erbe bevorzugt zur Grundlage ihrer jüdischen Identifikation nimmt. Die Bande, die diese Generation mit dem Judentum verknüpfen, sind gewiss elastischer als die ihrer gläubigen Vorfahren. Doch in einer offeneren Gesellschaft werden sie möglicherweise gerade dank dieser Elastizität reißfester.
Bernard Wasserstein: "Europa ohne Juden". Das europäische Judentum seit 1945. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 388 S., geb., 75,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernard Wasserstein ist im Zweifel, ob das europäische Judentum eine Zukunft hat / Von Olga Mannheimer
Als sich der Philosoph Hermann Cohen noch wunderte, "wie wenig Gojim es gibt", sahen andere jüdische Denker ihr Volk dahinschwinden. Ist das Diasporajudentum auch ein Beweis für die jüdische Standhaftigkeit, so liegt die Sorge um sein Fortbestehen im Wesen der zerstreuten, ursprünglich ihrer Heimstätte beraubten und fortan vom Zerfall bedrohten Gemeinschaft selbst begründet.
Nun untersucht Bernard Wasserstein den Zustand der europäischen Diaspora - und stellt ihr nahendes Ende fest. Seine pessimistische Prognose, die im deutschen Titel "Europa ohne Juden" gipfelt, erregte beim Erscheinen des englischen Originals im Jahr 1996 nicht nur Widerspruch, sondern auch ironische Kommentare, kehrte doch der in Schottland geborene Autor im selben Jahr aus den Vereinigten Staaten auf den alten Kontinent zurück. Der Leiter des Centre for Jewish Studies in Oxford ist ein in der Fachwelt renommierter Historiker, der als Erster "Das europäische Judentum seit 1945" - so der Untertitel des vorliegenden Buches - zum Gegenstand einer umfassenden Untersuchung gemacht hat.
Einen derart weit gespannten Stoff aufzugreifen, ohne sich darin zu verheddern, ist schon an sich eine beachtliche Leistung: Nach elf Themenbereichen geordnet, bietet die Studie ein aufschlussreiches Resümee der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts aus jüdischem Blickwinkel. Seine ausgewogene, sachkundige Darstellung verschiedener Diaspora-Strömungen in ihrer Wechselbeziehung mit nichtjüdischen Gesellschaften umrahmt der Autor allerdings mit überraschend einseitigen Wertungen.
Infolge interkonfessioneller Ehen, niedriger Geburten- und hoher Auswanderungsraten habe sich die jüdische Bevölkerung in Europa seit Kriegsende auf knapp zwei Millionen halbiert und sehe heute, so Wasserstein, bestenfalls "einer langsamen Abnahme ihrer Zahl, schlimmstenfalls dem faktischen Untergang" entgegen. Überleben würden lediglich vereinzelte ultraorthodoxe Gruppen, "als malerische Überreste wie die Amish von Pennsylvania". Allen anderen - der großen Mehrheit der europäischen Juden - prophezeit der Autor am Ende seines Buches das Schicksal der winzigen jüdischen Gemeinschaft von Kai-feng: Jahrhundertelang hatte sie sich ihre ursprüngliche Identität bewahrt, war aber schließlich in der chinesischen Gesellschaft vollends aufgegangen. So werde auch in Europa von der Diaspora bald "nur noch eine körperlose Erinnerung zurückbleiben".
Das Los der Amish oder der Juden von Kai-feng: Auf diese Alternative spitzt sich für Wasserstein der Niedergang des europäischen Judentums zu. Wie hat es mit einer Kultur, die über zwei Jahrtausende hinweg Verachtung und Verfolgung getrotzt und selbst eine industriell organisierte Vernichtungsmaschinerie - wenn auch schwer versehrt - überstanden hat, so weit kommen können? Um diese Frage zu beantworten, zeichnet der Autor die Umstände der Diaspora und ihre Wandlung in verschiedenen ideologischen und nationalen Zusammenhängen seit Kriegsende nach. Er kommt zu dem Schluss, dass sie mangels äußeren Drucks ihre innere Kraft eingebüßt habe.
Die historische Rückschau setzt bei dem Elend der Überlebenden ein und liefert sogleich ein Beispiel für Wassersteins differenzierte Betrachtung. Ohne die Versäumnisse der alliierten Behörden zu rechtfertigen, vermittelt er Einblick in die Schwierigkeit der Aufgabe, jene "demoralisierte, hoffnungslose Menge gestrandeter Menschen" - so ein Bericht einer UN-Organisation - zu versorgen. Der Autor vermag verschiedene Gesichtspunkte, die Existenzbedingungen und die Seelenlage der Betroffenen einfühlsam darzustellen. Seine souveränen Quellenkenntnisse und analytischen Fähigkeiten sind eindrucksvoll. Ohne die Beteiligung von Juden an der Errichtung kommunistischer Regime zu verschweigen, schildert er aufrüttelnd die antijüdischen Kampagnen der Sowjetunion und die zeitweise gewaltsamen Ausschreitungen in ihren Satellitenstaaten, die in den zerschmetterten Zentren jüdischer Kultur auch deren letzte Überreste zu beseitigen suchten.
Unvergleichlich günstiger war das politische und gesellschaftliche Klima in Westeuropa. Nach den ersten bedrückenden Nachkriegsjahren bahnte sich ein Gesinnungswandel an, dessen Etappen Wasserstein an anschaulichen Einzelfällen und mit gutem Gespür für Spannung rekapituliert: Zum einen hatten die eindrucksvollen Leistungen des Staates Israel den Status der Juden verbessert und ihr Selbstbewusstsein wesentlich gestärkt. Zum anderen weckte die (allerdings spät erfolgende) Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Anteilnahme an den Realitäten des jüdischen Schicksals. Und schließlich erschlaffte die Triebfeder des traditionellen Antisemitismus, als die katholische Kirche Mitte der sechziger Jahre ihre judenfeindliche Doktrin verwarf.
Wassersteins komprimierter Überblick verdeutlicht, welch langer Weg innerhalb einer Generation zurückgelegt wurde. Sind - vor allem in nachkommunistischen Ländern - noch Relikte des alten Antisemitismus vorhanden, so hat sich in den liberalen, für kulturelle Unterschiede aufgeschlossenen Gesellschaften das Verhältnis zu den Juden grundlegend verbessert. Doch gerade die uneingeschränkten Chancen sozialer Eingliederung bergen nach Überzeugung des Historikers eine subtile Gefahr: "Je günstiger das gesellschaftliche Umfeld, desto eher lockert sich die Bindung der Juden an ihre Bräuche, Sprachen, Traditionen und Werte."
Kann man Jude und integriert sein? Das Dilemma besteht seit der Aufklärung, war doch die gesonderte, religiös verfügte Lebensweise eine wesentliche Bedingung jüdischer Kontinuität in der Zerstreuung. Welche Strategien frühere Generationen entwickelt haben, um die Anforderungen des Judentums und der Emanzipation miteinander in Einklang zu bringen, kann man in Victor Karadys Sozialgeschichte nachlesen; vor kurzem unter dem Titel "Gewalterfahrung und Utopie - Juden in der europäischen Moderne" erschienen, verdient sie nicht nur als Ergänzung zur vorliegenden Studie Erwähnung.
Wasserstein versteht es, vielfältige Aspekte in übergreifenden Entwicklungszügen eloquent zusammenzufassen. Und doch gelangt er zu einem wenig überzeugenden Befund. Wenn er die Auflösung der europäischen Diaspora beklagt, reduziert er sie auf jene Erscheinungsformen, die in religiöser Traditionstreue und somit in der Abgrenzung von der christlichen Lebenswelt begründet sind. Diesem eng gefassten Identitätsbegriff entspricht seine abfällige Bewertung der zeitgenössischen jüdischen Kultur - so ein Urteil verrät mehr die Gesinnung des Autors, als dass es Erkenntnis vermittelte.
Zweifellos haben die religiösen Elemente im Zuge allgemeiner Säkularisierung an Bedeutung verloren, nicht zuletzt, weil die neue, weltlich orientierte Generation das geistige und historische Erbe bevorzugt zur Grundlage ihrer jüdischen Identifikation nimmt. Die Bande, die diese Generation mit dem Judentum verknüpfen, sind gewiss elastischer als die ihrer gläubigen Vorfahren. Doch in einer offeneren Gesellschaft werden sie möglicherweise gerade dank dieser Elastizität reißfester.
Bernard Wasserstein: "Europa ohne Juden". Das europäische Judentum seit 1945. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 388 S., geb., 75,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main