Afrika zählt über eine Milliarde Menschen und wächst gigantisch. Europa überaltert und schrumpft. Zunehmende Flüchtlingsströme treffen nun auch noch zusammen mit Corona, der katastrophalen Pandemie. Die Nachbarkontinente stehen vor Herausforderungen, denen auf die Dauer niemand ausweichen kann. Rudolf Decker beschreibt anhand soziopolitischer und demografischer Fakten ein Szenario, wie Europa und Afrika als Partner eine werteorientierte, wechselseitig bereichernde Gemeinschaft werden können. In dieser überarbeiteten und aktualisierten Neuauflage zeigt der Autor unter anderem einen völlig neuen Weg zur Bewältigung der Migrations- und Entwicklungskrise auf, der für die Länder beider Kontinente annehmbar sein könnte. Aus banger Besorgnis muss Zuversicht werden!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2018Abwarten wird teuer
Eine Vision für das Zusammenleben von Europa und Afrika
Oktober 1995, die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi in Burundi wachsen. Staatspräsident und Ministerpräsident, den unterschiedlichen Ethnien angehörend, sprechen kein Wort mehr miteinander. Dennoch erklären sie sich zu einem Treffen bereit. In die sprachlose Stille hinein fragt plötzlich jemand: "Wie sah Gott aus - eher wie ein Hutu oder wie ein Tutsi?" Beide Herren müssen herzhaft lachen, der Weg zu einem Gespräch ist frei. Der Bürgerkrieg, wenn auch nur für kurze Zeit, ist abgewendet.
Der Eisbrecher bei diesem Gespräch war Rudolf Decker. Der CDU-Politiker und ehemalige Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg ist Gründungsmitglied der gemeinnützigen Vereinigung für Grundwerte und Völkerverständigung. Seit Anfang der achtziger Jahre war er mehr als einhundertmal in Afrika. In "Europa und Afrika" entwirft er die Vision einer gemeinsamen Zukunft der Nachbarkontinente, unterfüttert von Daten und Fakten und anschaulich gemacht durch Anekdoten wie die zitierte Episode.
Für Decker ist die Frage nach dem Verhältnis von Europa und Afrika die Herausforderung des Jahrhunderts. Auf der einen Seite das wohlhabende, hochentwickelte, jedoch schon jetzt überalterte Europa. Auf der anderen das in weiten Teilen unterentwickelte, aber nach vorne strebende, ressourcenreiche Afrika, dessen Bevölkerung sich nach Schätzungen der UN bis 2050 mehr als verdoppeln wird. Schon jetzt sind 640 Millionen Afrikaner jünger als 18 Jahre - in Europa sind es 160 Millionen. Eine gemeinsame Zukunft habe nicht nur für beide Kontinente interessante Perspektiven, sondern auch die wünschenswerte Nebenwirkung, dass Fluchtursachen beseitigt und Flüchtlingsbewegungen eingedämmt werden könnten. Fazit Decker: Europa kommt an Afrika nicht mehr vorbei.
Wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könnte, dem nähert sich der Autor zunächst über die Fakten: die Flucht von Millionen Menschen aus ihrer afrikanischen Heimat, das koloniale Erbe beider Kontinente, den Stand von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, der demographischen Entwicklung. Aus den daraus folgenden Überlegungen entwirft er seine Vision von einer gemeinsamen Zukunft. Im letzten Kapitel empfiehlt er konkrete Projekte.
Die Länder beider Kontinente seien in einer Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden, argumentiert Decker, eng verknüpft durch Geschichte, Geographie und Demographie. Viel Platz widmet er darüber hinaus einem Land, das weder zu Afrika noch zu Europa gehört und dennoch beide Kontinente stark und in Zukunft noch stärker beeinflussen wird: China. Das Land ist seit zehn Jahren maßgebend für die Entwicklung Afrikas und treibende Kraft beim Ausbau der dringend benötigten Infrastruktur. Für Afrika ist Chinas Engagement jedoch nicht uneingeschränkt positiv: Zahlreiche Projekte lassen die Staaten hochverschuldet und mit Problemen wie Umweltschäden und Arbeitskämpfen zurück. Allerdings macht China die Zusammenarbeit nicht von einem gewissen Mindeststandard bei der Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit oder bei der Bekämpfung von Korruption abhängig.
Deckers sehr aussagekräftiges Beispiel zu China: Bei der sechsten Amtseinführung des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni im Mai 2016 waren, abgesehen von einem amerikanischen Gesandten, westliche Regierungsvertreter nicht anwesend. Musevenis Wahlkampf war begleitet gewesen von Einschüchterungsversuchen gegenüber der Opposition. China jedoch hatte einen ranghohen Vertreter geschickt, Putin einen persönlichen Vertrauten. Den meisten Beifall bekamen der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesuchte Präsident Sudans, Omar al Baschir, und der damalige Präsident Zimbabwes, Robert Mugabe. Den Boykott durch westliche Länder nahmen die Menschen dagegen kaum wahr.
Was folgt daraus? Das enge Zusammenwirken der Staaten Afrikas und Europas sei dringend geboten. Als kleinsten gemeinsamen Nenner sieht Decker eine informelle Staatengemeinschaft mit freiwillig vereinbarten Regeln in Teilbereichen. Die größte Lösung wäre eine Staatengemeinschaft, die über hoheitliche Rechte verfügt und auf gemeinsam akzeptierten Grundrechten basiert.
Deckers Überlegungen allerdings haben ein Manko: Sie sind kaum realistisch. Afrika und Europa trennen Welten, die Unterschiede unter anderem bei Staatsordnung, Menschenrechten und Wirtschaftssystem sind unüberbrückbar groß. Dem Autor ist das bewusst. Auf der einen Seite müsse mit hohem Einsatz und mit großen Opfern an der Verringerung der krassen Ungleichheiten gearbeitet werden. Auf der anderen Seite müssten der Freizügigkeit Grenzen gesetzt werden. Die Alternative sei, dass Menschen millionenfach von der Flucht nach Europa abgehalten werden müssten: "Eine nicht hinnehmbare Niederlage für die Menschlichkeit!"
Decker schlägt vor, Demokratie- und Wirtschaftsförderung einen bisher nicht bestehenden Vorrang einzuräumen, eventuell sogar gegenüber der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit. Um das Projekt "Europa und Afrika" zukunftsfähig zu machen, sei von hohen Kosten auszugehen, betont Decker. Über deren Akzeptanz gibt er sich keinerlei Illusionen hin: Die Kosten dürften ähnliches Entsetzen hervorrufen wie die Milliardenkredite für Griechenland. Jedoch weist er darauf hin, dass, egal wie hoch und unkalkulierbar die Kosten auch sein mögen, jedes Abwarten sie nur erhöhen würde.
Deckers Vision von mehr zwischenstaatlicher Zusammenarbeit wirkt in einer Gegenwart, in der Nationalstaatlichkeit, mit hohen Mauern verschlossene Grenzen und Populismus in vielen Ländern zum neuen Heilsversprechen werden, wie aus der Zeit gefallen. Doch liegt in diesem nur oberflächlichen zweiten Manko des Buches seine große Stärke: Ohne Naivität wird die Unausweichlichkeit internationaler Entwicklungen aufgezeigt. Abschottung wird auf Dauer nicht funktionieren.
TATJANA HEID
Rudolf Decker: Europa und Afrika. Von der Krise zu einer gemeinsamen Zukunft der Nachbarkontinente. Herder Verlag, Freiburg 2017. 240 S., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Vision für das Zusammenleben von Europa und Afrika
Oktober 1995, die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi in Burundi wachsen. Staatspräsident und Ministerpräsident, den unterschiedlichen Ethnien angehörend, sprechen kein Wort mehr miteinander. Dennoch erklären sie sich zu einem Treffen bereit. In die sprachlose Stille hinein fragt plötzlich jemand: "Wie sah Gott aus - eher wie ein Hutu oder wie ein Tutsi?" Beide Herren müssen herzhaft lachen, der Weg zu einem Gespräch ist frei. Der Bürgerkrieg, wenn auch nur für kurze Zeit, ist abgewendet.
Der Eisbrecher bei diesem Gespräch war Rudolf Decker. Der CDU-Politiker und ehemalige Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg ist Gründungsmitglied der gemeinnützigen Vereinigung für Grundwerte und Völkerverständigung. Seit Anfang der achtziger Jahre war er mehr als einhundertmal in Afrika. In "Europa und Afrika" entwirft er die Vision einer gemeinsamen Zukunft der Nachbarkontinente, unterfüttert von Daten und Fakten und anschaulich gemacht durch Anekdoten wie die zitierte Episode.
Für Decker ist die Frage nach dem Verhältnis von Europa und Afrika die Herausforderung des Jahrhunderts. Auf der einen Seite das wohlhabende, hochentwickelte, jedoch schon jetzt überalterte Europa. Auf der anderen das in weiten Teilen unterentwickelte, aber nach vorne strebende, ressourcenreiche Afrika, dessen Bevölkerung sich nach Schätzungen der UN bis 2050 mehr als verdoppeln wird. Schon jetzt sind 640 Millionen Afrikaner jünger als 18 Jahre - in Europa sind es 160 Millionen. Eine gemeinsame Zukunft habe nicht nur für beide Kontinente interessante Perspektiven, sondern auch die wünschenswerte Nebenwirkung, dass Fluchtursachen beseitigt und Flüchtlingsbewegungen eingedämmt werden könnten. Fazit Decker: Europa kommt an Afrika nicht mehr vorbei.
Wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könnte, dem nähert sich der Autor zunächst über die Fakten: die Flucht von Millionen Menschen aus ihrer afrikanischen Heimat, das koloniale Erbe beider Kontinente, den Stand von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, der demographischen Entwicklung. Aus den daraus folgenden Überlegungen entwirft er seine Vision von einer gemeinsamen Zukunft. Im letzten Kapitel empfiehlt er konkrete Projekte.
Die Länder beider Kontinente seien in einer Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden, argumentiert Decker, eng verknüpft durch Geschichte, Geographie und Demographie. Viel Platz widmet er darüber hinaus einem Land, das weder zu Afrika noch zu Europa gehört und dennoch beide Kontinente stark und in Zukunft noch stärker beeinflussen wird: China. Das Land ist seit zehn Jahren maßgebend für die Entwicklung Afrikas und treibende Kraft beim Ausbau der dringend benötigten Infrastruktur. Für Afrika ist Chinas Engagement jedoch nicht uneingeschränkt positiv: Zahlreiche Projekte lassen die Staaten hochverschuldet und mit Problemen wie Umweltschäden und Arbeitskämpfen zurück. Allerdings macht China die Zusammenarbeit nicht von einem gewissen Mindeststandard bei der Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit oder bei der Bekämpfung von Korruption abhängig.
Deckers sehr aussagekräftiges Beispiel zu China: Bei der sechsten Amtseinführung des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni im Mai 2016 waren, abgesehen von einem amerikanischen Gesandten, westliche Regierungsvertreter nicht anwesend. Musevenis Wahlkampf war begleitet gewesen von Einschüchterungsversuchen gegenüber der Opposition. China jedoch hatte einen ranghohen Vertreter geschickt, Putin einen persönlichen Vertrauten. Den meisten Beifall bekamen der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesuchte Präsident Sudans, Omar al Baschir, und der damalige Präsident Zimbabwes, Robert Mugabe. Den Boykott durch westliche Länder nahmen die Menschen dagegen kaum wahr.
Was folgt daraus? Das enge Zusammenwirken der Staaten Afrikas und Europas sei dringend geboten. Als kleinsten gemeinsamen Nenner sieht Decker eine informelle Staatengemeinschaft mit freiwillig vereinbarten Regeln in Teilbereichen. Die größte Lösung wäre eine Staatengemeinschaft, die über hoheitliche Rechte verfügt und auf gemeinsam akzeptierten Grundrechten basiert.
Deckers Überlegungen allerdings haben ein Manko: Sie sind kaum realistisch. Afrika und Europa trennen Welten, die Unterschiede unter anderem bei Staatsordnung, Menschenrechten und Wirtschaftssystem sind unüberbrückbar groß. Dem Autor ist das bewusst. Auf der einen Seite müsse mit hohem Einsatz und mit großen Opfern an der Verringerung der krassen Ungleichheiten gearbeitet werden. Auf der anderen Seite müssten der Freizügigkeit Grenzen gesetzt werden. Die Alternative sei, dass Menschen millionenfach von der Flucht nach Europa abgehalten werden müssten: "Eine nicht hinnehmbare Niederlage für die Menschlichkeit!"
Decker schlägt vor, Demokratie- und Wirtschaftsförderung einen bisher nicht bestehenden Vorrang einzuräumen, eventuell sogar gegenüber der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit. Um das Projekt "Europa und Afrika" zukunftsfähig zu machen, sei von hohen Kosten auszugehen, betont Decker. Über deren Akzeptanz gibt er sich keinerlei Illusionen hin: Die Kosten dürften ähnliches Entsetzen hervorrufen wie die Milliardenkredite für Griechenland. Jedoch weist er darauf hin, dass, egal wie hoch und unkalkulierbar die Kosten auch sein mögen, jedes Abwarten sie nur erhöhen würde.
Deckers Vision von mehr zwischenstaatlicher Zusammenarbeit wirkt in einer Gegenwart, in der Nationalstaatlichkeit, mit hohen Mauern verschlossene Grenzen und Populismus in vielen Ländern zum neuen Heilsversprechen werden, wie aus der Zeit gefallen. Doch liegt in diesem nur oberflächlichen zweiten Manko des Buches seine große Stärke: Ohne Naivität wird die Unausweichlichkeit internationaler Entwicklungen aufgezeigt. Abschottung wird auf Dauer nicht funktionieren.
TATJANA HEID
Rudolf Decker: Europa und Afrika. Von der Krise zu einer gemeinsamen Zukunft der Nachbarkontinente. Herder Verlag, Freiburg 2017. 240 S., 19,99 [Euro].
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