In einem kühnen Bogen verfolgt dieses Buch die Wege der griechischen Tragödie von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Wurzelnd in den Kulten des Dionysos, ist diese Dramenform mit ihren mythischen Inhalten auch auf den Bühnen unserer Zeit von ungebrochener Präsenz. Grundlegende Texte eines der bedeutendsten Kunsthistoriker unseres Jahrhunderts. Im Zentrum steht der berühmte Aufsatz, der nach wie vor Bezugspunkt in den Debatten um Genese und Bedeutung der Perspektivkonstruktionen in der abendländischen Malerei ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2001Welchen Weingott nehmen wir zum Wild?
Mehr Geist als Gegenwart: Bernhard Zimmermanns gelehrte Tragödienrezeption bleibt einseitig
Die innere Spannung zwischen animalischer Wildheit und humaner Kunstform gilt seit Friedrich Nietzsche als eines der Wesensmerkmale der griechischen Tragödie. Auch Bernhard Zimmermann betont in seinem neuen Buch die wilden Ursprünge der Tragödie und beendet es daher mit den "Bakchen", Euripides' letztem Stück, das diese Deutung exemplarisch unterstreicht. Der Freiburger Ordinarius für Klassische Philologie ist ein ausgewiesener Experte für das antike Drama. "Europa und die griechische Tragödie" bietet eine gute Einführung in diese ferne und doch immer noch präsente Theaterepoche.
Eine Stärke der Darstellung ist die Einbettung der Klassiker des Welttheaters, Aischylos, Sophokles und Euripides, in ihren historischen Kontext. Zimmermann belegt an oft als "zeitlos" verstandenen Werken, daß sie sehr wohl an aktuelle politische Umstände angebunden waren. So zeigt er im "Orest" von Euripides und im Sophokleischen "Philoktet" die Spuren der Krise der athenischen Polis gegen Ende des katastrophal verlaufenden Peloponnesischen Krieges auf. Oder er weist nach, daß die Entwicklung zur klassischen, stärker der Tradition verhafteten Tragödie durch just eben künstlich eingeführte Traditionen - wie die Dionysien in Athen - zu erklären ist.
Ärgerlich ist jedoch, daß Titel und Untertitel des Buchs auch noch anderes versprechen. Die hier angelegte Verbindung von antiker Tragödie und ihrer europäischen Rezeption schlägt sich im Text kaum nieder. Anstatt das Buch dem vermeintlichen Anliegen gemäß zu strukturieren, wird ein Tragiker nach dem anderen abgehandelt und allenfalls noch kurz in seinen "Rezeptionslinien" dargestellt. Wenn von abendländischer Tragödienrezeption die Rede sein soll, so ist vornehmlich von Schiller, Schlegel und Brecht, also ausschließlich deutschen Beispielen, die Rede.
Auch schlägt negativ zu Buche, daß Zimmermann moderner Literatur- oder gar Theatertheorie völlig abhold ist und sie noch nicht einmal abweisend zur Kenntnis nimmt. Wenn für die Klassische Philologie Literaturtheorie bei Emil Staiger und äußerstenfalls Peter Szondi endet, braucht sie, die einst das Vorbild der Philologie überhaupt war, sich nicht zu wundern, daß sie von den anderen Disziplinen nur noch belächelt wird. Bedenklich auch, daß der Autor zwar den Anspruch erhebt, über das Theater der Gegenwart zu schreiben, andererseits jedoch das Theater nach Brecht nur noch fragmentarisch zur Kenntnis nimmt. (So heißt es sogar einmal, Schillers Theaterauffassung schlage "seine Wellen bis in die Gegenwart, bis hin zu Bertolt Brechts Theater".) Der Dramatiker Dürrenmatt und Peter Steins "Orestie" von 1980 bilden die Grenzen seines Horizonts.
Überhaupt sind manche Äußerungen Zimmermanns über das Theater sehr gewagt; so die Behauptung, der sprachmusikalische Choreinsatz bei Max Reinhardts Massentheater sei als "Vorgänger" der Sprachbehandlung von Carl Orffs in griechischem Original gehaltenen "Prometheus" zu sehen. Maßgebliche Inszenierungen ignoriert Zimmermann, etwa Klaus Michael Grübers Inszenierung dieses Stückes an der Berliner Schaubühne von 1974, in der sich eine anfangs sterile futuristische Welt als triebhaft und animalisch entpuppte. Diese Inszenierung hätte Zimmermanns These von der Wildheit der neuzeitlichen griechischen Tragödie bestens belegen können.
DETLEV BAUR
Bernhard Zimmermann: "Europa und die griechische Tragödie". Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000. 192 S., 3 Abb., br., 23,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr Geist als Gegenwart: Bernhard Zimmermanns gelehrte Tragödienrezeption bleibt einseitig
Die innere Spannung zwischen animalischer Wildheit und humaner Kunstform gilt seit Friedrich Nietzsche als eines der Wesensmerkmale der griechischen Tragödie. Auch Bernhard Zimmermann betont in seinem neuen Buch die wilden Ursprünge der Tragödie und beendet es daher mit den "Bakchen", Euripides' letztem Stück, das diese Deutung exemplarisch unterstreicht. Der Freiburger Ordinarius für Klassische Philologie ist ein ausgewiesener Experte für das antike Drama. "Europa und die griechische Tragödie" bietet eine gute Einführung in diese ferne und doch immer noch präsente Theaterepoche.
Eine Stärke der Darstellung ist die Einbettung der Klassiker des Welttheaters, Aischylos, Sophokles und Euripides, in ihren historischen Kontext. Zimmermann belegt an oft als "zeitlos" verstandenen Werken, daß sie sehr wohl an aktuelle politische Umstände angebunden waren. So zeigt er im "Orest" von Euripides und im Sophokleischen "Philoktet" die Spuren der Krise der athenischen Polis gegen Ende des katastrophal verlaufenden Peloponnesischen Krieges auf. Oder er weist nach, daß die Entwicklung zur klassischen, stärker der Tradition verhafteten Tragödie durch just eben künstlich eingeführte Traditionen - wie die Dionysien in Athen - zu erklären ist.
Ärgerlich ist jedoch, daß Titel und Untertitel des Buchs auch noch anderes versprechen. Die hier angelegte Verbindung von antiker Tragödie und ihrer europäischen Rezeption schlägt sich im Text kaum nieder. Anstatt das Buch dem vermeintlichen Anliegen gemäß zu strukturieren, wird ein Tragiker nach dem anderen abgehandelt und allenfalls noch kurz in seinen "Rezeptionslinien" dargestellt. Wenn von abendländischer Tragödienrezeption die Rede sein soll, so ist vornehmlich von Schiller, Schlegel und Brecht, also ausschließlich deutschen Beispielen, die Rede.
Auch schlägt negativ zu Buche, daß Zimmermann moderner Literatur- oder gar Theatertheorie völlig abhold ist und sie noch nicht einmal abweisend zur Kenntnis nimmt. Wenn für die Klassische Philologie Literaturtheorie bei Emil Staiger und äußerstenfalls Peter Szondi endet, braucht sie, die einst das Vorbild der Philologie überhaupt war, sich nicht zu wundern, daß sie von den anderen Disziplinen nur noch belächelt wird. Bedenklich auch, daß der Autor zwar den Anspruch erhebt, über das Theater der Gegenwart zu schreiben, andererseits jedoch das Theater nach Brecht nur noch fragmentarisch zur Kenntnis nimmt. (So heißt es sogar einmal, Schillers Theaterauffassung schlage "seine Wellen bis in die Gegenwart, bis hin zu Bertolt Brechts Theater".) Der Dramatiker Dürrenmatt und Peter Steins "Orestie" von 1980 bilden die Grenzen seines Horizonts.
Überhaupt sind manche Äußerungen Zimmermanns über das Theater sehr gewagt; so die Behauptung, der sprachmusikalische Choreinsatz bei Max Reinhardts Massentheater sei als "Vorgänger" der Sprachbehandlung von Carl Orffs in griechischem Original gehaltenen "Prometheus" zu sehen. Maßgebliche Inszenierungen ignoriert Zimmermann, etwa Klaus Michael Grübers Inszenierung dieses Stückes an der Berliner Schaubühne von 1974, in der sich eine anfangs sterile futuristische Welt als triebhaft und animalisch entpuppte. Diese Inszenierung hätte Zimmermanns These von der Wildheit der neuzeitlichen griechischen Tragödie bestens belegen können.
DETLEV BAUR
Bernhard Zimmermann: "Europa und die griechische Tragödie". Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000. 192 S., 3 Abb., br., 23,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Kritiker mit dem Kürzel "rh." hat erst mal am ebenso enzyklopädischen wie nichtssagenden Titel dieses Buches zu kauen und nimmt Anlauf zu einer Ehrenrettung von Gegenstand und Autor, dem er bescheinigt, "eine ganze Reihe von bedeutenden Studien zum griechischen Drama publiziert" zu haben. Nach Bedeutung fahndet er allerdings im vorliegenden Buch doch ziemlich umsonst. "Ein faszinierendes Thema", seufzt er, von dem er aber "oft kaum mehr als angedeutete Rezeptionslinien" skizziert fand. Zu allem Überfluß auch noch mit Schwerpunkt auf deutsche Rezeptiongeschichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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