Die europäische Integration ist das Thema der Stunde. Im Schatten der Integrations- und Finanzkrise aber gehen nicht nur osteuropäische Staaten wie Russland, Weißrussland und die Ukraine, sondern auch EU-Länder wie Ungarn und Rumänien den gefährlichen Weg der Autokratie. Seit der Befreiung von sowjetischer Zwangsintegration bitten die nationalen Politiker Osteuropas um Subventionen. Sobald sie aber mit den Regeln der Union konfrontiert werden, klagen sie über Verletzungen ihrer Souveränität. Ist die absolute Mehrheit in ihren Ländern erst einmal errungen, vollziehen sich, einhergehend mit anti- oder scheindemokratischem Nationalismus, Führerkult und Günstlingsbourgeoisie, ein Systemwechsel und der Ausbau des zentralistischen Parteistaates. Auf der ungarischen Bühne ist der Ministerpräsident Viktor Orbán kein unbegabter Akteur dieses todernsten Spiels. Doch noch liegt es an Ungarn selbst und an Europa, mitzubestimmen, wieweit ein solcher Politiker die Melodie vorgeben wird, nach der das postkommunistische Ungarn in Zukunft zu tanzen hat.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein bisschen zu unterkomplex erscheinen Jan-Werner Müller György Konráds Reflexionen in diesem Essayband zuweilen. Der scharfe Blick wie auch die Wünsche des antipolitischen Schriftstellers Konrád sieht er in den Texten zwar hier und da aufblitzen. Konráds Gedanken sind ihm dann aber doch zu apodiktisch und unausgeführt, so zur Identität Europas oder zum NATO-Einsatz im Kosovo. Groß dann wieder laut Müller Konráds Analyse zur politischen Entwicklung in Ungarn. Festlegen, so der Rezensent, will sich der Autor allerdings auch hier nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2013Heilmittel gegen Nationalismus?
György Konrád sieht Ungarn in Gefahr und hofft auf die Europäische Union
Der von György Konrád vorgelegte Essay "Europa und die Nationalstaaten" handelt im Wesentlichen nur von einem einzigen Nationalstaat, nämlich dem ungarischen. Ihn sieht Konrád, der damit eine Mindermeinung in Ungarn, aber eine sehr verbreitete Einschätzung im übrigen, zumal dem westlichen Europa zum Ausdruck bringt, unter der Regierung Orbán seit 2010 auf dem Weg in einen autoritären Führerstaat, "ein postkommunistischer nationaler Obrigkeitsstaat mit einer gewissen Nähe zum Neofaschismus". Die parlamentarische Zweidrittelmehrheit der Fidesz führe zu einer Abschaffung der pluralistischen Demokratie und zu einer Machtkonzentration auf höchstem Niveau. Politische Gegner der Regierung würden als Feinde angesehen und behandelt, Günstlinge bevorzugt. Extremer Nationalismus und Antisemitismus machten sich wieder breit.
Vor diesem düsteren Hintergrund müssen Europas Sterne umso heller strahlen. Europa steht für Mäßigung und unideologische Nüchternheit, nicht für charismatische Führer, sondern für zuverlässige Fachleute, für eine Kultur der Zusammenarbeit, nicht der nationalistischen Konfrontation. Wenn aber Europa für die politische Vernunft steht, dann sind "die Vernünftigeren Föderalisten, die weniger Klugen Nationalisten". Dem Staat, dem das Privileg zuteil wird, Mitglied der Europäischen Union zu werden, wird damit ein Platz "in einer höheren Klasse der Schule der Zivilisation" zugewiesen. Europa zügelt die politische Leidenschaft eines entfesselten, mythischen Nationalismus: "Die EU temperiert das in uns verborgene Ungestüm und verhilft uns zu vergleichendem Klarblick." Politische Schmuddelkinder aber müssen draußen bleiben oder durch "die Rationalität der Föderation" wieder auf den Pfad der politischen Tugend zurückgeführt werden. Eine europäische Intervention zum Schutz der in einem Nationalstaat bedrohten Demokratie ist daher für Konrád nicht nur rechtmäßig, sie wird zur Pflicht!
Wer Konráds Biographie kennt, der kann seine Sorge um Ungarn angesichts eines Abbaus rechtsstaatlicher Sicherungen und einer drohenden Gleichschaltung der Medien, seine "Angst vor einer neuen Tyrannei" gut verstehen: "Nach meiner Befreiung aus den Trümmern zweier Diktaturen verspüre ich nach keiner einzigen davon Heimweh." Aber kann und soll Europa hier helfen? Die vermeintlich "rationale Kontrolle des Staates durch die EU" erwies sich bekanntlich im Jahr 2000, als die Beteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs unter Haider an der österreichischen Bundesregierung die europäischen Gemüter erregte, als dreiste und plumpe Einmischung durch die anderen Mitgliedstaaten; über diese skandalöse Causa Austria findet sich bei Konrád kein Wort.
Es ist verständlich, ja demokratisch löblich, dass Konrád den nationalen politischen Eliten "als redistributiven Bürokratien mit eigenen Interessen" misstraut und den Missbrauch geißelt, den sie mit Macht und Geld treiben. Aber steht die europäische politische Elite nicht in der gleichen Gefahr? Arbeitet nicht auch sie mit Mythen, versucht nicht auch sie, mit Geld zu herrschen und sich bürokratisch auszudehnen? So kritisch Konrád die Nationalstaaten, insbesondere den ungarischen, beäugt, so idealistisch ist seine Sicht der Europäischen Union: "Europa zu wählen heißt, sich für Argumente und politische Aufrichtigkeit zu entscheiden, was den Scharfblick nicht ausschließt. Europa heute meint den Wettbewerb von Intelligenz und Verhalten. Anwachsenden Umsatz von geistigen und sinkenden Umsatz von materiellen Gütern." Spricht er hier wirklich von der Europäischen Union? Was Europa zu einer Einheit formt, darin ist dem "antipolitischen" Ästheten Konrád unbedingt zuzustimmen, ist seine vielfältige Kultur, "die Jahrhunderte, Jahrtausende früher entstanden ist als das wirtschaftlich-politische Bündnis unseres Kontinents". Für den Fortbestand dieser Kultur aber ist, wie er einräumt, die Europäische Union "keine Daseinsbedingung".
Die Europäische Union ist ein ambitioniertes politisches Projekt. Ihre Architektur muss, damit sie dauerhaft Bestand hat und von den europäischen Bürgern angenommen wird, dem "mehrgeschossigen Wesen des europäischen Bewusstseins" entsprechen. "Augenscheinlich wünscht jede nationale Gemeinschaft Selbstbestimmung, Autonomie, eigene Institutionen und einen eigenen Nationalstaat." Aber der geläuterte Nationalstaat erhebt keinen anmaßenden Führungsanspruch mehr, sondern versteht sich als Teil einer größeren europäischen Gemeinschaft, die er pflegt. "Jenen der Vaterlandsliebe angemessenen Stil mögen wir, der die freundschaftliche Ebenbürtigkeit der Vaterländer für selbstverständlich hält." Die europäische Gemeinschaft selbst darf ebenfalls nicht der Arroganz der politischen Macht verfallen und ihren Herrschaftsanspruch auf Kosten der Nationen ungebührlich ausdehnen wollen. Auch in dieser Hinsicht gilt es, als Europäer wachsam zu bleiben.
CHRISTIAN HILLGRUBER
György Konrád: Europa und die Nationalstaaten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 183 S., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
György Konrád sieht Ungarn in Gefahr und hofft auf die Europäische Union
Der von György Konrád vorgelegte Essay "Europa und die Nationalstaaten" handelt im Wesentlichen nur von einem einzigen Nationalstaat, nämlich dem ungarischen. Ihn sieht Konrád, der damit eine Mindermeinung in Ungarn, aber eine sehr verbreitete Einschätzung im übrigen, zumal dem westlichen Europa zum Ausdruck bringt, unter der Regierung Orbán seit 2010 auf dem Weg in einen autoritären Führerstaat, "ein postkommunistischer nationaler Obrigkeitsstaat mit einer gewissen Nähe zum Neofaschismus". Die parlamentarische Zweidrittelmehrheit der Fidesz führe zu einer Abschaffung der pluralistischen Demokratie und zu einer Machtkonzentration auf höchstem Niveau. Politische Gegner der Regierung würden als Feinde angesehen und behandelt, Günstlinge bevorzugt. Extremer Nationalismus und Antisemitismus machten sich wieder breit.
Vor diesem düsteren Hintergrund müssen Europas Sterne umso heller strahlen. Europa steht für Mäßigung und unideologische Nüchternheit, nicht für charismatische Führer, sondern für zuverlässige Fachleute, für eine Kultur der Zusammenarbeit, nicht der nationalistischen Konfrontation. Wenn aber Europa für die politische Vernunft steht, dann sind "die Vernünftigeren Föderalisten, die weniger Klugen Nationalisten". Dem Staat, dem das Privileg zuteil wird, Mitglied der Europäischen Union zu werden, wird damit ein Platz "in einer höheren Klasse der Schule der Zivilisation" zugewiesen. Europa zügelt die politische Leidenschaft eines entfesselten, mythischen Nationalismus: "Die EU temperiert das in uns verborgene Ungestüm und verhilft uns zu vergleichendem Klarblick." Politische Schmuddelkinder aber müssen draußen bleiben oder durch "die Rationalität der Föderation" wieder auf den Pfad der politischen Tugend zurückgeführt werden. Eine europäische Intervention zum Schutz der in einem Nationalstaat bedrohten Demokratie ist daher für Konrád nicht nur rechtmäßig, sie wird zur Pflicht!
Wer Konráds Biographie kennt, der kann seine Sorge um Ungarn angesichts eines Abbaus rechtsstaatlicher Sicherungen und einer drohenden Gleichschaltung der Medien, seine "Angst vor einer neuen Tyrannei" gut verstehen: "Nach meiner Befreiung aus den Trümmern zweier Diktaturen verspüre ich nach keiner einzigen davon Heimweh." Aber kann und soll Europa hier helfen? Die vermeintlich "rationale Kontrolle des Staates durch die EU" erwies sich bekanntlich im Jahr 2000, als die Beteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs unter Haider an der österreichischen Bundesregierung die europäischen Gemüter erregte, als dreiste und plumpe Einmischung durch die anderen Mitgliedstaaten; über diese skandalöse Causa Austria findet sich bei Konrád kein Wort.
Es ist verständlich, ja demokratisch löblich, dass Konrád den nationalen politischen Eliten "als redistributiven Bürokratien mit eigenen Interessen" misstraut und den Missbrauch geißelt, den sie mit Macht und Geld treiben. Aber steht die europäische politische Elite nicht in der gleichen Gefahr? Arbeitet nicht auch sie mit Mythen, versucht nicht auch sie, mit Geld zu herrschen und sich bürokratisch auszudehnen? So kritisch Konrád die Nationalstaaten, insbesondere den ungarischen, beäugt, so idealistisch ist seine Sicht der Europäischen Union: "Europa zu wählen heißt, sich für Argumente und politische Aufrichtigkeit zu entscheiden, was den Scharfblick nicht ausschließt. Europa heute meint den Wettbewerb von Intelligenz und Verhalten. Anwachsenden Umsatz von geistigen und sinkenden Umsatz von materiellen Gütern." Spricht er hier wirklich von der Europäischen Union? Was Europa zu einer Einheit formt, darin ist dem "antipolitischen" Ästheten Konrád unbedingt zuzustimmen, ist seine vielfältige Kultur, "die Jahrhunderte, Jahrtausende früher entstanden ist als das wirtschaftlich-politische Bündnis unseres Kontinents". Für den Fortbestand dieser Kultur aber ist, wie er einräumt, die Europäische Union "keine Daseinsbedingung".
Die Europäische Union ist ein ambitioniertes politisches Projekt. Ihre Architektur muss, damit sie dauerhaft Bestand hat und von den europäischen Bürgern angenommen wird, dem "mehrgeschossigen Wesen des europäischen Bewusstseins" entsprechen. "Augenscheinlich wünscht jede nationale Gemeinschaft Selbstbestimmung, Autonomie, eigene Institutionen und einen eigenen Nationalstaat." Aber der geläuterte Nationalstaat erhebt keinen anmaßenden Führungsanspruch mehr, sondern versteht sich als Teil einer größeren europäischen Gemeinschaft, die er pflegt. "Jenen der Vaterlandsliebe angemessenen Stil mögen wir, der die freundschaftliche Ebenbürtigkeit der Vaterländer für selbstverständlich hält." Die europäische Gemeinschaft selbst darf ebenfalls nicht der Arroganz der politischen Macht verfallen und ihren Herrschaftsanspruch auf Kosten der Nationen ungebührlich ausdehnen wollen. Auch in dieser Hinsicht gilt es, als Europäer wachsam zu bleiben.
CHRISTIAN HILLGRUBER
György Konrád: Europa und die Nationalstaaten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 183 S., 14,95 [Euro].
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