Die instabile internationale Ordnung und die extreme innere Labilität der meisten europäischen Staaten kennzeichnen die Jahre zwischen den Weltkriegen. Horst Möller gelingt eine Darstellung dieser politisch vielfältigen und bewegten Zeit, indem er sich auf die wesentliche Frage konzentriert: Warum waren die beiden Jahrzehnte nach 1918 nicht allein eine Nachkriegszeit, sondern ebensosehr eine Vorkriegszeit? Der Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen innenpolitischen Schwierigkeiten der Einzelstaaten und der sich wandelnden Staatenordnung Europas bilden den Schwerpunkt der Überlegungen. Durch die Konzentration auf diese Fragestellung entsteht das Bild einer Zeit, die sich aufgrund der Fülle der politischen Ereignisse einer knappen Darstellung eigentlich entzieht. Die Betrachtung der sozialen und ökonomischen Faktoren, der Nationalitätenproblematik und der totalitären Ideologien stellen diese politischen Phänomene in den entsprechenden historischen Zusammenhang.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.1999Der Sonderweg Londons
Horst Möllers vergleichende Darstellung der europäischen Geschichte zwischen den Weltkriegen
Horst Möller: Europa zwischen den Weltkriegen. Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Band 21. R. Oldenbourg Verlag, München 1998. X, 278 Seiten, geb. 68,- Mark, br. 38,- Mark.
Die erste deutsche Demokratie hat sich besser geschlagen, als man eigentlich erwarten konnte. So kann es Betrachtern vorkommen, die den Blick vom Ende der Weimarer Republik und von der deutschen Katastrophe fortwenden und stattdessen das gesamte Europa jener Zeit in den Blick nehmen, die die Nachlebenden die Zwischenkriegszeit nennen. Wer es tut, dem wird die nationalsozialistische "Machtergreifung" von 1933 womöglich als ein Stück europäischer Normalität erscheinen. Denn fast überall in Europa befanden sich zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Demokratie und Parlamentarismus in der Krise. In der Mehrzahl der Länder Europas wich schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Demokratie autoritären oder diktatorischen Regimen. Im Osten Europas blieb nur die Tschechoslowakei verschont. In Italien holte sich Benito Mussolini schon 1922 die Macht. Spanien war seit 1923 eine Diktatur, Portugal seit 1926. Die französische Republik mündete 1940 in das Regime Marshall Pétains, vorausgegangen war nicht nur die Kriegsniederlage gegen das nationalsozialistische Deutschland, sondern auch die lange Krise der Dritten Republik. Nur in Großbritannien, der Schweiz, den Benelux-Staaten und den skandinavischen Ländern überlebte die Demokratie, bis auf die Schweiz allesamt traditionsreiche parlamentarische Monarchien, die 1918 weder Revolution noch territoriale Veränderung erlitten hatten. Der europäische Vergleich, zu dem Ergebnis kommt der Münchener Zeithistoriker Horst Möller, "entzieht vorurteilsbehafteten Klischees den Boden, denen zufolge etwa nur die Deutschen aufgrund einer vermeintlichen autoritären Disposition zu diktatorischen Lösungen neigten".
Handbücher wollen nicht Pionierwerke sein, sondern auf knappem Raum Darstellung und Summe der Forschung bieten. Mit Möllers spannendem Handbuch über die Geschichte der Zwischenkriegszeit und über das Scheitern der Demokratie in Europa verhält es sich anders. Denn Überblickswerke, die sich ausschließlich diesem Zeitraum widmen, gibt es kaum, vergleichende Studien noch weniger. Möller berichtet nicht über ein bekanntes Forschungsgebiet. Er definiert ein neues und trägt zusammen, was die Literatur dazu hergibt. Das ist kein Zufall. Das Münchener Institut für Zeitgeschichte, Möller ist dort Direktor, untersucht derzeit jene Krise des europäischen Parlamentarismus, mit vergleichendem Blick vor allem auf Deutschland und Frankreich; Möllers Buch zeichnet dafür den Rahmen. Oft wird es nicht vorkommen, dass sozusagen das erste Ergebnis eines Forschungsprojekts ein Handbuch ist. Wenn etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft dies Beispiel zur Norm erhöbe, hätte sie nur noch wenige Projekte zu fördern. Aber die wären dann lohnend.
Am Anfang war Versailles. "Die Stunde der Abrechnung ist da." Mit den Worten überreichte der französische Premierminister Georges Clemenceau am 7. Mai 1919 in Versailles der Delegation des besiegten Deutschen Reiches die Friedensbedingungen. Verhandlungen gab es nicht. Am 16. Juni folgte ein Ultimatum. Am 28. Juni unterzeichnete Reichsaußenminister Hermann Müller den Friedensvertrag, unter Vorbehalt: Dem deutschen Volk, erklärte die Reichsregierung, fehlten die Mittel, sich zu verteidigen.
Clemenceaus Abrechnungsfrieden war kein Frieden, und die internationale Ordnung des Völkerbundes, die auf ihm gründete, Historiker sprechen vom Versailler System, war keine Ordnung. Sie stand auf der europäischen Hegemonie Frankreichs und der Ohnmacht Deutschlands. Beides war eine optische Täuschung. Durch Lenins Oktoberrevolution hatten England und Frankreich den russischen Verbündeten im Rücken des Deutschen Reiches verloren. 1918 war Deutschland darum in potenziell stärkerer Position als 1914. Die Deutschen haben das damals nur nicht gemerkt. Sonst hätten sie vielleicht den "Versailler Diktatfrieden" nicht so tragisch genommen.
Das Versailler System war immer instabil. Es gab mehr große Mächte, die es ablehnten, als solche, die es trugen: Deutschland und Russland strebten nach Revision. Italien, obwohl Siegermacht, war mit seinen Kriegsgewinnen unzufrieden. Die Vereinigten Staaten hatten den Weltkrieg entschieden. Aber Clemenceaus Vergeltungsfrieden wollten sie nicht ratifizeren. Das Versailler System stand nur auf zwei Beinen, einem englischen und einem französischen. Frankreich suchte darum Bündnispartner unter den kleineren Mächten Ost- und Südosteuropas. Aber die waren überfordert. Das Versailler System, so drückt es Möller aus, litt an einem "grundsätzlichen Mangel an realpolitischer Adäquanz".
Noch schwerer wog ein anderes Defizit. Der Versailler Vertrag war Deutschland aufgezwungen worden. Einige seiner territorialen Bestimmungen, die Abtrennung Danzigs, Westpreußens, des Memellandes und von Teilen Oberschlesiens vom Deutschen Reich sowie das Verbot der Vereinigung mit Rest-Österreich, verletzten das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auch Briten und Franzosen war das bewusst. 1919, schreibt Möller, war darum "keine internationale Ordnung begründet worden, die auch nur von einer der Großmächte als wirklich legitim eingeschätzt wurde". Das war ein Grund, warum später London und Paris Hitlers Forderungen wenig Widerstand entgegensetzten.
Der Instabilität der Versailler Ordnung entsprach die innere Instabilität der meisten europäischen Demokratien. Auch das hing mit den Pariser Friedensverträgen zusammen. Zwischen Ostsee und Schwarzem Meer waren zwischen 1917 und 1920 zahlreiche Staaten gegründet, wiedergegründet oder erweitert worden. Die meisten von ihnen waren nicht wirklich Nationalstaaten, sondern ethnisch sehr gemischte und entsprechend instabile "Nationalitätenstaaten", in denen übrigens Juden statistisch meist gesondert erfasst wurden. Das, schreibt Möller, hatte Folgen: "Tatsächlich hat die Beseitigung von zwei der drei größten Vielvölkerstaaten, nämlich Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs, das Minoritätenproblem vervielfacht, weil es nun in zwar kleineren, aber zahlreicheren Staaten als vor 1918 auftauchte." Was den neuen Staaten an nationaler Geschlossenheit fehlte, ersetzten sie durch nationalistischen Eifer. Das eben wiedergeborene Polen, berichtet Möller, huldigte "der Maxime nationalstaatlicher Expansion" bis in die entferntesten ethnischen Streugebiete und leistete sich Krieg und territorialen Streit mit fast allen Nachbarn. 1938 marschierten mit Hitlers Wehrmacht auch polnische Truppen in die Tschechoslowakei ein und annektierten Teschen und das Olsagebiet. "Wo die Macht dazu vorhanden war, versuchten die Staaten, das Minderheitenproblem nicht im Einklang mit der Völkerbundsatzung, sondern mit Gewalt zu lösen. Ein Beispiel bildete zu Beginn der zwanziger Jahre die Vertreibung von 2,35 Millionen Griechen aus der Türkei und 400 000 Türken aus Griechenland." Das Beispiel sollte Schule machen.
Auch die Weltwirtschaftskrise, 1929 ausgelöst von einem New Yorker Börsenkrach, wirkte sowohl auf die internationale Ordnung als auch auf die innere Ordnung der ohnehin labilen europäischen Staaten. Handel und wirtschaftliche Kooperation zwischen den europäischen Industriestaaten wichen "wirtschaftlichem Nationalismus" (Hermann Graml). Sogar die sonst freihändlerischen Briten schützten 1932 ihren Commonwealth durch hohe Importzölle. Frankreich schloss sich in seinem Kolonialreich ein. Mussolinis Autarkiepolitik und Hitlers Großraumwahn hatten auch diesen Hintergrund. Währenddessen riefen millionenstarke Arbeitslosenheere nicht nur in Deutschland nach staatlicher Intervention, nach staatlich gelenkter Wirtschaft, nach dem starken Staat. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn sie ihn nicht bekommen hätten. "Am Ende der Weimarer Republik", schreibt Möller, "war selbst ein großer Teil der Demokraten überzeugt, dass es so nicht bleiben könne. - Die 43,9 Prozent der Deutschen, die am 5. März 1933 Hitler wählten, entschieden sich vermutlich in ihrer großen Mehrheit für den Typus der Diktatur, der dem italienischen Faschismus ähnelte und der von 1933 bis 1939 in Deutschland bestand, kaum aber für den (totalen) Krieg und noch weniger für Auschwitz: Beides lag für die meisten außerhalb des Vorstellbaren."
Der große europäische Sonderfall war nicht Deutschland, sondern Großbritannien. Was die Briten von ihren Nachbarn auf dem Kontinent unterschied, war nicht die Abwesenheit der Krise, sondern, schreibt Möller, "die Fähigkeit, sie zu meistern". Dafür gab es Gründe: Großbritannien ging mit stabilem Parteiensystem in die Weltwirtschaftskrise. Sichtbar wurde das in der für europäische Verhältnisse ungewöhnlich langen, sechsjährigen Amtszeit Premierminister Macdonalds von 1929 bis 1935, zugleich Ergebnis und Ursache von Stabilität. Während es in Deutschland und Frankreich immer auch Parteien gab, die die bestehende Verfassungsordnung beseitigen wollten, waren die beiden großen britischen Parteien systemkonform. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise erwiesen sie sich zur parlamentarischen Mehrheitsbildung und zum Kompromiss fähig. "Der Vergleich der innenpolitischen Entwicklung der großen europäischen Staaten zeigt eindeutig", so Möllers Schlussfolgerung, "dass Großbritannien einen Sonderweg ging, der bewies, dass auch eine parlamentarische Demokratie ausreichende Kapazität zur Lösung fundamentaler politischer und sozialökonomischer Krisen aufbringen kann."
HEINRICH MAETZKE
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Horst Möllers vergleichende Darstellung der europäischen Geschichte zwischen den Weltkriegen
Horst Möller: Europa zwischen den Weltkriegen. Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Band 21. R. Oldenbourg Verlag, München 1998. X, 278 Seiten, geb. 68,- Mark, br. 38,- Mark.
Die erste deutsche Demokratie hat sich besser geschlagen, als man eigentlich erwarten konnte. So kann es Betrachtern vorkommen, die den Blick vom Ende der Weimarer Republik und von der deutschen Katastrophe fortwenden und stattdessen das gesamte Europa jener Zeit in den Blick nehmen, die die Nachlebenden die Zwischenkriegszeit nennen. Wer es tut, dem wird die nationalsozialistische "Machtergreifung" von 1933 womöglich als ein Stück europäischer Normalität erscheinen. Denn fast überall in Europa befanden sich zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Demokratie und Parlamentarismus in der Krise. In der Mehrzahl der Länder Europas wich schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Demokratie autoritären oder diktatorischen Regimen. Im Osten Europas blieb nur die Tschechoslowakei verschont. In Italien holte sich Benito Mussolini schon 1922 die Macht. Spanien war seit 1923 eine Diktatur, Portugal seit 1926. Die französische Republik mündete 1940 in das Regime Marshall Pétains, vorausgegangen war nicht nur die Kriegsniederlage gegen das nationalsozialistische Deutschland, sondern auch die lange Krise der Dritten Republik. Nur in Großbritannien, der Schweiz, den Benelux-Staaten und den skandinavischen Ländern überlebte die Demokratie, bis auf die Schweiz allesamt traditionsreiche parlamentarische Monarchien, die 1918 weder Revolution noch territoriale Veränderung erlitten hatten. Der europäische Vergleich, zu dem Ergebnis kommt der Münchener Zeithistoriker Horst Möller, "entzieht vorurteilsbehafteten Klischees den Boden, denen zufolge etwa nur die Deutschen aufgrund einer vermeintlichen autoritären Disposition zu diktatorischen Lösungen neigten".
Handbücher wollen nicht Pionierwerke sein, sondern auf knappem Raum Darstellung und Summe der Forschung bieten. Mit Möllers spannendem Handbuch über die Geschichte der Zwischenkriegszeit und über das Scheitern der Demokratie in Europa verhält es sich anders. Denn Überblickswerke, die sich ausschließlich diesem Zeitraum widmen, gibt es kaum, vergleichende Studien noch weniger. Möller berichtet nicht über ein bekanntes Forschungsgebiet. Er definiert ein neues und trägt zusammen, was die Literatur dazu hergibt. Das ist kein Zufall. Das Münchener Institut für Zeitgeschichte, Möller ist dort Direktor, untersucht derzeit jene Krise des europäischen Parlamentarismus, mit vergleichendem Blick vor allem auf Deutschland und Frankreich; Möllers Buch zeichnet dafür den Rahmen. Oft wird es nicht vorkommen, dass sozusagen das erste Ergebnis eines Forschungsprojekts ein Handbuch ist. Wenn etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft dies Beispiel zur Norm erhöbe, hätte sie nur noch wenige Projekte zu fördern. Aber die wären dann lohnend.
Am Anfang war Versailles. "Die Stunde der Abrechnung ist da." Mit den Worten überreichte der französische Premierminister Georges Clemenceau am 7. Mai 1919 in Versailles der Delegation des besiegten Deutschen Reiches die Friedensbedingungen. Verhandlungen gab es nicht. Am 16. Juni folgte ein Ultimatum. Am 28. Juni unterzeichnete Reichsaußenminister Hermann Müller den Friedensvertrag, unter Vorbehalt: Dem deutschen Volk, erklärte die Reichsregierung, fehlten die Mittel, sich zu verteidigen.
Clemenceaus Abrechnungsfrieden war kein Frieden, und die internationale Ordnung des Völkerbundes, die auf ihm gründete, Historiker sprechen vom Versailler System, war keine Ordnung. Sie stand auf der europäischen Hegemonie Frankreichs und der Ohnmacht Deutschlands. Beides war eine optische Täuschung. Durch Lenins Oktoberrevolution hatten England und Frankreich den russischen Verbündeten im Rücken des Deutschen Reiches verloren. 1918 war Deutschland darum in potenziell stärkerer Position als 1914. Die Deutschen haben das damals nur nicht gemerkt. Sonst hätten sie vielleicht den "Versailler Diktatfrieden" nicht so tragisch genommen.
Das Versailler System war immer instabil. Es gab mehr große Mächte, die es ablehnten, als solche, die es trugen: Deutschland und Russland strebten nach Revision. Italien, obwohl Siegermacht, war mit seinen Kriegsgewinnen unzufrieden. Die Vereinigten Staaten hatten den Weltkrieg entschieden. Aber Clemenceaus Vergeltungsfrieden wollten sie nicht ratifizeren. Das Versailler System stand nur auf zwei Beinen, einem englischen und einem französischen. Frankreich suchte darum Bündnispartner unter den kleineren Mächten Ost- und Südosteuropas. Aber die waren überfordert. Das Versailler System, so drückt es Möller aus, litt an einem "grundsätzlichen Mangel an realpolitischer Adäquanz".
Noch schwerer wog ein anderes Defizit. Der Versailler Vertrag war Deutschland aufgezwungen worden. Einige seiner territorialen Bestimmungen, die Abtrennung Danzigs, Westpreußens, des Memellandes und von Teilen Oberschlesiens vom Deutschen Reich sowie das Verbot der Vereinigung mit Rest-Österreich, verletzten das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auch Briten und Franzosen war das bewusst. 1919, schreibt Möller, war darum "keine internationale Ordnung begründet worden, die auch nur von einer der Großmächte als wirklich legitim eingeschätzt wurde". Das war ein Grund, warum später London und Paris Hitlers Forderungen wenig Widerstand entgegensetzten.
Der Instabilität der Versailler Ordnung entsprach die innere Instabilität der meisten europäischen Demokratien. Auch das hing mit den Pariser Friedensverträgen zusammen. Zwischen Ostsee und Schwarzem Meer waren zwischen 1917 und 1920 zahlreiche Staaten gegründet, wiedergegründet oder erweitert worden. Die meisten von ihnen waren nicht wirklich Nationalstaaten, sondern ethnisch sehr gemischte und entsprechend instabile "Nationalitätenstaaten", in denen übrigens Juden statistisch meist gesondert erfasst wurden. Das, schreibt Möller, hatte Folgen: "Tatsächlich hat die Beseitigung von zwei der drei größten Vielvölkerstaaten, nämlich Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs, das Minoritätenproblem vervielfacht, weil es nun in zwar kleineren, aber zahlreicheren Staaten als vor 1918 auftauchte." Was den neuen Staaten an nationaler Geschlossenheit fehlte, ersetzten sie durch nationalistischen Eifer. Das eben wiedergeborene Polen, berichtet Möller, huldigte "der Maxime nationalstaatlicher Expansion" bis in die entferntesten ethnischen Streugebiete und leistete sich Krieg und territorialen Streit mit fast allen Nachbarn. 1938 marschierten mit Hitlers Wehrmacht auch polnische Truppen in die Tschechoslowakei ein und annektierten Teschen und das Olsagebiet. "Wo die Macht dazu vorhanden war, versuchten die Staaten, das Minderheitenproblem nicht im Einklang mit der Völkerbundsatzung, sondern mit Gewalt zu lösen. Ein Beispiel bildete zu Beginn der zwanziger Jahre die Vertreibung von 2,35 Millionen Griechen aus der Türkei und 400 000 Türken aus Griechenland." Das Beispiel sollte Schule machen.
Auch die Weltwirtschaftskrise, 1929 ausgelöst von einem New Yorker Börsenkrach, wirkte sowohl auf die internationale Ordnung als auch auf die innere Ordnung der ohnehin labilen europäischen Staaten. Handel und wirtschaftliche Kooperation zwischen den europäischen Industriestaaten wichen "wirtschaftlichem Nationalismus" (Hermann Graml). Sogar die sonst freihändlerischen Briten schützten 1932 ihren Commonwealth durch hohe Importzölle. Frankreich schloss sich in seinem Kolonialreich ein. Mussolinis Autarkiepolitik und Hitlers Großraumwahn hatten auch diesen Hintergrund. Währenddessen riefen millionenstarke Arbeitslosenheere nicht nur in Deutschland nach staatlicher Intervention, nach staatlich gelenkter Wirtschaft, nach dem starken Staat. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn sie ihn nicht bekommen hätten. "Am Ende der Weimarer Republik", schreibt Möller, "war selbst ein großer Teil der Demokraten überzeugt, dass es so nicht bleiben könne. - Die 43,9 Prozent der Deutschen, die am 5. März 1933 Hitler wählten, entschieden sich vermutlich in ihrer großen Mehrheit für den Typus der Diktatur, der dem italienischen Faschismus ähnelte und der von 1933 bis 1939 in Deutschland bestand, kaum aber für den (totalen) Krieg und noch weniger für Auschwitz: Beides lag für die meisten außerhalb des Vorstellbaren."
Der große europäische Sonderfall war nicht Deutschland, sondern Großbritannien. Was die Briten von ihren Nachbarn auf dem Kontinent unterschied, war nicht die Abwesenheit der Krise, sondern, schreibt Möller, "die Fähigkeit, sie zu meistern". Dafür gab es Gründe: Großbritannien ging mit stabilem Parteiensystem in die Weltwirtschaftskrise. Sichtbar wurde das in der für europäische Verhältnisse ungewöhnlich langen, sechsjährigen Amtszeit Premierminister Macdonalds von 1929 bis 1935, zugleich Ergebnis und Ursache von Stabilität. Während es in Deutschland und Frankreich immer auch Parteien gab, die die bestehende Verfassungsordnung beseitigen wollten, waren die beiden großen britischen Parteien systemkonform. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise erwiesen sie sich zur parlamentarischen Mehrheitsbildung und zum Kompromiss fähig. "Der Vergleich der innenpolitischen Entwicklung der großen europäischen Staaten zeigt eindeutig", so Möllers Schlussfolgerung, "dass Großbritannien einen Sonderweg ging, der bewies, dass auch eine parlamentarische Demokratie ausreichende Kapazität zur Lösung fundamentaler politischer und sozialökonomischer Krisen aufbringen kann."
HEINRICH MAETZKE
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