Auch die zwanziger Jahre kannten bereits europäische Einigungsanstrengungen auf deutsch-französischer Basis. Insbesondere auf der Ebene nichtstaatlicher Organisationen entwickelte sich ein enges Netz transnationaler Elitenbeziehungen - gepflegt, aber auch heftig diskutiert in den bürgerlich-aristokratischen Intellektuellenkreisen der Nachkriegszeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2006Sicherheit durch Verstehen
Transnationale Gesellschaftsbeziehungen in Europa nach 1918
Die internationalen Beziehungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg sind bisher überwiegend unter dem Aspekt der staatlichen Initiativen oder der von staatlicher Seite unterstützten Bemühungen von Nichtregierungsagenturen betrachtet worden. Der Grund hierfür lag - was vor allem das deutsch-französische Verhältnis betrifft - besonders in der von gegenseitigem staatlichen Mißtrauen belasteten Sicherheitsfrage, die noch über den Locarno-Vertrag von 1925 hinaus die Beziehungen der Regierungen in Paris und Berlin beherrschte. Neben dieser Präponderanz der staatlichen Seite machten sich aber, wie Guido Müller sehr deutlich zeigt, seit 1924 in Wien, Paris und Berlin nachweisbare private und gesellschaftliche Initiativen zur Verständigung Frankreichs und Deutschlands geltend. Sie waren getragen von Kräften, deren Verankerung vor allem im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich lag und die außer in der französischen und deutschen Hauptstadt auch in Österreich und Luxemburg einen Mittelpunkt hatten und auf diese Weise ein transnationales Netzwerk führender Persönlichkeiten ermöglichten.
Die Verästelungen dieses höchst interessanten transnationalen Geflechts, die Müller bereits in Einzeluntersuchungen über den luxemburgischen Großindustriellen Emil Mayrisch (ARBED), über dessen europapolitischen Ratgeber Pierre Viénot, über den österreichischen Prinzen Karl Anton Rohan und den von diesem schon in jungen Jahren in Wien gegründeten "Europäischen Kulturbund" sowie über den mit Rohan zusammenarbeitenden Publizisten Max Clauss veröffentlicht hat, sind nun eindrucksvoll zusammengefaßt. Das geht freilich nicht ohne Redundanzen ab. Der Akzent liegt aber auf der von Mayrisch betriebenen Gründung des "Deutsch-Französischen Studienkomitees" (1926), das Verbindungsbüros in Paris (Gustav Krukenberg) und Berlin (Pierre Viénot) unterhielt, und ferner auf dem von Prinz Rohan schon 1922 in Wien ins Leben gerufenen "Europäischen Kulturbund" (in Deutschland seit 1926) mit der bald darauf gegründeten Zeitschrift "Europäische Revue" und der elitären Zeitschrift "Abendland".
Zwischen dem Studienkomitee ("Mayrischkomitee") und dem Kulturbund gab es vielfältige personelle Verbindungen, daneben auch Kontakte zu anderen privaten Organisationen wie der "Deutsch-Französischen Gesellschaft". Neben den Gründern Mayrisch und Prinz Rohan nahmen auch führende Industrielle, Wissenschaftler und Künstler wie Arnold Bergsträßer, Carl Bosch, Robert Bosch, Hermann Bücher, Dannie Heinemann, Werner von Schnitzler, Ernst von Simson, Max Warburg, André Gide, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann an den Treffen in Paris und Berlin, Wien, Colpach (Luxemburg), Davos, Pontigny und anderen internationalen Begegnungsstätten teil. Müller versteht daher seine Darstellung auch als Ansatz zu einer "Gruppenbiographie" der im Komitee und im Kulturbund zwischen 1924 und 1933 beziehungsweise sogar noch bis 1938 tätigen Mitglieder, die er auch als eine neue Aristokratie und "Euroligarchie" bezeichnet.
Wenn sich bei diesem prosopographischen Ansatz auch eine leichte Asymmetrie zwischen den beiden Büroleitern des Komitees in Paris und Berlin ergibt, bei der die Biographie Krukenbergs nach 1930 ausgeblendet bleibt, so erweist sich doch insgesamt die personenbezogene Untersuchungsmethode Müllers für den Aufweis der vielfältigen transnationalen Gesellschaftsbeziehungen und ihrer "cluster" als geeignet. Sie führt auf eine "jungkonservative" beziehungsweise liberalkonservative Gruppierung von Funktions-, Wirtschafts-, Kultur- und Standeseliten, die einen Konservatismus vertraten, der sich für Modernisierungsprogramme offenzuhalten suchte. Dieser schwierige Balanceversuch gelang aber letztlich nicht, denn das zeitweise bestehende Interesse des Europäischen Kulturbundes am italienischen Faschismus beruhte bis in die dreißiger Jahre auf dem Irrtum, daß man dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsprogramm noch umformen könne. Hierzu wäre aber zum Beispiel auch eine kritische Auseinandersetzung mit den berufsständischen Lehren des katholischen österreichischen Volkswirts und Soziologen Othmar Spann notwendig gewesen, dessen Gesellschafts- und Staatsauffassung anscheinend im Europäischen Kulturbund kaum diskutiert wurde und wohl deshalb auch in der Darstellung Müllers unerwähnt bleibt.
Mit dem Tod Mayrischs 1928 verlor sich bald die zeitweise faszinierende Ausstrahlung des Deutsch-Französischen Studienkomitees und des Europäischen Kulturbundes. Ihre transnationalen Gesellschaftsbeziehungen litten in ihren Erfolgsaussichten schon früh unter den Reserven der staatlichen Stellen, insbesondere der Außenministerien in Berlin und Paris. Es habe nur wenige Diplomaten gegeben - wie Botschafter Leopold von Hoesch in Paris und Botschafter Pierre de Margerie in Berlin -, "die sich gegenüber den Versuchen einer gesellschaftlichen und kulturellen Annäherung durch nichtstaatliche Initiativen positiv verhielten".
In der Wilhelmstraße unterstellte man dem Komitee 1926 "schwerindustrielle Sonderinteressen" und übte immer wieder starke Zurückhaltung. In Wirklichkeit ging es aber ebenso um die für Deutschland wichtigen Exportinteressen der "jungen" chemischen und der elektrotechnischen Industrien, was der Schwerindustrielle Mayrisch sehr wohl begriffen hatte und in der transnationalen Zusammensetzung "seines" Komitees - laut Müller in einer Art "Zukunftswerkstatt" - zu berücksichtigen wußte. Das war aber nur die eine Seite der Sache. Die Komitee-Denkschrift Viénots von 1925 ging von der Notwendigkeit aus, daß die beiden Völker sich zuerst einmal kennenlernen müßten, um einander besser zu verstehen und so die politischen Spannungfelder zwischen Staaten und die "Überbetonung des Nationalen" entschärfen zu können. Diese innovativen Gedanken, aber auch die Irrtümer und Euphorien, die beiden Organisationen zugrunde lagen, erschließt Müller mit sehr viel Gespür für die Spannungen zwischen staatlichen und privaten Stellen. Die interessante Folge davon ist, daß man die Epoche Stresemanns und Briands, aber auch die Schlußphase der Weimarer Republik in einem differenzierteren und in mancher Hinsicht farbigeren Licht betrachten kann.
KURT DÜWELL
Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund. Oldenbourg Verlag, München 2005. 525 S., 54,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Transnationale Gesellschaftsbeziehungen in Europa nach 1918
Die internationalen Beziehungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg sind bisher überwiegend unter dem Aspekt der staatlichen Initiativen oder der von staatlicher Seite unterstützten Bemühungen von Nichtregierungsagenturen betrachtet worden. Der Grund hierfür lag - was vor allem das deutsch-französische Verhältnis betrifft - besonders in der von gegenseitigem staatlichen Mißtrauen belasteten Sicherheitsfrage, die noch über den Locarno-Vertrag von 1925 hinaus die Beziehungen der Regierungen in Paris und Berlin beherrschte. Neben dieser Präponderanz der staatlichen Seite machten sich aber, wie Guido Müller sehr deutlich zeigt, seit 1924 in Wien, Paris und Berlin nachweisbare private und gesellschaftliche Initiativen zur Verständigung Frankreichs und Deutschlands geltend. Sie waren getragen von Kräften, deren Verankerung vor allem im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich lag und die außer in der französischen und deutschen Hauptstadt auch in Österreich und Luxemburg einen Mittelpunkt hatten und auf diese Weise ein transnationales Netzwerk führender Persönlichkeiten ermöglichten.
Die Verästelungen dieses höchst interessanten transnationalen Geflechts, die Müller bereits in Einzeluntersuchungen über den luxemburgischen Großindustriellen Emil Mayrisch (ARBED), über dessen europapolitischen Ratgeber Pierre Viénot, über den österreichischen Prinzen Karl Anton Rohan und den von diesem schon in jungen Jahren in Wien gegründeten "Europäischen Kulturbund" sowie über den mit Rohan zusammenarbeitenden Publizisten Max Clauss veröffentlicht hat, sind nun eindrucksvoll zusammengefaßt. Das geht freilich nicht ohne Redundanzen ab. Der Akzent liegt aber auf der von Mayrisch betriebenen Gründung des "Deutsch-Französischen Studienkomitees" (1926), das Verbindungsbüros in Paris (Gustav Krukenberg) und Berlin (Pierre Viénot) unterhielt, und ferner auf dem von Prinz Rohan schon 1922 in Wien ins Leben gerufenen "Europäischen Kulturbund" (in Deutschland seit 1926) mit der bald darauf gegründeten Zeitschrift "Europäische Revue" und der elitären Zeitschrift "Abendland".
Zwischen dem Studienkomitee ("Mayrischkomitee") und dem Kulturbund gab es vielfältige personelle Verbindungen, daneben auch Kontakte zu anderen privaten Organisationen wie der "Deutsch-Französischen Gesellschaft". Neben den Gründern Mayrisch und Prinz Rohan nahmen auch führende Industrielle, Wissenschaftler und Künstler wie Arnold Bergsträßer, Carl Bosch, Robert Bosch, Hermann Bücher, Dannie Heinemann, Werner von Schnitzler, Ernst von Simson, Max Warburg, André Gide, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann an den Treffen in Paris und Berlin, Wien, Colpach (Luxemburg), Davos, Pontigny und anderen internationalen Begegnungsstätten teil. Müller versteht daher seine Darstellung auch als Ansatz zu einer "Gruppenbiographie" der im Komitee und im Kulturbund zwischen 1924 und 1933 beziehungsweise sogar noch bis 1938 tätigen Mitglieder, die er auch als eine neue Aristokratie und "Euroligarchie" bezeichnet.
Wenn sich bei diesem prosopographischen Ansatz auch eine leichte Asymmetrie zwischen den beiden Büroleitern des Komitees in Paris und Berlin ergibt, bei der die Biographie Krukenbergs nach 1930 ausgeblendet bleibt, so erweist sich doch insgesamt die personenbezogene Untersuchungsmethode Müllers für den Aufweis der vielfältigen transnationalen Gesellschaftsbeziehungen und ihrer "cluster" als geeignet. Sie führt auf eine "jungkonservative" beziehungsweise liberalkonservative Gruppierung von Funktions-, Wirtschafts-, Kultur- und Standeseliten, die einen Konservatismus vertraten, der sich für Modernisierungsprogramme offenzuhalten suchte. Dieser schwierige Balanceversuch gelang aber letztlich nicht, denn das zeitweise bestehende Interesse des Europäischen Kulturbundes am italienischen Faschismus beruhte bis in die dreißiger Jahre auf dem Irrtum, daß man dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsprogramm noch umformen könne. Hierzu wäre aber zum Beispiel auch eine kritische Auseinandersetzung mit den berufsständischen Lehren des katholischen österreichischen Volkswirts und Soziologen Othmar Spann notwendig gewesen, dessen Gesellschafts- und Staatsauffassung anscheinend im Europäischen Kulturbund kaum diskutiert wurde und wohl deshalb auch in der Darstellung Müllers unerwähnt bleibt.
Mit dem Tod Mayrischs 1928 verlor sich bald die zeitweise faszinierende Ausstrahlung des Deutsch-Französischen Studienkomitees und des Europäischen Kulturbundes. Ihre transnationalen Gesellschaftsbeziehungen litten in ihren Erfolgsaussichten schon früh unter den Reserven der staatlichen Stellen, insbesondere der Außenministerien in Berlin und Paris. Es habe nur wenige Diplomaten gegeben - wie Botschafter Leopold von Hoesch in Paris und Botschafter Pierre de Margerie in Berlin -, "die sich gegenüber den Versuchen einer gesellschaftlichen und kulturellen Annäherung durch nichtstaatliche Initiativen positiv verhielten".
In der Wilhelmstraße unterstellte man dem Komitee 1926 "schwerindustrielle Sonderinteressen" und übte immer wieder starke Zurückhaltung. In Wirklichkeit ging es aber ebenso um die für Deutschland wichtigen Exportinteressen der "jungen" chemischen und der elektrotechnischen Industrien, was der Schwerindustrielle Mayrisch sehr wohl begriffen hatte und in der transnationalen Zusammensetzung "seines" Komitees - laut Müller in einer Art "Zukunftswerkstatt" - zu berücksichtigen wußte. Das war aber nur die eine Seite der Sache. Die Komitee-Denkschrift Viénots von 1925 ging von der Notwendigkeit aus, daß die beiden Völker sich zuerst einmal kennenlernen müßten, um einander besser zu verstehen und so die politischen Spannungfelder zwischen Staaten und die "Überbetonung des Nationalen" entschärfen zu können. Diese innovativen Gedanken, aber auch die Irrtümer und Euphorien, die beiden Organisationen zugrunde lagen, erschließt Müller mit sehr viel Gespür für die Spannungen zwischen staatlichen und privaten Stellen. Die interessante Folge davon ist, daß man die Epoche Stresemanns und Briands, aber auch die Schlußphase der Weimarer Republik in einem differenzierteren und in mancher Hinsicht farbigeren Licht betrachten kann.
KURT DÜWELL
Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund. Oldenbourg Verlag, München 2005. 525 S., 54,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aufschlussreich findet Rezensent Kurt Düwell diese Studie über transnationale Gesellschaftsbeziehungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, die Guido Müller vorgelegt hat. Im Mittelpunkt der Untersuchung sieht er eine Reihe von privaten und gesellschaftlichen Initiativen zur Verständigung Frankreichs und Deutschlands, die vor allem im kulturellen und wirtschaftlichen Bereich angesiedelt waren. Erkennbar wird für Düwell ein weitverzweigtes transnationales Geflecht verschiedener Organisationen wie dem "Deutsch-Französischen Studienkomitee" oder dem "Europäischen Kulturbund", denen es um die Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses ging. Richtig scheint ihm der personenbezogene Ansatz der Untersuchung - schließlich spielten neben den Gründern Mayrisch und Prinz Rohan auch führende Industrielle, Wissenschaftler und Künstler wie Robert Bosch, Hermann Bücher, Max Warburg, Andre Gide, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann bei der Ausbildung der Netzwerke eine bedeutende Rolle. Lobend beurteilt Düwell schließlich Müllers Darstellung der zahlreichen Spannungen zwischen den privaten Initiativen und staatlichen Stellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"...l'étude de Guido Müller illustre bien la densité du réseau de relations sociales tissé dans le cadre des activités de ces deux organisations et circonscrit les trois buts principaux qui furent ceux de cette ,euroligarchie', à savoir l'émergence d'un noyau économique européen, la promotion d'un traditionalisme culturel et celle du rôle dominant des élites franco-allemandes sur le continent européen." Anne-Marie Saint-GiIlle in: Jahrbuch Frankreich-Forum Bd. 7, 2006/7 "Die Aachener Habilitationsschrift von Guido Müller über das nach mehrjähriger Vorarbeit am 30. Mai 1926 gegründete 'Deutsch-Französische Studienkomitee' und den am 22. Mai 1922 in Wien etablierten 'Europäischen Kulturbund', erweitert die Kenntnisse der intellektuellen, kulturellen und politischen Beziehungen zwischen den 'Erzfeinden' in vielerlei Hinsicht. Wobei damit nur die Oberfläche von Müllers Arbeit beschrieben ist, nicht aber die Gewinne, die Historiker, Ideengeschichtler und Philosophiehistoriker aus der Aufarbeitung des Materials ziehen können. [...] Auf weitere Forschungen seinerseits darf jeder gespannt sein, der sich jenseits allzu enger universitärer Fragestellungen bewegt." Thomas Meyer in: Geschichte transnational, Febr. 2007