Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 6,00 €
  • Broschiertes Buch

Die Diskussion über europäische Identität und ein Gesamteuropa wurde am engagiertesten von den Schriftstellern in Gang gebracht. Hier wird anhand einer Reihe von Fallstudien gezeigt, welche Bedeutung das Europa-Thema in den Krisenzeiten der beiden letzten Jahrhunderte gerade in der deutschsprachigen Dichtung hatte. Von Novalis bis Herta Müller, von Görres bis Feuchtwanger, von Thomas Mann bis Peter Schneider, von Broch bis Handke reicht die Kette der Autoren, deren Europa-Vorstellungen hier analysiert werden. Europa ist ein kulturelles Mosaik geworden. Die Umbrüche in Europa nach 1989, nach…mehr

Produktbeschreibung
Die Diskussion über europäische Identität und ein Gesamteuropa wurde am engagiertesten von den Schriftstellern in Gang gebracht. Hier wird anhand einer Reihe von Fallstudien gezeigt, welche Bedeutung das Europa-Thema in den Krisenzeiten der beiden letzten Jahrhunderte gerade in der deutschsprachigen Dichtung hatte. Von Novalis bis Herta Müller, von Görres bis Feuchtwanger, von Thomas Mann bis Peter Schneider, von Broch bis Handke reicht die Kette der Autoren, deren Europa-Vorstellungen hier analysiert werden. Europa ist ein kulturelles Mosaik geworden. Die Umbrüche in Europa nach 1989, nach dem Ende der Jalta-Teilung, haben verdeutlicht, daß Europa sich de facto aus multikulturellen Gesellschaften zusammensetzt, daß die europäische Identität multikulturell geworden ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.1997

Europa ist Liebe!
Paul Michael Lützelers literarischer Wegweiser

Paul Michael Lützeler ist nicht nur ein überzeugter, er ist ein enthusiastischer Europäer, obwohl er als Professor an der Washington University in Saint Louis, Missouri, nicht selber in Europa lebt. Schon sein Buch Die Schriftsteller und Europa, von der Romantik bis zur Gegenwart (1992), eine Fundgrube für jene Europa-Essayistik, in der "auf bewußt übernationale Weise zu europäischen Fragen in Kultur und Politik Stellung genommen wird", hatte darum einen deutlichen Hang zu engagierter Wissenschaft. Jetzt schickt er diesem Panorama acht in den letzten fünf Jahren veröffentlichte "Fallstudien" nach, die zu einem Sammelband unter dem Titel Europäische Identität und Multikultur gebündelt sind.

Das Buch läßt sich als Ergänzung und Weiterführung des größeren Werks lesen. Die neu geschriebene Einleitung ist ein beredtes Plädoyer "für eine Konstruktion der europäischen als multikultureller Identität". Sie unterscheidet wieder mit Hans Kohn ein obsoletes östliches Modell der Nation mit ethnischer Begründung von einem westlichen mit seinem "gesellschaftlichen Konsens aufgeklärter Staatsbürger" und zitiert die Philosophen des guten Willens, "Charles Taylor (mit seinen Ausnahmeregeln für Minoritäten) und Jürgen Habermas (mit den politisch-juristischen Assimilationsforderungen)", für deren Aporien Lyotards Dissensbewußtsein einen theoretischen Ausweg bieten soll.

Die Multikultur ist hier das richtige Bewußtsein, an dem die verschiedensten Positionen von Schriftstellern und Essayisten in Vergangenheit und Gegenwart gemessen werden können: Peter Schneider wird mit einer makellosen Laudatio bedacht, eine ganze Reihe von reisenden deutschen Autoren können wir mit Sympathie bei der Erwerbung des "postkolonialen Blicks" beobachten, Peter de Mendelssohns rührendes Bekenntnis, "daß Europa Liebe ist", läßt sich den Zeugnissen vieler Exilschriftsteller an die Seite stellen, für welche die "abendländische" kulturelle Einheit im Augenblick ihrer Krise erst richtig sichtbar wurde. Frühere Autoren wie Karl Postl alias Charles Sealsfield und Joseph Görres stehen treu zum politischen Europamodell von Claude Henri de Saint-Simon und Augustin Thierry und distanzieren sich von dem religiös-kulturellen Fundamentalismus eines Novalis. Das Buch ist geeignet, den "Europadiskurs" entschieden zu vertiefen, und provoziert auch Fragen, auf die es keine Antwort bereit hat.

Die wichtigste Frage betrifft dabei den Begriff Multikultur selbst. Er umfaßt hier so Verschiedenes wie die europäische Kultur als "Synthese von Hellenismus, römischer Antike, Judentum und christlicher Religion", "die Vielheit der kulturellen Gegebenheiten in Europa", das dringende Problem von "inner- und außereuropäischen Migrationsbewegungen", ja sogar noch "die Rassenkonflikte von Schwarz und Weiß". Ist Multikultur also ein anderer Ausdruck für jenes kosmopolitische Ideal, das in Schillers Internationalhymne "Alle Menschen werden Brüder" lautet? Und ist sie damit tatsächlich zur politischen Identitätsbildung geeignet?

Susan Sontag hat das "Euro-Land" mit der Hauptstadt Brüssel als "Europa minus Kultur" gebrandmarkt. Die darin enthaltene Forderung nach einer kulturellen Begründung des politischen Europa zeugt von einem bedauerlichen Mißtrauen gegen den identitätsstiftenden "gesellschaftlichen Konsens aufgeklärter Staatsbürger". Vielleicht ist das Euro-Land ja gar nicht ein Europa minus Kultur, sondern ein Europa minus Demokratie, von dessen Entscheidungen die Bürger sich ausgeschlossen fühl(t)en?

Es fällt nämlich auf, daß engagierte Europa-Essayisten im 19. Jahrhundert (zum Beispiel Görres) fast ausschließlich über Politik und kaum über Kultur sprechen. Ist der Multikulturalismus nicht überhaupt die westlichste aller Ideologien, welche alle "Kulturen" schließlich folklorisiert, damit über ernste Dinge ungestört in der Sprache des global village geredet werden kann? Es gibt zu denken, daß in Kanada, dem Land des offiziellen Multikulturalismus, gewichtige und keineswegs ethnozentrische Stimmen dieses mit festrednerischem Optimismus betriebene Regierungsprogramm als "Markt der Illusionen" (so Neil Bissoondath), ja sogar als Ausdruck "ethnischer Obsession" (so der Titel eines Buchs von Guy Bouthillier) diagnostizieren. Und das zitierte australische Modell, das sich für Europa als Vorbild anbieten möchte, verdient gewiß Anerkennung für die Abschaffung rassistischer Einwanderungsbedingungen, aber auch sein Multikulturalismus besteht zuerst einmal darin, daß es ganz selbstverständlich, fast absichtslos und mit dem guten Gewissen klassischer Einwanderungsländer von allen Immigranten erwartet, daß sie englisch sprechen.

Lützelers literaturgeschichtliche Studie ist selbst ein Stück "Europa-Essayistik" mit den besten Absichten. Ihr Gegenstand ist aber immer die textgewordene Reflexion von Schriftstellern, denen der Autor mit Respekt und Diskretion gegenübertritt. Deren Ansichten und Vorschläge, die man bei der Lektüre kompetent vermittelt bekommt, provozieren nicht nur die eigene Reflexion, sondern liefern ihr gleichzeitig auch ein so reiches und relevantes Material, daß man dieses Buch nicht nur jedem Europäer, sondern jedem Weltbürger, der Deutsch versteht, gern empfiehlt. HANS-HERBERT RÄKEL

Paul Michael Lützeler: "Europäische Identität und Multikultur". Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik. Stauffenburg Verlag, Tübingen 1997. 203 S., br., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr