Über den Islam wird viel gesprochen und publiziert, aber die anerkannte Soziologin Nilüfer Göle hat in diesem Buch erstmals das Thema aus einer gesamteuropäischen Perspektive und mit Fokus auf den Alltag der Menschen beleuchtet. Sie hat vier Jahre lang in Deutschland, Frankreich, England und anderen Ländern zahlreiche Menschen befragt, was den Islam in Europa ausmacht. Gerade in Zeiten von Terror scheinen die Konfrontationslinien zwischen dem Islam und der europäischen Welt härter zu werden, aber dieser Eindruck trügt. Wie Nilüfer Göle zeigt, ist der Islam längst selbstverständlicher Bestandteil unseres ? gemeinsamen ? modernen Alltagslebens geworden. Es entstehen neue Identitäten und Formen des Zusammenlebens und natürlich auch neue Konflikte, wie etwa im Karikaturenstreit, die aber durchaus kreativ gelöst werden. In diesem Prozess erfindet sich Europa neu, eine Entwicklung, die kein Fundamentalist aufhalten kann.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2017Das Selbstbewusstsein
ganz normaler Muslime
Nilüfer Göle erkundet den Euro-Islam im Alltag
Von 2009 bis 2013 hat die in Ankara geborene, in Paris lehrende Professorin Nilüfer Göle in 21 europäischen Städten Feldforschung über die Lebens- und Gefühlswelt „ganz normaler Muslime“ betrieben. Dabei ging es ihr um nichts Geringeres als die allmähliche Herausbildung einer neuen Bindestrich-Identität: des Euro-Islam. Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit nach Terroranschlägen fast ausschließlich auf das Trennende konzentriert, untersucht Göle Interaktionen im Alltag und die fast unmerklichen Verschiebungen in den europäischen Gesellschaften. Und das ist äußerst interessant.
Die Soziologin und ihr Team haben sich an Kontroversen orientiert, wie sie immer dann entstehen, wenn Differenzen sichtbar werden – etwa Moscheen auf öffentlichen Plätzen erbaut werden, ein Gebet auf der Straße verrichtet, nicht nach Halal-Regeln gekochtes Schulessen verweigert wird oder aber die Vorstellungen dessen, was Satire im Umgang mit dem Heiligen darf oder nicht darf, aufeinanderprallen. Berichten die Medien darüber, wird der Vorfall zum Ereignis, bei dem sich Begegnungen auch zwischen radikal konträr denkenden Menschen ergeben, und das ist dann der Moment, wo die Forscher ins Spiel kommen. In diesen „Berührungszonen“ machen sie Interviews und organisieren Gesprächsrunden, um zu erkennen, ob und wo sich neue Entwicklungen und Perspektiven auftun.
Ein Beispiel, das für viele steht: Nach den Erkenntnissen der Studie spielt die Scharia, also die religiösen Gesetze im Islam, in der Gedankenwelt europäischer Muslime keine große Rolle. Göle registriert, dass bei der Erwähnung der in der Scharia aufgeführten archaischen Strafmaßnahmen ihre Gesprächspartner eher „unangenehm berührt“ reagieren: „Unmissverständlich, ja sogar mit einer Spur von Stolz betonen sie ihr Zugehörigkeitsgefühl zum europäischen Kulturkreis.“
Trotzdem repräsentiert die Scharia das verbindende Band zwischen den Gläubigen. So fühlen sich gebildete Muslime unter dem Druck, die Scharia eigenständig zu interpretieren, sie also aus ihrem Entstehungskontext heraus zu erklären und die dort formulierten Regeln und Pflichten für unsere Zeit zu übersetzen. Damit machen sie sich unabhängig von den religiösen Institutionen ihres Herkunftslandes. Für kritische Muslime, so Göle, ist Europa ein „begehrter Ort“, denn hier wird unabhängiges Denken anerkannt.
Ein zweites Beispiel: Während die Einwanderer der ersten Generation sich damit begnügten, ihren Glauben zurückgezogen zu Hause oder in Gebetsräumen auszuüben, betreten heute zunehmend selbstbewusste junge Frauen mit Kopftuch und beruflichen Ambitionen den öffentlichen Raum und sorgen für Verwirrung, denn in der Vorstellungswelt des Westens ist die Verhüllung ein Zeichen weiblicher Unterdrückung.
Doch diese gläubigen Frauen nehmen sich das Recht, die religiösen Gesetze neu zu interpretieren, und tragen das Kopftuch nicht als Zeichen der Unterwerfung, sondern der religiösen Zugehörigkeit. Solche Eigenständigkeit der Interpretation ist in den Herkunftsländern meist den theologischen Autoritäten vorbehalten und insbesondere für Frauen unzulässig.
Betritt mit dem sich in Europa allmählich verändernden Islam also eine Religion den öffentlichen Raum, die sich in den letzten Jahrzehnten eher in konservativer Erstarrung, ideologischer Verhärtung oder auch menschenverachtendem Fundamentalismus gezeigt hat? Und welche Rolle könnte dieser neue bewegliche Euro-Islam spielen in einem Europa, in dem „die Abschaffung des Heiligen“, also des Unverfügbaren, „zur Ausgangsbedingung für eine weltliche Moderne“ erklärt wurde? Das wird sich noch zeigen. Nilüfer Göle immerhin spricht von einer kulturellen Erneuerung, die einen Paradigmenwechsel auslösen könnte, weil es gilt, in Ländern, wo es nichts Heiliges mehr gibt, Religion und Moderne gleichermaßen zu leben. Muslim und europäischer Staatsbürger – eine neue Entwicklung bahnt sich da ihren Weg.
Gleichzeitig wächst das Misstrauen gegen Muslime und die Ablehnung des Islam. Durch staatliche Regulierung versucht man etwa im laizistischen Frankreich, die sichtbaren Unterschiede einzuebnen. 2004 wurde ein Gesetz verabschiedet, das demonstrative Zeichen jeglicher Religionszugehörigkeit an Schulen verbietet, generell wird es ausschließlich als „Anti-Kopftuch-Gesetz“ verstanden. Inzwischen wurde es durch lokale Regeln auf Universitäten und sogar öffentliche Verkehrsmittel ausgeweitet.
Und dann gibt es einen gegen Argumente völlig immunen Hass. Göle berichtet über eine von ihr initiierte Runde in Bologna, bei der es um einen Moscheebau im Stadtzentrum ging. Geschäftsleute, Studenten, Vertreter muslimischer Gruppierungen und Vertreter der Lega Nord waren eingeladen. Doch die demonstrativ gezeigte Feindseligkeit und Wut der Lega-Leute torpedierten jedes Gespräch. Ein Verweis auf die Konkurrenz der islamischen Geschäftsleute zu den Alteingesessenen offenbart zumindest ein Motiv: „Wie kommt es, dass die Migranten hier neben unseren Kaufhäusern Obst und Gemüse verkaufen können? Unsere Geschäfte schließen, und deren Läden florieren.“ Die Lega führt, ähnlich wie rechtspopulistische Bewegungen überall, einen Kampf gegen Muslime, die als Eindringlinge stigmatisiert werden. Ihre größere Angst ist dabei nicht das Scheitern von Integration, sondern deren Gelingen. Mit groben Beleidigungen als Form der Kommunikationsverweigerung zerstören sie, so Göle, „die Anstandsregeln im öffentlichen Raum“, auf deren Einhaltung friedliche Gesellschaften angewiesen sind.
Göles Studie bietet ein breites Panorama der postmigrantischen Ära in Europa. Es entsteht ein eindrückliches Bild von Menschen in Bewegung, von Druck und Gegendruck, Anpassungsprozessen und Widerstand, sowie eine Analyse, die gleichzeitig Anlass zu Hoffnung wie Verzweiflung bietet.
ELISABETH KIDERLEN
Nilüfer Göle: Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Aus dem Französischen von Bertold Galli. Wagenbach-Verlag 2016. 299 Seiten, 24 Euro.
Als in Bologna eine Moschee
gebaut werden sollte, torpedierte
Feindseligkeit jedes Gespräch
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ganz normaler Muslime
Nilüfer Göle erkundet den Euro-Islam im Alltag
Von 2009 bis 2013 hat die in Ankara geborene, in Paris lehrende Professorin Nilüfer Göle in 21 europäischen Städten Feldforschung über die Lebens- und Gefühlswelt „ganz normaler Muslime“ betrieben. Dabei ging es ihr um nichts Geringeres als die allmähliche Herausbildung einer neuen Bindestrich-Identität: des Euro-Islam. Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit nach Terroranschlägen fast ausschließlich auf das Trennende konzentriert, untersucht Göle Interaktionen im Alltag und die fast unmerklichen Verschiebungen in den europäischen Gesellschaften. Und das ist äußerst interessant.
Die Soziologin und ihr Team haben sich an Kontroversen orientiert, wie sie immer dann entstehen, wenn Differenzen sichtbar werden – etwa Moscheen auf öffentlichen Plätzen erbaut werden, ein Gebet auf der Straße verrichtet, nicht nach Halal-Regeln gekochtes Schulessen verweigert wird oder aber die Vorstellungen dessen, was Satire im Umgang mit dem Heiligen darf oder nicht darf, aufeinanderprallen. Berichten die Medien darüber, wird der Vorfall zum Ereignis, bei dem sich Begegnungen auch zwischen radikal konträr denkenden Menschen ergeben, und das ist dann der Moment, wo die Forscher ins Spiel kommen. In diesen „Berührungszonen“ machen sie Interviews und organisieren Gesprächsrunden, um zu erkennen, ob und wo sich neue Entwicklungen und Perspektiven auftun.
Ein Beispiel, das für viele steht: Nach den Erkenntnissen der Studie spielt die Scharia, also die religiösen Gesetze im Islam, in der Gedankenwelt europäischer Muslime keine große Rolle. Göle registriert, dass bei der Erwähnung der in der Scharia aufgeführten archaischen Strafmaßnahmen ihre Gesprächspartner eher „unangenehm berührt“ reagieren: „Unmissverständlich, ja sogar mit einer Spur von Stolz betonen sie ihr Zugehörigkeitsgefühl zum europäischen Kulturkreis.“
Trotzdem repräsentiert die Scharia das verbindende Band zwischen den Gläubigen. So fühlen sich gebildete Muslime unter dem Druck, die Scharia eigenständig zu interpretieren, sie also aus ihrem Entstehungskontext heraus zu erklären und die dort formulierten Regeln und Pflichten für unsere Zeit zu übersetzen. Damit machen sie sich unabhängig von den religiösen Institutionen ihres Herkunftslandes. Für kritische Muslime, so Göle, ist Europa ein „begehrter Ort“, denn hier wird unabhängiges Denken anerkannt.
Ein zweites Beispiel: Während die Einwanderer der ersten Generation sich damit begnügten, ihren Glauben zurückgezogen zu Hause oder in Gebetsräumen auszuüben, betreten heute zunehmend selbstbewusste junge Frauen mit Kopftuch und beruflichen Ambitionen den öffentlichen Raum und sorgen für Verwirrung, denn in der Vorstellungswelt des Westens ist die Verhüllung ein Zeichen weiblicher Unterdrückung.
Doch diese gläubigen Frauen nehmen sich das Recht, die religiösen Gesetze neu zu interpretieren, und tragen das Kopftuch nicht als Zeichen der Unterwerfung, sondern der religiösen Zugehörigkeit. Solche Eigenständigkeit der Interpretation ist in den Herkunftsländern meist den theologischen Autoritäten vorbehalten und insbesondere für Frauen unzulässig.
Betritt mit dem sich in Europa allmählich verändernden Islam also eine Religion den öffentlichen Raum, die sich in den letzten Jahrzehnten eher in konservativer Erstarrung, ideologischer Verhärtung oder auch menschenverachtendem Fundamentalismus gezeigt hat? Und welche Rolle könnte dieser neue bewegliche Euro-Islam spielen in einem Europa, in dem „die Abschaffung des Heiligen“, also des Unverfügbaren, „zur Ausgangsbedingung für eine weltliche Moderne“ erklärt wurde? Das wird sich noch zeigen. Nilüfer Göle immerhin spricht von einer kulturellen Erneuerung, die einen Paradigmenwechsel auslösen könnte, weil es gilt, in Ländern, wo es nichts Heiliges mehr gibt, Religion und Moderne gleichermaßen zu leben. Muslim und europäischer Staatsbürger – eine neue Entwicklung bahnt sich da ihren Weg.
Gleichzeitig wächst das Misstrauen gegen Muslime und die Ablehnung des Islam. Durch staatliche Regulierung versucht man etwa im laizistischen Frankreich, die sichtbaren Unterschiede einzuebnen. 2004 wurde ein Gesetz verabschiedet, das demonstrative Zeichen jeglicher Religionszugehörigkeit an Schulen verbietet, generell wird es ausschließlich als „Anti-Kopftuch-Gesetz“ verstanden. Inzwischen wurde es durch lokale Regeln auf Universitäten und sogar öffentliche Verkehrsmittel ausgeweitet.
Und dann gibt es einen gegen Argumente völlig immunen Hass. Göle berichtet über eine von ihr initiierte Runde in Bologna, bei der es um einen Moscheebau im Stadtzentrum ging. Geschäftsleute, Studenten, Vertreter muslimischer Gruppierungen und Vertreter der Lega Nord waren eingeladen. Doch die demonstrativ gezeigte Feindseligkeit und Wut der Lega-Leute torpedierten jedes Gespräch. Ein Verweis auf die Konkurrenz der islamischen Geschäftsleute zu den Alteingesessenen offenbart zumindest ein Motiv: „Wie kommt es, dass die Migranten hier neben unseren Kaufhäusern Obst und Gemüse verkaufen können? Unsere Geschäfte schließen, und deren Läden florieren.“ Die Lega führt, ähnlich wie rechtspopulistische Bewegungen überall, einen Kampf gegen Muslime, die als Eindringlinge stigmatisiert werden. Ihre größere Angst ist dabei nicht das Scheitern von Integration, sondern deren Gelingen. Mit groben Beleidigungen als Form der Kommunikationsverweigerung zerstören sie, so Göle, „die Anstandsregeln im öffentlichen Raum“, auf deren Einhaltung friedliche Gesellschaften angewiesen sind.
Göles Studie bietet ein breites Panorama der postmigrantischen Ära in Europa. Es entsteht ein eindrückliches Bild von Menschen in Bewegung, von Druck und Gegendruck, Anpassungsprozessen und Widerstand, sowie eine Analyse, die gleichzeitig Anlass zu Hoffnung wie Verzweiflung bietet.
ELISABETH KIDERLEN
Nilüfer Göle: Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Aus dem Französischen von Bertold Galli. Wagenbach-Verlag 2016. 299 Seiten, 24 Euro.
Als in Bologna eine Moschee
gebaut werden sollte, torpedierte
Feindseligkeit jedes Gespräch
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2017Sichtbar verschiedene, ganz gewöhnliche Staatsbürger
Die türkische Soziologin Nilüfer Göle zeigt, wie Muslime in Europa eine neue Form suchen, ihren Glauben zu leben. Aber wie steht es um die Chancen eines gesellschaftlichen Miteinanders?
Dieses Buch bringt einen neuen Zug von Sachlichkeit in eine Debatte, die zu entgleisen droht. Die Monographie der türkischen Soziologin Nilüfer Göle, die seit 2001 in Paris forscht und lehrt, stellt nicht die Frage, ob der Islam zu Europa gehört oder nicht. Sie geht vielmehr der Frage nach, wie gewöhnliche Muslime ihre Religion in Europa leben und sich dabei mehr und mehr von den Interpretationen des Islams in ihren Herkunftsländern absetzen.
Das Buch ist Ergebnis von vier Jahren Feldforschung in einundzwanzig Städten Europas. Die Autorin wählte dazu meist Orte aus, in denen Konflikte ausgebrochen waren - etwa Proteste gegen das öffentliche Gebet von Muslimen in Bologna oder eine Kopftuchaffäre in Toulouse. Dort interviewte sie Muslime und Nichtmuslime, ließ sie in Diskussionen über das Thema streiten. Erfahrungsberichte über solche Diskussionsrunden machen jeweils einen Teil der neun Kapitel des Buchs aus. Ergänzt werden sie um Analysen der einzelnen Kontroversen sowie um Stellungnahmen islamischer und nichtislamischer Intellektueller.
Nilüfer Göle geht es darum, zu erfahren, wie ein "einfacher Muslim" denkt, wie seine Wirklichkeit aussieht. Nicht den alten, bekannten Gesichtern der Islam-Debatte gibt sie einen Platz, sondern neuen Gesichtern, die die Veränderungen des Islams in Europa verkörpern. David, ein zum Islam konvertierter Schweizer, ist einer von ihnen. Zunächst hatte er in einem muslimischen Land leben wollen. Dann kehrte er desillusioniert von Malaysia in die Schweiz zurück: "Um meine Religion auszuüben, brauche ich weder eine islamische Polizei noch islamische Richter."
Das Buch klärt über viele populäre Missverständnisse über den Islam auf. Eines der größten betrifft die "Scharia". Ein einheitliches Modell für das islamische Gesetzeswerk, das man "die" Scharia nennen könnte, hat es in der Geschichte des Islams nie gegeben. Zu jeder Zeit und an jedem Ort wurde es anders mit Leben gefüllt. Heute schwindet die Autorität der klassischen Religionsgelehrten, der Ulama, diese Normen zu definieren, auch in den islamischen Kernländern.
Vom politischen System ihrer Herkunftsländer befreit, ergebe sich für die "meisten ganz normalen Muslime" eine völlig neue Situation für die Ausarbeitung der Scharia, schreibt die Autorin. So kommt David zum Schluss: "Gemäß der Scharia muss ich das Gesetz eines Landes achten, in dem ich lebe, jedenfalls soweit es mir erlaubt ist, Muslim zu sein."
Muslime, die so leben, nennt Nilüfer Göle "europäische Muslime". Sie lebten in einem sozialen Kontext, in dem das Verhältnis zur Religion nicht mehr von vornherein festgelegt sei: Und so eigne sich der europäische Muslim die Religion auf eine viel bewusstere Art an, schreibt Göle. Ein derart gesellschaftlich engagierter Muslim lebt die Ambivalenz aus, sichtbar verschieden zu sein und doch gewöhnlicher Staatsbürger sein zu wollen.
Der 1962 in Genf geborene Tariq Ramadan war einer der ersten islamischen Intellektuellen, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie der islamische Glaube innerhalb der europäischen Gesellschaften neu zu definieren sei. Dazu formulierte er drei Imperative. Erstens müssten die Muslime ihre traditionelle binäre Weltsicht von der "Welt des Islams" und der "Welt des Krieges" in eine "Dar al Shahada" weiterentwickeln, in die Sicht einer Welt also, in der jeder Muslim seinen Glauben frei ausüben könne. Zweitens müssten die Muslime in den Bereichen des Glaubens, die nicht festgeschrieben seien, selbst radikale Veränderungen durchführen. Drittens lehnt Ramadan den hegemonialen Anspruch des Westens ab, das Universelle zu definieren. Ramadan fordert stattdessen einen "gemeinsam getragenen Universalismus". Denn unterschiedlichen Standpunkten dürften nicht ihre Legitimität abgesprochen werden.
Die 1953 in Ankara geborene Soziologin zeigt mehrere Felder, bei denen sich der Islam in Europa sichtbar in die bestehende europäische Kultur hineinbewegt. So tragen in Großbritannien die islamischen "Schlichtungsräte" (Arbitration Councils) dazu bei, dass sich das islamische Recht in Richtung westlicher Rechtsnormen entwickelt. In der Musik wird im Hip-Hop demonstrative Religiosität gezeigt, werden aber auch neue islamisch-europäische Normen ausgedrückt. Hip-Hop ist für junge Muslime eine Möglichkeit geworden, Gefühle zu kanalisieren und Ungerechtigkeiten anzuprangern.
Zudem steht für die jüngeren Muslime das "Erlaubte" (halal) im Vordergrund, während sich die alten Muslime noch überwiegend mit den "Verboten" (haram) ihrer Religion beschäftigt hatten. Bei einer Ausrichtung auf das Erlaubte erweitert sich der Lebensstil. "Halal" zu leben steht für einen Übergang, nicht mehr religiösen Einschränkungen Priorität zu geben, sondern sozialen Forderungen. So beobachtet Göle eine Konvergenz der Halal-Normen und der Bio-Bewegung. Der neu entwickelte "Halal-Schinken" steht beispielsweise für das Bedürfnis, europäische Lebensweisen zu übernehmen und doch islamische Normen zu befolgen.
Der Lebensstil verändert sich, und so steigt das Bedürfnis nach Theologen mit europäischer Lebenserfahrung. Dieser Islam der postmigrantischen Phase ist auch sichtbarer als der Islam der früheren Migranten. Jene waren am Rande der Gesellschaft gestanden und waren kaum sichtbar, die Muslime von heute sind indessen sichtbar und stehen im Fokus. So schreibt Göle, dass Europa an einem Punkt stehe, an dem Muslime räumliche Grenzen überschritten und für sich Orte beanspruchten, die eigentlich nicht für sie vorgesehen seien, und dabei gäben sie auch ihre Andersartigkeit auf religiösem Gebiet zu erkennen.
Dieses Sichtbarwerden von Unterschieden löse Ressentiments aus: "Im Gegensatz zu den eingewanderten Arbeitern der ersten Generation, die sich damit begnügten, ihren Glauben zu Hause, an ihrem Arbeitsplatz und in ihrer Fabrik am Stadtrand zu leben, bringen die muslimischen Bürger Europas heute ihren Glauben überall zum Ausdruck" - durch Moscheen und Minarette oder das Kopftuch. Dabei gehen einzelne Länder verschiedene Wege. Die Schweizer Bürger haben in einer Volksbefragung den Bau von Minaretten abgelehnt. In Köln wurde hingegen eine große Moschee gebaut, die der Autorin als Ort des Austausches und der architektonischen Transparenz ein gelungenes Zeichen für den Willen gilt, politische Polarisierungen und Gräben innerhalb der Bevölkerung zu überwinden. Das Kölner Projekt zeige Möglichkeiten zur Überwindung der Gegensätze, die Schweizer Abstimmung setze allen Interaktionsprozessen ein Ende.
Trotz der Schnittmengen, die zwischen Europa und dem Islam zunehmen, bleibt Konfliktstoff. Etwa in der Aufforderung an die muslimischen Bürger, die in Europa geltenden sexuellen Normen im öffentlichen Leben zu akzeptieren - zum Beispiel homosexuelle Eheschließungen. Auch besteht eine große Asymmetrie im Verhältnis zum Sakralen. Europa ist die Meinungsfreiheit heilig, dem Muslim aber die Religion. Das war 2005 in der Kontroverse um die Mohammed-Karikaturen zu sehen. Viele in Europa fordern dabei die Muslime auf, ihre Verbindung zum Sakralen zugunsten der Satire und der Toleranz aufzugeben, wie es die Christen ebenfalls gemacht hatten; andere bestehen hingegen auf der Höflichkeit als einer Grundlage des öffentlichen Lebens.
Dabei lösen sich die Fronten nicht auf, sie verhärten sich. Göle führt das unter anderem darauf zurück, dass - im Falle Frankreichs - das Prinzip der Laizität sein Potential der Unparteilichkeit verloren habe und gegenüber Unterschieden "blind" geworden sei. Von den vier Grundprinzipien der Laizität werde das der Neutralität der staatlichen Autorität gegenüber den verschiedenen Glaubensrichtungen auf Kosten der drei anderen Prinzipien überbewertet: die Trennung von Kirche und Staat, die Gewissensfreiheit und die Gleichberechtigung.
Im Namen der Rückbesinnung auf die nationale Identität würden damit dem "ursprünglich universalistischen Ideal der französischen Kultur die Kleider des kulturellen Partikularismus übergestülpt". Nicht mehr der gallische Hahn ist Frankreichs Symbol, sondern das von Muslimen und Juden gemiedene Schwein.
Göle will mit ihrer Monographie die Chancen eines gesellschaftlichen Miteinanders ausloten. Nur so lasse sich der Nährboden des Extremismus eindämmen. Sie plädiert dafür, dass sich die europäische Moderne nicht mehr allein dem griechisch-römischen Erbe verpflichtet sehe, sondern auch das slawisch-byzantinische und das osmanisch-muslimische Erbe wahrnehme. Die aktuelle Debatte geht nicht in diese Richtung. Göles Buch vermittelt dennoch das Bild einer neuen Gesellschaftskultur, die in Europa heranwächst. Dabei würden, so Göle, die Menschen wie verschiedenfarbige Fäden in einem Teppich miteinander verwoben, ohne die Unterschiede zu verheimlichen.
RAINER HERMANN
Nilüfer Göle: "Europäischer Islam". Muslime im Alltag.
Aus dem Französischen von Bertold Galli. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2016. 299 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die türkische Soziologin Nilüfer Göle zeigt, wie Muslime in Europa eine neue Form suchen, ihren Glauben zu leben. Aber wie steht es um die Chancen eines gesellschaftlichen Miteinanders?
Dieses Buch bringt einen neuen Zug von Sachlichkeit in eine Debatte, die zu entgleisen droht. Die Monographie der türkischen Soziologin Nilüfer Göle, die seit 2001 in Paris forscht und lehrt, stellt nicht die Frage, ob der Islam zu Europa gehört oder nicht. Sie geht vielmehr der Frage nach, wie gewöhnliche Muslime ihre Religion in Europa leben und sich dabei mehr und mehr von den Interpretationen des Islams in ihren Herkunftsländern absetzen.
Das Buch ist Ergebnis von vier Jahren Feldforschung in einundzwanzig Städten Europas. Die Autorin wählte dazu meist Orte aus, in denen Konflikte ausgebrochen waren - etwa Proteste gegen das öffentliche Gebet von Muslimen in Bologna oder eine Kopftuchaffäre in Toulouse. Dort interviewte sie Muslime und Nichtmuslime, ließ sie in Diskussionen über das Thema streiten. Erfahrungsberichte über solche Diskussionsrunden machen jeweils einen Teil der neun Kapitel des Buchs aus. Ergänzt werden sie um Analysen der einzelnen Kontroversen sowie um Stellungnahmen islamischer und nichtislamischer Intellektueller.
Nilüfer Göle geht es darum, zu erfahren, wie ein "einfacher Muslim" denkt, wie seine Wirklichkeit aussieht. Nicht den alten, bekannten Gesichtern der Islam-Debatte gibt sie einen Platz, sondern neuen Gesichtern, die die Veränderungen des Islams in Europa verkörpern. David, ein zum Islam konvertierter Schweizer, ist einer von ihnen. Zunächst hatte er in einem muslimischen Land leben wollen. Dann kehrte er desillusioniert von Malaysia in die Schweiz zurück: "Um meine Religion auszuüben, brauche ich weder eine islamische Polizei noch islamische Richter."
Das Buch klärt über viele populäre Missverständnisse über den Islam auf. Eines der größten betrifft die "Scharia". Ein einheitliches Modell für das islamische Gesetzeswerk, das man "die" Scharia nennen könnte, hat es in der Geschichte des Islams nie gegeben. Zu jeder Zeit und an jedem Ort wurde es anders mit Leben gefüllt. Heute schwindet die Autorität der klassischen Religionsgelehrten, der Ulama, diese Normen zu definieren, auch in den islamischen Kernländern.
Vom politischen System ihrer Herkunftsländer befreit, ergebe sich für die "meisten ganz normalen Muslime" eine völlig neue Situation für die Ausarbeitung der Scharia, schreibt die Autorin. So kommt David zum Schluss: "Gemäß der Scharia muss ich das Gesetz eines Landes achten, in dem ich lebe, jedenfalls soweit es mir erlaubt ist, Muslim zu sein."
Muslime, die so leben, nennt Nilüfer Göle "europäische Muslime". Sie lebten in einem sozialen Kontext, in dem das Verhältnis zur Religion nicht mehr von vornherein festgelegt sei: Und so eigne sich der europäische Muslim die Religion auf eine viel bewusstere Art an, schreibt Göle. Ein derart gesellschaftlich engagierter Muslim lebt die Ambivalenz aus, sichtbar verschieden zu sein und doch gewöhnlicher Staatsbürger sein zu wollen.
Der 1962 in Genf geborene Tariq Ramadan war einer der ersten islamischen Intellektuellen, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie der islamische Glaube innerhalb der europäischen Gesellschaften neu zu definieren sei. Dazu formulierte er drei Imperative. Erstens müssten die Muslime ihre traditionelle binäre Weltsicht von der "Welt des Islams" und der "Welt des Krieges" in eine "Dar al Shahada" weiterentwickeln, in die Sicht einer Welt also, in der jeder Muslim seinen Glauben frei ausüben könne. Zweitens müssten die Muslime in den Bereichen des Glaubens, die nicht festgeschrieben seien, selbst radikale Veränderungen durchführen. Drittens lehnt Ramadan den hegemonialen Anspruch des Westens ab, das Universelle zu definieren. Ramadan fordert stattdessen einen "gemeinsam getragenen Universalismus". Denn unterschiedlichen Standpunkten dürften nicht ihre Legitimität abgesprochen werden.
Die 1953 in Ankara geborene Soziologin zeigt mehrere Felder, bei denen sich der Islam in Europa sichtbar in die bestehende europäische Kultur hineinbewegt. So tragen in Großbritannien die islamischen "Schlichtungsräte" (Arbitration Councils) dazu bei, dass sich das islamische Recht in Richtung westlicher Rechtsnormen entwickelt. In der Musik wird im Hip-Hop demonstrative Religiosität gezeigt, werden aber auch neue islamisch-europäische Normen ausgedrückt. Hip-Hop ist für junge Muslime eine Möglichkeit geworden, Gefühle zu kanalisieren und Ungerechtigkeiten anzuprangern.
Zudem steht für die jüngeren Muslime das "Erlaubte" (halal) im Vordergrund, während sich die alten Muslime noch überwiegend mit den "Verboten" (haram) ihrer Religion beschäftigt hatten. Bei einer Ausrichtung auf das Erlaubte erweitert sich der Lebensstil. "Halal" zu leben steht für einen Übergang, nicht mehr religiösen Einschränkungen Priorität zu geben, sondern sozialen Forderungen. So beobachtet Göle eine Konvergenz der Halal-Normen und der Bio-Bewegung. Der neu entwickelte "Halal-Schinken" steht beispielsweise für das Bedürfnis, europäische Lebensweisen zu übernehmen und doch islamische Normen zu befolgen.
Der Lebensstil verändert sich, und so steigt das Bedürfnis nach Theologen mit europäischer Lebenserfahrung. Dieser Islam der postmigrantischen Phase ist auch sichtbarer als der Islam der früheren Migranten. Jene waren am Rande der Gesellschaft gestanden und waren kaum sichtbar, die Muslime von heute sind indessen sichtbar und stehen im Fokus. So schreibt Göle, dass Europa an einem Punkt stehe, an dem Muslime räumliche Grenzen überschritten und für sich Orte beanspruchten, die eigentlich nicht für sie vorgesehen seien, und dabei gäben sie auch ihre Andersartigkeit auf religiösem Gebiet zu erkennen.
Dieses Sichtbarwerden von Unterschieden löse Ressentiments aus: "Im Gegensatz zu den eingewanderten Arbeitern der ersten Generation, die sich damit begnügten, ihren Glauben zu Hause, an ihrem Arbeitsplatz und in ihrer Fabrik am Stadtrand zu leben, bringen die muslimischen Bürger Europas heute ihren Glauben überall zum Ausdruck" - durch Moscheen und Minarette oder das Kopftuch. Dabei gehen einzelne Länder verschiedene Wege. Die Schweizer Bürger haben in einer Volksbefragung den Bau von Minaretten abgelehnt. In Köln wurde hingegen eine große Moschee gebaut, die der Autorin als Ort des Austausches und der architektonischen Transparenz ein gelungenes Zeichen für den Willen gilt, politische Polarisierungen und Gräben innerhalb der Bevölkerung zu überwinden. Das Kölner Projekt zeige Möglichkeiten zur Überwindung der Gegensätze, die Schweizer Abstimmung setze allen Interaktionsprozessen ein Ende.
Trotz der Schnittmengen, die zwischen Europa und dem Islam zunehmen, bleibt Konfliktstoff. Etwa in der Aufforderung an die muslimischen Bürger, die in Europa geltenden sexuellen Normen im öffentlichen Leben zu akzeptieren - zum Beispiel homosexuelle Eheschließungen. Auch besteht eine große Asymmetrie im Verhältnis zum Sakralen. Europa ist die Meinungsfreiheit heilig, dem Muslim aber die Religion. Das war 2005 in der Kontroverse um die Mohammed-Karikaturen zu sehen. Viele in Europa fordern dabei die Muslime auf, ihre Verbindung zum Sakralen zugunsten der Satire und der Toleranz aufzugeben, wie es die Christen ebenfalls gemacht hatten; andere bestehen hingegen auf der Höflichkeit als einer Grundlage des öffentlichen Lebens.
Dabei lösen sich die Fronten nicht auf, sie verhärten sich. Göle führt das unter anderem darauf zurück, dass - im Falle Frankreichs - das Prinzip der Laizität sein Potential der Unparteilichkeit verloren habe und gegenüber Unterschieden "blind" geworden sei. Von den vier Grundprinzipien der Laizität werde das der Neutralität der staatlichen Autorität gegenüber den verschiedenen Glaubensrichtungen auf Kosten der drei anderen Prinzipien überbewertet: die Trennung von Kirche und Staat, die Gewissensfreiheit und die Gleichberechtigung.
Im Namen der Rückbesinnung auf die nationale Identität würden damit dem "ursprünglich universalistischen Ideal der französischen Kultur die Kleider des kulturellen Partikularismus übergestülpt". Nicht mehr der gallische Hahn ist Frankreichs Symbol, sondern das von Muslimen und Juden gemiedene Schwein.
Göle will mit ihrer Monographie die Chancen eines gesellschaftlichen Miteinanders ausloten. Nur so lasse sich der Nährboden des Extremismus eindämmen. Sie plädiert dafür, dass sich die europäische Moderne nicht mehr allein dem griechisch-römischen Erbe verpflichtet sehe, sondern auch das slawisch-byzantinische und das osmanisch-muslimische Erbe wahrnehme. Die aktuelle Debatte geht nicht in diese Richtung. Göles Buch vermittelt dennoch das Bild einer neuen Gesellschaftskultur, die in Europa heranwächst. Dabei würden, so Göle, die Menschen wie verschiedenfarbige Fäden in einem Teppich miteinander verwoben, ohne die Unterschiede zu verheimlichen.
RAINER HERMANN
Nilüfer Göle: "Europäischer Islam". Muslime im Alltag.
Aus dem Französischen von Bertold Galli. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2016. 299 S., br., 24,- [Euro].
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