Band 6 des "Handbuchs der Geschichte der Internationalen Beziehungen" behandelt einen der dynamischsten Zeitabschnitte der neuesten Geschichte: fünf Jahrzehnte, welche die Landkarte Europas verändern und seine Dominanz auf den übrigen Kontinenten der Welt weiter verstärken, während mit den USA sich bereits eine neue Weltmacht ankündigt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1999Lieber Weltpolitik machen als erleiden
Das Kalkül der Hasardeure: Winfried Baumgarts souveräne Geschichte der internationalen Beziehungen von 1830 bis 1878
Als das "Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen", das den Zeitraum vom fünfzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart in neun Bänden zu umfassen plant, mit Heinz Duchhardts Darstellung über die Entwicklung der Staatenwelt im achtzehnten Jahrhundert eröffnet wurde, konnte angesichts der Gediegenheit des Werkes die Prognose gewagt werden, dass die Folgebände es schwer haben würden, den damit erreichten Standard zu halten (F.A.Z. vom 27. Juli 1998). Jetzt ist der zweite Band der Reihe erschienen, der ihrer chronologischen Disposition nach der sechste ist. Winfried Baumgart stellt die Geschichte der internationalen Beziehungen im neunzehnten Jahrhundert dar: Und erneut wird ein außerordentlich gelungenes Werk der Geschichtsschreibung präsentiert.
Die Darstellung beginnt an der historischen Zäsur der Jahres 1830, das mit der französischen Juli-Revolution und ihren europäischen Auswirkungen auch für die Geschichte der Staatenwelt ohne Zweifel "ein Epochejahr" repräsentiert; sie endet 1878, als mit dem Berliner Kongress das Zeitalter der traditionellen Diplomatie auslief und die neue Ära des Imperialismus schon vor der Tür stand. Gleichzeitig beschreibt die Periode von 1830 bis 1878 den "Zeitraum, in dem der so genannten Ferne Osten von Europa aus politisch und vor allem handelspolitisch erschlossen und mit der europäischen Kultur und Zivilisation konfrontiert wurde".
Damit ist das Darstellungsprinzip benannt, das der Autor für sein Werk gewählt hat: Die Geschichte Europas steht in seinem Zentrum, aber diejenige des amerikanischen Kontinents, der kolonialen Welt und Ostasiens findet ebenfalls gebührende Beachtung. Winfried Baumgart legt in der Tat eine "Weltgeschichte Europas" (Hans Freyer) im neunzehnten Jahrhundert vor.
Dem globalen Radius entspricht die umfassende Methode seines Buches, nämlich aus der Perspektive der internationalen Beziehungen eine histoire totale des Jahrhunderts zu entwerfen, also mit der außenpolitischen Geschichte der Zeit diejenige ihrer Ökonomien und Gesellschaften, ihrer Zivilisationen und Staaten zu verbinden. Dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen wird durch die plausible Anlage der Darstellung gefördert: "Grundtatsachen und Grundkräfte" des Zeitalters kommen zur Sprache, so weit Bevölkerungsentwicklung und Migration, Industrialisierung und Verkehr, Weltwirtschaft und Kapitalexport, Kriegführung und Streitkräfte, Friedensbewegung und Völkerrecht, öffentliche Meinung und Presse die Entwicklung der Staatenwelt geprägt haben. Diese historischen Bedingungen der Zeit verdichten sich allesamt im geschichtsmächtigen Phänomen des neuen Nationalismus. Damals machte Europa sich auf den Weg von jener Idee der Nationalität, die Giuseppe Mazzini als "heilig" vorkam und die "zur Erfüllung der allgemeinen Mission der Menschheit" beizutragen schien, zu jenem modernen Chauvinismus und Jingoismus, der "mit irrationalen, prestigebeladenen Forderungen und mit öffentlicher Hetze eine neue zerstörerische Kraft in die Außenpolitik der Mächte bringen konnte".
Der alte Kontinent verabschiedete sich von jener Ära der Stabilität und Ruhe, welche die Staatsmänner des Wiener Kongresses über alles geschätzt, weil sie die doppelköpfige Furie von Krieg und Revolution erlebt und daraus ihre Konsequenzen gezogen hatten. Allein, ihr "neues Denken" verblasste in der kollektiven Erinnerung der sich ablösenden Generationen mehr und mehr. Mit anderen Worten: In seinem informativen Überblick über die "Instrumente und Leitbilder" der äußeren Politik, über die Außenministerien und ihre diplomatischen Dienste, über die Begriffe vom europäischen Gleichgewicht, vom europäischen Konzert und von der modernen "Weltreichslehre", deren Anfänge schon lange vor der Jahrhundertwende auszumachen sind und in deren Zusammenhang die Ablösung der Hegemonie Europas durch Amerikaner und Russen prognostiziert wurde, vermag Baumgart zu zeigen, dass spätestens seit den europäischen Revolutionen von 1848/1849 und dem Krim-Krieg von 1854 bis 1856 "eine neue Generation von Staatsmännern" auf die Bühne der großen Politik trat: An die Stelle einer "von Rechtsbewusstsein, Maßhalten und Ruhebedürfnis geprägten Außenpolitik trat eine viel stärker machtbetonte Politik". Für Realpolitiker wie Louis Napoleon in Frankreich, Schwarzenberg in Österreich, Cavour in Italien, Gortschakow in Russland und Bismarck in Deutschland "zählte in aller erster Linie die Maxime: Was frommt meinem Staate? Und nicht mehr: Was bedeutet mir der europäische Friede oder das Europäische Konzert? Außerdem war diesen Politikern die Notwendigkeit bewusst, sich mit den Kräften des Liberalismus und Nationalismus stärker auseinander setzen zu müssen, statt sie einfach zu unterdrücken. Sie nutzten deren Potential aus, um die darin steckenden Sehnsüchte und Ziele vor ihren Karren der nationalen und egoistischen Machtsteigerung zu spannen und sich in der Revolution von oben zu üben oder sie gar herbeizuführen."
Zu dieser Kategorie von Staatsmännern, die risikoreich auf dem schmalen Grat zwischen alter und neuer Zeit balancierten, gehört auch Lord Palmerston, der während dieser Jahrzehnte auf außenpolitischem Feld England repräsentierte - die führende Macht in der Welt, ja im Grunde, was seine Omnipotenz und seine globale Präsenz angeht, die einzige Weltmacht des Saeculums überhaupt. In seiner tour d'horizon über die "Akteure" der Staatenwelt gelingt es Baumgart, klarzumachen, warum das neunzehnte Jahrhundert im Grunde "ein englisches Jahrhundert" gewesen ist - so wie das folgende zum amerikanischen Jahrhundert werden sollte. Diese Feststellung gilt übrigens bis zu der Tatsache hin, dass Großbritannien damals bereits dem humanitären Interventionismus huldigte: Die westafrikanischen Kolonien beispielsweise wurden, obwohl sie nichts anderes als Mühlsteine am Hals des Empire waren, nicht abgestoßen, sondern gehalten, um gegen den Sklavenhandel in Afrika vorgehen zu können. Die "Wucht der humanitären Bewegung in England" übte ihren verlangenden Einfluss auf Parlament und Regierung aus, ja sie veranlasste das Land dazu, für seine als zeitgemäß erachteten Wertvorstellungen beträchtliche Opfer auf sich zu nehmen. Die Humanisierung und Verrechtlichung der internationalen Verhältnisse ließ hier und da sogar schon die Tendenz erkennbar werden, dass aus dem Kampf für die universale Gerechtigkeit ein Krieg der Staaten, der Völker und der Kulturen entstehen kann.
Wie England die einzige Weltmacht des Zeitalters war, so stand Russland, vor allem im Hinblick auf seine imperiale Ausdehnung in Asien, stets auf dem Sprung, eine ebenbürtige Stellung zu erringen: Die globale Rivalität zwischen Briten und Russen, das "Great Game" des neunzehnten Jahrhunderts, gehört daher zur damaligen Signatur der Weltgeschichte. Dagegen war das zeitgenössische Frankreich, das seinen Status aus der ludovizianischen und napoleonischen Ära längst eingebüßt hatte, beileibe keine Weltmacht mehr. Ja, Napoleon dem Dritten gelang nicht einmal jene Umgestaltung der Karte Europas, die er, von Grund auf eine Verschwörernatur, mit allen zulässigen und unzulässigen, diplomatischen und militärischen Mitteln zu erlangen versuchte. Nach wie vor repräsentierte Österreich, um die fünf Mitglieder des europäischen Areopags abzuschreiten, eine Großmacht: Doch von machtpolitischem und finanziellem Siechtum gezeichnet, fristete das Vielvölkerreich der Habsburger ein "verlustreiches Überleben", wirkte damals schon wie ein Relikt aus einer anderen Zeit und war, als es sich 1859 und 1866 auf die unglücklichen Waffengänge zur Lösung der italienischen und deutschen Frage einließ, eher, wie Zar Alexander der Zweite urteilte, "zum Krieg resigniert" als tatsächlich dazu entschlossen. Und was Preußen betrifft, über das Metternich noch 1833 feststellte, dass sich in ihm Macht und Ohnmacht mischten, so zeichnet der Autor jene phänomenale Entwicklung nach, die das Land in wenigen Jahren zur Großmacht aufsteigen und das Deutsche Reich begründen ließ.
Nach einem kursorischen Blick auf die mittleren und kleinen Staaten Europas, die "mindermächtigen", wie der Verfasser sie nennt, entwirft Baumgart die Geschichte der "Ereignisse" - beginnend mit den von Ranke so genannten "halkyonischen" Tagen der Alten Welt zwischen 1830 und 1847 bis zu den Anfängen der Ära Bismarck in den siebziger Jahren. Zu den Glanzlichtern dieser Darstellung der Staatenwelt zählt die Auseinandersetzung mit der orientalischen Frage, also die Untersuchung jener "Probleme, die sich aus dem Zurückdrängen und dem Rückzug der osmanischen Macht aus den nach 1354 von ihr in Europa, Afrika und Asien eroberten Gebieten ergeben haben". Ein um das andere Mal wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass die südosteuropäischen Verwerfungen, unlösbar und andauernd zugleich, Europa bis heute wie ein angeborenes Gebrechen begleiten; denn sie leben "in vielen Nachfolgefragen" fort: "im Konflikt um Palästina und im heutigen arabisch-israelischen Gegensatz; in den griechisch-türkischen Spannungen um Hoheitsgewässer und Inseln in der Ägäis; im dazugehörigen Zypern-Konflikt; in den zahlreichen Spannungen auf dem Balkan, zuletzt im Zerfall Jugoslawiens; im Kurdenproblem; in den vielerlei Auseinandersetzungen im Kaukasus".
Bemerkenswert erscheint schließlich Baumgarts Urteil über die Vereinigten Staaten, deren robuste Expansion auf dem amerikanischen Doppelkontinent eindrucksvoll nachgezeichnet wird: Der Anspruch auf "Kontrolle über die Welt", den Außenminister Seward, nachdem er den Russen im Jahre 1867 Alaska abgekauft hatte, so anmaßend erhob, trat im weltanschaulichen Sendungsbewusstsein, in der machtpolitischen "Hemmungslosigkeit" und im "herablassenden Überlegenheitsgefühl" der Amerikaner durchaus schon zu Tage, als Europa die Welt noch eindeutig beherrschte, als das englische Jahrhundert noch für geraume Zeit bestehen sollte und als über eine amerikanische Weltherrschaft erst hier und da spekuliert wurde.
Alles in allem: Winfried Baumgart hat ein opus magnum vorgelegt, das in seiner unaufdringlichen Gelehrsamkeit und literarischen Gefälligkeit seinesgleichen sucht. Seine Erkenntnisse und Einsichten nehmen sich so reich und aktuell aus, dass sie, ganz im Sinne des klassischen Auftrags der Historiografie, von politischem Nutzen sein können.
KLAUS HILDEBRAND.
Winfried Baumgart: "Europäisches Konzert und nationale Bewegung". Internationale Beziehungen 1830 bis 1878. Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, Band 6. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1999. XV, 600 S., Abb., geb., 188 DM.
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Das Kalkül der Hasardeure: Winfried Baumgarts souveräne Geschichte der internationalen Beziehungen von 1830 bis 1878
Als das "Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen", das den Zeitraum vom fünfzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart in neun Bänden zu umfassen plant, mit Heinz Duchhardts Darstellung über die Entwicklung der Staatenwelt im achtzehnten Jahrhundert eröffnet wurde, konnte angesichts der Gediegenheit des Werkes die Prognose gewagt werden, dass die Folgebände es schwer haben würden, den damit erreichten Standard zu halten (F.A.Z. vom 27. Juli 1998). Jetzt ist der zweite Band der Reihe erschienen, der ihrer chronologischen Disposition nach der sechste ist. Winfried Baumgart stellt die Geschichte der internationalen Beziehungen im neunzehnten Jahrhundert dar: Und erneut wird ein außerordentlich gelungenes Werk der Geschichtsschreibung präsentiert.
Die Darstellung beginnt an der historischen Zäsur der Jahres 1830, das mit der französischen Juli-Revolution und ihren europäischen Auswirkungen auch für die Geschichte der Staatenwelt ohne Zweifel "ein Epochejahr" repräsentiert; sie endet 1878, als mit dem Berliner Kongress das Zeitalter der traditionellen Diplomatie auslief und die neue Ära des Imperialismus schon vor der Tür stand. Gleichzeitig beschreibt die Periode von 1830 bis 1878 den "Zeitraum, in dem der so genannten Ferne Osten von Europa aus politisch und vor allem handelspolitisch erschlossen und mit der europäischen Kultur und Zivilisation konfrontiert wurde".
Damit ist das Darstellungsprinzip benannt, das der Autor für sein Werk gewählt hat: Die Geschichte Europas steht in seinem Zentrum, aber diejenige des amerikanischen Kontinents, der kolonialen Welt und Ostasiens findet ebenfalls gebührende Beachtung. Winfried Baumgart legt in der Tat eine "Weltgeschichte Europas" (Hans Freyer) im neunzehnten Jahrhundert vor.
Dem globalen Radius entspricht die umfassende Methode seines Buches, nämlich aus der Perspektive der internationalen Beziehungen eine histoire totale des Jahrhunderts zu entwerfen, also mit der außenpolitischen Geschichte der Zeit diejenige ihrer Ökonomien und Gesellschaften, ihrer Zivilisationen und Staaten zu verbinden. Dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen wird durch die plausible Anlage der Darstellung gefördert: "Grundtatsachen und Grundkräfte" des Zeitalters kommen zur Sprache, so weit Bevölkerungsentwicklung und Migration, Industrialisierung und Verkehr, Weltwirtschaft und Kapitalexport, Kriegführung und Streitkräfte, Friedensbewegung und Völkerrecht, öffentliche Meinung und Presse die Entwicklung der Staatenwelt geprägt haben. Diese historischen Bedingungen der Zeit verdichten sich allesamt im geschichtsmächtigen Phänomen des neuen Nationalismus. Damals machte Europa sich auf den Weg von jener Idee der Nationalität, die Giuseppe Mazzini als "heilig" vorkam und die "zur Erfüllung der allgemeinen Mission der Menschheit" beizutragen schien, zu jenem modernen Chauvinismus und Jingoismus, der "mit irrationalen, prestigebeladenen Forderungen und mit öffentlicher Hetze eine neue zerstörerische Kraft in die Außenpolitik der Mächte bringen konnte".
Der alte Kontinent verabschiedete sich von jener Ära der Stabilität und Ruhe, welche die Staatsmänner des Wiener Kongresses über alles geschätzt, weil sie die doppelköpfige Furie von Krieg und Revolution erlebt und daraus ihre Konsequenzen gezogen hatten. Allein, ihr "neues Denken" verblasste in der kollektiven Erinnerung der sich ablösenden Generationen mehr und mehr. Mit anderen Worten: In seinem informativen Überblick über die "Instrumente und Leitbilder" der äußeren Politik, über die Außenministerien und ihre diplomatischen Dienste, über die Begriffe vom europäischen Gleichgewicht, vom europäischen Konzert und von der modernen "Weltreichslehre", deren Anfänge schon lange vor der Jahrhundertwende auszumachen sind und in deren Zusammenhang die Ablösung der Hegemonie Europas durch Amerikaner und Russen prognostiziert wurde, vermag Baumgart zu zeigen, dass spätestens seit den europäischen Revolutionen von 1848/1849 und dem Krim-Krieg von 1854 bis 1856 "eine neue Generation von Staatsmännern" auf die Bühne der großen Politik trat: An die Stelle einer "von Rechtsbewusstsein, Maßhalten und Ruhebedürfnis geprägten Außenpolitik trat eine viel stärker machtbetonte Politik". Für Realpolitiker wie Louis Napoleon in Frankreich, Schwarzenberg in Österreich, Cavour in Italien, Gortschakow in Russland und Bismarck in Deutschland "zählte in aller erster Linie die Maxime: Was frommt meinem Staate? Und nicht mehr: Was bedeutet mir der europäische Friede oder das Europäische Konzert? Außerdem war diesen Politikern die Notwendigkeit bewusst, sich mit den Kräften des Liberalismus und Nationalismus stärker auseinander setzen zu müssen, statt sie einfach zu unterdrücken. Sie nutzten deren Potential aus, um die darin steckenden Sehnsüchte und Ziele vor ihren Karren der nationalen und egoistischen Machtsteigerung zu spannen und sich in der Revolution von oben zu üben oder sie gar herbeizuführen."
Zu dieser Kategorie von Staatsmännern, die risikoreich auf dem schmalen Grat zwischen alter und neuer Zeit balancierten, gehört auch Lord Palmerston, der während dieser Jahrzehnte auf außenpolitischem Feld England repräsentierte - die führende Macht in der Welt, ja im Grunde, was seine Omnipotenz und seine globale Präsenz angeht, die einzige Weltmacht des Saeculums überhaupt. In seiner tour d'horizon über die "Akteure" der Staatenwelt gelingt es Baumgart, klarzumachen, warum das neunzehnte Jahrhundert im Grunde "ein englisches Jahrhundert" gewesen ist - so wie das folgende zum amerikanischen Jahrhundert werden sollte. Diese Feststellung gilt übrigens bis zu der Tatsache hin, dass Großbritannien damals bereits dem humanitären Interventionismus huldigte: Die westafrikanischen Kolonien beispielsweise wurden, obwohl sie nichts anderes als Mühlsteine am Hals des Empire waren, nicht abgestoßen, sondern gehalten, um gegen den Sklavenhandel in Afrika vorgehen zu können. Die "Wucht der humanitären Bewegung in England" übte ihren verlangenden Einfluss auf Parlament und Regierung aus, ja sie veranlasste das Land dazu, für seine als zeitgemäß erachteten Wertvorstellungen beträchtliche Opfer auf sich zu nehmen. Die Humanisierung und Verrechtlichung der internationalen Verhältnisse ließ hier und da sogar schon die Tendenz erkennbar werden, dass aus dem Kampf für die universale Gerechtigkeit ein Krieg der Staaten, der Völker und der Kulturen entstehen kann.
Wie England die einzige Weltmacht des Zeitalters war, so stand Russland, vor allem im Hinblick auf seine imperiale Ausdehnung in Asien, stets auf dem Sprung, eine ebenbürtige Stellung zu erringen: Die globale Rivalität zwischen Briten und Russen, das "Great Game" des neunzehnten Jahrhunderts, gehört daher zur damaligen Signatur der Weltgeschichte. Dagegen war das zeitgenössische Frankreich, das seinen Status aus der ludovizianischen und napoleonischen Ära längst eingebüßt hatte, beileibe keine Weltmacht mehr. Ja, Napoleon dem Dritten gelang nicht einmal jene Umgestaltung der Karte Europas, die er, von Grund auf eine Verschwörernatur, mit allen zulässigen und unzulässigen, diplomatischen und militärischen Mitteln zu erlangen versuchte. Nach wie vor repräsentierte Österreich, um die fünf Mitglieder des europäischen Areopags abzuschreiten, eine Großmacht: Doch von machtpolitischem und finanziellem Siechtum gezeichnet, fristete das Vielvölkerreich der Habsburger ein "verlustreiches Überleben", wirkte damals schon wie ein Relikt aus einer anderen Zeit und war, als es sich 1859 und 1866 auf die unglücklichen Waffengänge zur Lösung der italienischen und deutschen Frage einließ, eher, wie Zar Alexander der Zweite urteilte, "zum Krieg resigniert" als tatsächlich dazu entschlossen. Und was Preußen betrifft, über das Metternich noch 1833 feststellte, dass sich in ihm Macht und Ohnmacht mischten, so zeichnet der Autor jene phänomenale Entwicklung nach, die das Land in wenigen Jahren zur Großmacht aufsteigen und das Deutsche Reich begründen ließ.
Nach einem kursorischen Blick auf die mittleren und kleinen Staaten Europas, die "mindermächtigen", wie der Verfasser sie nennt, entwirft Baumgart die Geschichte der "Ereignisse" - beginnend mit den von Ranke so genannten "halkyonischen" Tagen der Alten Welt zwischen 1830 und 1847 bis zu den Anfängen der Ära Bismarck in den siebziger Jahren. Zu den Glanzlichtern dieser Darstellung der Staatenwelt zählt die Auseinandersetzung mit der orientalischen Frage, also die Untersuchung jener "Probleme, die sich aus dem Zurückdrängen und dem Rückzug der osmanischen Macht aus den nach 1354 von ihr in Europa, Afrika und Asien eroberten Gebieten ergeben haben". Ein um das andere Mal wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass die südosteuropäischen Verwerfungen, unlösbar und andauernd zugleich, Europa bis heute wie ein angeborenes Gebrechen begleiten; denn sie leben "in vielen Nachfolgefragen" fort: "im Konflikt um Palästina und im heutigen arabisch-israelischen Gegensatz; in den griechisch-türkischen Spannungen um Hoheitsgewässer und Inseln in der Ägäis; im dazugehörigen Zypern-Konflikt; in den zahlreichen Spannungen auf dem Balkan, zuletzt im Zerfall Jugoslawiens; im Kurdenproblem; in den vielerlei Auseinandersetzungen im Kaukasus".
Bemerkenswert erscheint schließlich Baumgarts Urteil über die Vereinigten Staaten, deren robuste Expansion auf dem amerikanischen Doppelkontinent eindrucksvoll nachgezeichnet wird: Der Anspruch auf "Kontrolle über die Welt", den Außenminister Seward, nachdem er den Russen im Jahre 1867 Alaska abgekauft hatte, so anmaßend erhob, trat im weltanschaulichen Sendungsbewusstsein, in der machtpolitischen "Hemmungslosigkeit" und im "herablassenden Überlegenheitsgefühl" der Amerikaner durchaus schon zu Tage, als Europa die Welt noch eindeutig beherrschte, als das englische Jahrhundert noch für geraume Zeit bestehen sollte und als über eine amerikanische Weltherrschaft erst hier und da spekuliert wurde.
Alles in allem: Winfried Baumgart hat ein opus magnum vorgelegt, das in seiner unaufdringlichen Gelehrsamkeit und literarischen Gefälligkeit seinesgleichen sucht. Seine Erkenntnisse und Einsichten nehmen sich so reich und aktuell aus, dass sie, ganz im Sinne des klassischen Auftrags der Historiografie, von politischem Nutzen sein können.
KLAUS HILDEBRAND.
Winfried Baumgart: "Europäisches Konzert und nationale Bewegung". Internationale Beziehungen 1830 bis 1878. Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, Band 6. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1999. XV, 600 S., Abb., geb., 188 DM.
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