Produktdetails
- Verlag: Steidl
- Seitenzahl: 176
- Deutsch
- Abmessung: 195mm
- Gewicht: 222g
- ISBN-13: 9783882433708
- ISBN-10: 3882433701
- Artikelnr.: 24787588
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.1996Lord Dahrendorf bittet zu Tisch
Ralf Dahrendorf: Europäisches Tagebuch. Herausgegeben von Kurt Scheel. Steidl Verlag, Göttingen 1995. 176 Seiten, brosch., 20,- Mark.
Um den Zeitgeist aufzuspüren, ist Baron Dahrendorf kein Weg zu weit. Selbst im argentinischen Präsidentenpalast fahndet er nach Neuigkeiten, doch Carlos Menem muß ihn enttäuschen. Der Hausherr malt die Zukunft nur in rosigen Farben. Ob denn niemand unzufrieden sei? "Doch, die Opposition!" Amtsvorgänger Alfonsín gibt da umfassendere Auskunft. Auf die Frage Dahrendorfs, was ihm an Menems Politik mißfalle, erwidert er: "Alles!" Aha.
Die Banalität der Berühmten belegt der Baron in seinem Tagebuch mit beeindruckenden Beispielen. Vordenker und Mächtige verkünden auf ihren exklusiven Kolloquien und Konferenzen offenbar auch nichts Scharfsinnigeres als gelungene Leitartikel, stellt erleichtert fest, wer Dahrendorfs Beiträge für die Monatszeitschrift "Merkur" liest.
Geistreicher als an der nächstbesten Kneipentheke geht es im "intellektuellen Jet-set" dennoch zu. Auf rastlosen Reisen, die er kokett beklagt, notiert der Baron aparte Aperçus: "Von Brest bis Brest gilt dieselbe Zeit, auch wenn es in Brest-Litowsk fast zwei Stunden früher dunkel wird als in der bretonischen Hauptstadt." Anders gehen die Uhren nur in Rußland und Großbritannien.
Vielleicht ist es dieser Abstand zur kontinentalen Gegenwart, den Dahrendorf an seiner Wahlheimat schätzt. Jedenfalls schenkt er ihren altehrwürdigen Ritualen liebevolle Aufmerksamkeit. Ausführlich beschreibt der Warden des Oxforder St. Anthony's College die Gebete, die in der Universität jede Sitzung eröffnen, sowie das anmutige Menuett, mit dem er sich im englischen Oberhaus vorstellte: "Verbeugung vor dem Haus, ein paar Schritte voraus, Dreispitz ab vor der ersten Tischkante, wieder ein paar Schritte. Dreispitz ab vor der zweiten Tischkante, zum Lord Chancellor, auf dem rechten Knie zu Boden", um ihm demutsvoll die Vorladung zu überreichen.
Solche Zeremonien veranschaulichen die Langlebigkeit von Institutionen. Um ihren Sinn kreist Dahrendorfs Denken: Sie regeln die Austragung von Konflikten, schaffen Gemeinschaft und den Freiraum, in dem sich der einzelne entwickeln kann. Dessen Lebenschancen, die Freiheit zur Selbstverwirklichung, liegen dem Soziologen am Herzen. Seinen erzliberalen Standpunkt verteidigt er gelassen gegen Herausforderungen, die er auf demokratische Verfassungen und soziale Stabilität zukommen sieht. Sie seien einerseits durch die Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols und multikulturelle Träume gefährdet. Andererseits bedrohe den Westen die Konkurrenz fernöstlicher Industriestaaten, deren Regierungen mit autoritären Methoden vorankommen. Dahrendorf warnt davor, sie nachzuahmen: "All das Theater um asiatische Werte ist doch lächerlich. Natürlich lassen sich Diktaturen nicht gern kritisieren. Es gibt keinen automatischen Zusammenhang zwischen Staatsformen und Wirtschaftswachstum", zitiert er zustimmend den Gouverneur von Hongkong, Chris Patten: "Wenn wir Europäer nicht mehr überzeugt sind, daß politische und wirtschaftliche Freiheiten zusammengehören, an was, verdammt noch mal, glauben wir dann überhaupt noch?"
Für dieses Bekenntnis streitet Dahrendorf mit unverwüstlichem Optimismus. Dabei verfällt er nie in missionarischen Eifer, sondern plaudert feinsinnig, wie es einem weitläufigen Causeur geziemt. Jeden Einwand durch eine Pointe parierend, wirft er seine Thesen mit leichter Hand auf das Papier. Als führe er ein endloses Tischgespräch. Anregende Abendunterhaltung für alle, denen in nächster Zeit keine Einladung an seine Tafel winkt. OLIVER HEILWAGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ralf Dahrendorf: Europäisches Tagebuch. Herausgegeben von Kurt Scheel. Steidl Verlag, Göttingen 1995. 176 Seiten, brosch., 20,- Mark.
Um den Zeitgeist aufzuspüren, ist Baron Dahrendorf kein Weg zu weit. Selbst im argentinischen Präsidentenpalast fahndet er nach Neuigkeiten, doch Carlos Menem muß ihn enttäuschen. Der Hausherr malt die Zukunft nur in rosigen Farben. Ob denn niemand unzufrieden sei? "Doch, die Opposition!" Amtsvorgänger Alfonsín gibt da umfassendere Auskunft. Auf die Frage Dahrendorfs, was ihm an Menems Politik mißfalle, erwidert er: "Alles!" Aha.
Die Banalität der Berühmten belegt der Baron in seinem Tagebuch mit beeindruckenden Beispielen. Vordenker und Mächtige verkünden auf ihren exklusiven Kolloquien und Konferenzen offenbar auch nichts Scharfsinnigeres als gelungene Leitartikel, stellt erleichtert fest, wer Dahrendorfs Beiträge für die Monatszeitschrift "Merkur" liest.
Geistreicher als an der nächstbesten Kneipentheke geht es im "intellektuellen Jet-set" dennoch zu. Auf rastlosen Reisen, die er kokett beklagt, notiert der Baron aparte Aperçus: "Von Brest bis Brest gilt dieselbe Zeit, auch wenn es in Brest-Litowsk fast zwei Stunden früher dunkel wird als in der bretonischen Hauptstadt." Anders gehen die Uhren nur in Rußland und Großbritannien.
Vielleicht ist es dieser Abstand zur kontinentalen Gegenwart, den Dahrendorf an seiner Wahlheimat schätzt. Jedenfalls schenkt er ihren altehrwürdigen Ritualen liebevolle Aufmerksamkeit. Ausführlich beschreibt der Warden des Oxforder St. Anthony's College die Gebete, die in der Universität jede Sitzung eröffnen, sowie das anmutige Menuett, mit dem er sich im englischen Oberhaus vorstellte: "Verbeugung vor dem Haus, ein paar Schritte voraus, Dreispitz ab vor der ersten Tischkante, wieder ein paar Schritte. Dreispitz ab vor der zweiten Tischkante, zum Lord Chancellor, auf dem rechten Knie zu Boden", um ihm demutsvoll die Vorladung zu überreichen.
Solche Zeremonien veranschaulichen die Langlebigkeit von Institutionen. Um ihren Sinn kreist Dahrendorfs Denken: Sie regeln die Austragung von Konflikten, schaffen Gemeinschaft und den Freiraum, in dem sich der einzelne entwickeln kann. Dessen Lebenschancen, die Freiheit zur Selbstverwirklichung, liegen dem Soziologen am Herzen. Seinen erzliberalen Standpunkt verteidigt er gelassen gegen Herausforderungen, die er auf demokratische Verfassungen und soziale Stabilität zukommen sieht. Sie seien einerseits durch die Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols und multikulturelle Träume gefährdet. Andererseits bedrohe den Westen die Konkurrenz fernöstlicher Industriestaaten, deren Regierungen mit autoritären Methoden vorankommen. Dahrendorf warnt davor, sie nachzuahmen: "All das Theater um asiatische Werte ist doch lächerlich. Natürlich lassen sich Diktaturen nicht gern kritisieren. Es gibt keinen automatischen Zusammenhang zwischen Staatsformen und Wirtschaftswachstum", zitiert er zustimmend den Gouverneur von Hongkong, Chris Patten: "Wenn wir Europäer nicht mehr überzeugt sind, daß politische und wirtschaftliche Freiheiten zusammengehören, an was, verdammt noch mal, glauben wir dann überhaupt noch?"
Für dieses Bekenntnis streitet Dahrendorf mit unverwüstlichem Optimismus. Dabei verfällt er nie in missionarischen Eifer, sondern plaudert feinsinnig, wie es einem weitläufigen Causeur geziemt. Jeden Einwand durch eine Pointe parierend, wirft er seine Thesen mit leichter Hand auf das Papier. Als führe er ein endloses Tischgespräch. Anregende Abendunterhaltung für alle, denen in nächster Zeit keine Einladung an seine Tafel winkt. OLIVER HEILWAGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main