Im sonnenüberfluteten Europa entflammte im Sommer 1914 eine bis dahin beispiellose Form von Kriegshysterie. Millionen Männer zogen singend an die Front. Dichter standen dabei überall in vorderster Linie. Englische »war poets« und deutsche Expressionisten, französische Dadaisten und russische Futuristen, flämische, ungarische, baltische Akteure kämpften nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit dem Wort. Innerhalb der europäischen Nationen und ethnischen Volksgruppen wogten nationales oder befreiungsbewegtes Pathos, Internationalismus und weltrevolutionäre Emphase, Desillusion, Hass und Verzweiflung unrhythmisch auf und nieder. Geert Buelens liefert mit seinem bereits mehrfach ausgezeichneten Buch ein wahrhaft europäisches Panorama, nicht nur der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch und vor allem der Menschen, die sie schrieben. Er bezieht dabei neben bekannten Protagonisten wie Pessoa, Majakowski, Marinetti, Apollinaire, Trakl, Sassoon auch viele andere, weniger bekannte Dichter mit ein. »Europas Dichter und der Erste Weltkrieg« ist eine beeindruckend umfassende, engagierte Studie über die gesellschaftliche Tragweite von Literatur, ein temperamentvoll und mit literarischer Ambition geschriebenes Stück Mentalitäts-, Kultur-, Kriegs- und politischer Geschichte.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dass Krieg nicht nur ein Interessenskampf ist, sondern eine "Umleitung der Wucht diffuser Volksgefühle" in literarische Überhöhung, in verschriftlichte Zweifel und Lügen, führe der vorliegende Band des Literaturwissenschaftlers Geert Buelens dem Rezensenten Jürgen Verdofsky vor Augen. Buelens habe ein entscheidendes Werk, eine enzyklopädische Sammlung kriegsnaher Dichtung, geschaffen. Die einzelnen Stimmen der Autoren - manche wirr, andere entschlossen oder besonnen - zusammengefasst, gefächert und miteinander in Beziehung gesetzt, stellt "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg" nach Verdofsky das Resultat beeindruckender Arbeit dar. Dieses intelligente Kompendium mache die Stimmung um 1912 erfahrbar und Buelens roten Faden - Krieg sei geistiges Versagen - nachvollziehbar, meint der Rezensent und legt jedem die Lektüre nachdrücklich ans Herz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2014Europas Lyriker als Mobilisierer
Die Dichter und der Erste Weltkrieg: Geert Buelens zeigt, welch grandiosen Irrtümern die meisten von ihnen aufsaßen
Der Dichter als Bewohner höherer Welten: als Götterorakel, als Sucher blauer Blumen, als Flüsterer im Elfenbeinturm oder als reiner Wortkünstler - die Bilder halten sich, manchmal seit Jahrtausenden; romantische und ästhetizistische Federn haben sie karikaturhaft überzeichnet. Falsch sind sie wie eh und je: Das lehrt ausgerechnet der Jahrestag des Ersten Weltkriegs. Am 28. Juni 1914 erschoss kein analphabetischer Hinterwäldler den österreichischen Thronfolger: Gavrilo Princip war zwar ein "Wirrkopf", aber eben auch ein leidenschaftlicher Leser, der Oscar Wilde und Walt Whitman bewunderte und selbst Dichter werden wollte.
Er lebte in einer Zeit, "in der poetische und revolutionäre Ambitionen oft Hand in Hand gingen", wie Geert Buelens in seiner spannenden Studie "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg" festhält. Der belgische Literaturwissenschaftler untersucht die Epoche in einem breit angelegten Panorama, das rumänische, irische, kroatische, lettische Dichter zu Wort kommen lässt. Jeder nationalen oder binationalen Verengung schiebt er einen Riegel vor, die Perspektive ist jene paneuropäische, die 1914 kaum jemand einnehmen mochte.
Sie erst erlaubt es, die Lage der Dichter in jener Zeit wirklich zu verstehen - Buelens spricht ausdrücklich von "Betroffenen", deren "bedeutende Rolle" als Mobilisierer er untersucht. Nicht Zaungäste des Krieges, sondern Wegbereiter, Kämpfer und Propagandisten waren sie, über literarische und politische Gräben hinweg: Ob Symbolisten, Dekadente, Futuristen, Vortizisten, Expressionisten, ob Unabhängigkeitskämpfer, Sozialisten, Nationalisten oder Internationalisten - anfangs konnten fast alle dem Krieg etwas abgewinnen; die meisten blieben engagiert.
Einer der zentralen Gründe ist, dass der Erste Weltkrieg im Geiste von Nationalismus und nationaler Selbstbestimmung geführt wurde. Hier kam der Lyrik eine zentrale Rolle zu: "Da es bei diesen Kampagnen oft um Sprachrechte ging und man glaubte, das Wesen der Sprache werde in Literatur ausgedrückt, fand der politische Kampf meist literarische Unterstützung. Die Lyriker standen dabei in der ersten Reihe."
Jeden Tag wurden 50 000 Kriegsgedichte verfasst.
Der Grund dafür ist, so wäre hinzuzufügen, dass Lyrik mehr noch als Roman oder Drama sprachlich dicht ist und zur Reflexion auf das literarische Tun einlädt. Diese Präzisierung macht Buelens nicht: Sie setzte eine Besinnung auf die Eigenart poetischer Sprache voraus, die in "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg" fast nie explizit und leider selten in der Untersuchung der Texte stattfindet. Überhaupt werden die Gedichte kaum im Detail analysiert: Buelens bietet mehr eine historische Einführung in die Sozialfunktion von Dichtung, weniger eine Synthese von Literatur- und Geschichtswissenschaft. Das verkürzt den Blick, denn Poesie mag "eine Quelle des Wissens über die Vergangenheit sein", sie sprudelt nach höchst eigenen Gesetzen. Eigentlich weiß Buelens das, wie Beobachtungen der Art, dass mehrere Dichter "die Wolken zum Sammelbecken für all das unnütz vergossene Blut" machen (Georg Trakl, Endre Ady), belegen; man hätte es ihm zugetraut, seinen materialreichen, elegant formulierten Überblick punktuell zu vertiefen.
Buelens geht chronologisch vor, widmet besonders der Initialphase große Aufmerksamkeit. Das ist konsequent, anfangs profilierten sich Literaten jeder Couleur und Nation: In Deutschland wurden im ersten Kriegsmonat "an die fünfzigtausend Kriegsgedichte pro Tag" (!) verfasst. Viele Dichter hatten den Krieg erwartet, herbeibeschworen, Buelens betont anlässlich des George-Kreises, die Texte der Vorkriegszeit seien generell von "wollüstigen Gewaltphantasien geprägt" gewesen. Der Konflikt kam wie eine Erlösung: "Endlich ein Gott", schrieb der Niederländer Louis Couperus. Er bot Vorteile: Die Dichter waren durch eine seit dem späten neunzehnten Jahrhundert schwelende Sprachkrise und durch die moderne Medienöffentlichkeit verunsichert; der Wert der Sprache, der Ort der Literatur in der voll erblühten Massenkonsumgesellschaft schienen alles andere als geklärt.
Apollinaire hatte neue Textformen in "Zone" willkommen geheißen, dennoch drohte der Dichtung angesichts von Zeitung, Werbung und Populärliteratur der Bedeutungsschwund. Denn ein "zunehmend spezialisierter Sprachgebrauch schloss viele Menschen aus - der Krieg bot Dichtern und Publikum eine unverhoffte Gelegenheit, einander neu zu finden". Der Preis allerdings war oft die Gesundheit oder gar das Leben - es überrascht nicht, dass sich der Blick der Kämpfer wandelte. Der Soldat wurde für Siegfried Sassoon vom Helden zu einem "sich windenden Insekt inmitten des aberwitzigen Grauens der Destruktion".
Viele Dichter blieben bis zum Schluss des Krieges optimistisch.
Viele Dichter fanden Worte für das Grauen in Schützengraben und Materialschlacht; Buelens führt anregende Zitate auch von jenen an, die nur Spezialisten der jeweiligen Nationalliteratur bekannt sein dürften. Daan Boens etwa schrieb in "Todes-Wunsch": "Ich will das große Nichts, wo kein Wind ist, wo nichts ist. / Keine Trümmer mehr, da ich selbst ein Trümmerhaufen bin." Die Futuristen mochten weiter die Verschmelzung von Mensch und Maschine feiern, der achtundzwanzig Jahre alte Gerrit Engelke hingegen bedauerte die "maschinell zersetzenden Wirkungen" des Krieges und hielt fest, dass Kultur den Frieden zur Voraussetzung habe.
Zu den ästhetischen Konsequenzen der Kriegserfahrung gehörte, dass die Avantgarde-Frage neu gestellt wurde: Sollte die Kunst sich radikalisieren oder zu traditionellen Formen und Denkweisen zurückfinden? Die Antworten waren gegenläufig - mitunter bei ein und demselben Dichter: Apollinaire, der Begleiter von Kubismus und Futurismus, der Anbahner des Surrealismus, schwor dem avantgardistischen Kosmopolitismus aus Abneigung gegen die Deutschen ab, zugleich wurde ihm Schönheit zum "Nebenprodukt, so wie Läuse".
Der Optimismus behielt freilich bis 1918 bei vielen die Oberhand, sie waren "davon überzeugt, diese Katastrophe werde eine neue Kunst hervorbringen, die zur Vorbereitung und Aufrechterhaltung einer neuen und besseren Weltordnung beitrüge". Deren Grundlage war das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in das nationale Minderheiten große Hoffnungen setzen; wenige wagten noch internationalistische Träume.
Die Weitung der Perspektive auf kleine Staaten oder Volksgruppen sowie auf Minderheiten, etwa die Juden, die in Osteuropa massiven Pogromen ausgesetzt waren, macht einen weiteren Wert von Buelens' Studie aus. "Im Reich des Kreuzes" von Uri Zvi Grinberg erschüttert: "Ich bin die Eule, der Klagevogel des Schmerzwalds in Europa. / In den Tälern Pein und Grauen, blinde Mitternächte unter Kreuzen." Anschaulich stellt der in Duffel geborene Buelens zudem die flämischen Versuche dar, aus den Verheerungen des Krieges eine nationale Identität zu schmieden. Man sieht die Abgründe, aber auch den Reichtum Europas, selbst in dem Moment, als es sich über die ganze Welt "wie ein Ölfleck ausgebreitet hat" (Georges Duhamel), ein Europa, das weder seine Vielfalt noch die aus heutiger Sicht evidenten Gemeinsamkeiten erkennen mochte.
Aus dem Frieden konnte folglich nichts Gutes entstehen: "Was sind die Siege von heute anderes als die Niederlagen von morgen?", fragte der Bosnier Ivo Andric zwei Jahre nach Kriegsende; er sollte recht behalten.
NIKLAS BENDER.
Geert Buelens: "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg". Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 460 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Dichter und der Erste Weltkrieg: Geert Buelens zeigt, welch grandiosen Irrtümern die meisten von ihnen aufsaßen
Der Dichter als Bewohner höherer Welten: als Götterorakel, als Sucher blauer Blumen, als Flüsterer im Elfenbeinturm oder als reiner Wortkünstler - die Bilder halten sich, manchmal seit Jahrtausenden; romantische und ästhetizistische Federn haben sie karikaturhaft überzeichnet. Falsch sind sie wie eh und je: Das lehrt ausgerechnet der Jahrestag des Ersten Weltkriegs. Am 28. Juni 1914 erschoss kein analphabetischer Hinterwäldler den österreichischen Thronfolger: Gavrilo Princip war zwar ein "Wirrkopf", aber eben auch ein leidenschaftlicher Leser, der Oscar Wilde und Walt Whitman bewunderte und selbst Dichter werden wollte.
Er lebte in einer Zeit, "in der poetische und revolutionäre Ambitionen oft Hand in Hand gingen", wie Geert Buelens in seiner spannenden Studie "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg" festhält. Der belgische Literaturwissenschaftler untersucht die Epoche in einem breit angelegten Panorama, das rumänische, irische, kroatische, lettische Dichter zu Wort kommen lässt. Jeder nationalen oder binationalen Verengung schiebt er einen Riegel vor, die Perspektive ist jene paneuropäische, die 1914 kaum jemand einnehmen mochte.
Sie erst erlaubt es, die Lage der Dichter in jener Zeit wirklich zu verstehen - Buelens spricht ausdrücklich von "Betroffenen", deren "bedeutende Rolle" als Mobilisierer er untersucht. Nicht Zaungäste des Krieges, sondern Wegbereiter, Kämpfer und Propagandisten waren sie, über literarische und politische Gräben hinweg: Ob Symbolisten, Dekadente, Futuristen, Vortizisten, Expressionisten, ob Unabhängigkeitskämpfer, Sozialisten, Nationalisten oder Internationalisten - anfangs konnten fast alle dem Krieg etwas abgewinnen; die meisten blieben engagiert.
Einer der zentralen Gründe ist, dass der Erste Weltkrieg im Geiste von Nationalismus und nationaler Selbstbestimmung geführt wurde. Hier kam der Lyrik eine zentrale Rolle zu: "Da es bei diesen Kampagnen oft um Sprachrechte ging und man glaubte, das Wesen der Sprache werde in Literatur ausgedrückt, fand der politische Kampf meist literarische Unterstützung. Die Lyriker standen dabei in der ersten Reihe."
Jeden Tag wurden 50 000 Kriegsgedichte verfasst.
Der Grund dafür ist, so wäre hinzuzufügen, dass Lyrik mehr noch als Roman oder Drama sprachlich dicht ist und zur Reflexion auf das literarische Tun einlädt. Diese Präzisierung macht Buelens nicht: Sie setzte eine Besinnung auf die Eigenart poetischer Sprache voraus, die in "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg" fast nie explizit und leider selten in der Untersuchung der Texte stattfindet. Überhaupt werden die Gedichte kaum im Detail analysiert: Buelens bietet mehr eine historische Einführung in die Sozialfunktion von Dichtung, weniger eine Synthese von Literatur- und Geschichtswissenschaft. Das verkürzt den Blick, denn Poesie mag "eine Quelle des Wissens über die Vergangenheit sein", sie sprudelt nach höchst eigenen Gesetzen. Eigentlich weiß Buelens das, wie Beobachtungen der Art, dass mehrere Dichter "die Wolken zum Sammelbecken für all das unnütz vergossene Blut" machen (Georg Trakl, Endre Ady), belegen; man hätte es ihm zugetraut, seinen materialreichen, elegant formulierten Überblick punktuell zu vertiefen.
Buelens geht chronologisch vor, widmet besonders der Initialphase große Aufmerksamkeit. Das ist konsequent, anfangs profilierten sich Literaten jeder Couleur und Nation: In Deutschland wurden im ersten Kriegsmonat "an die fünfzigtausend Kriegsgedichte pro Tag" (!) verfasst. Viele Dichter hatten den Krieg erwartet, herbeibeschworen, Buelens betont anlässlich des George-Kreises, die Texte der Vorkriegszeit seien generell von "wollüstigen Gewaltphantasien geprägt" gewesen. Der Konflikt kam wie eine Erlösung: "Endlich ein Gott", schrieb der Niederländer Louis Couperus. Er bot Vorteile: Die Dichter waren durch eine seit dem späten neunzehnten Jahrhundert schwelende Sprachkrise und durch die moderne Medienöffentlichkeit verunsichert; der Wert der Sprache, der Ort der Literatur in der voll erblühten Massenkonsumgesellschaft schienen alles andere als geklärt.
Apollinaire hatte neue Textformen in "Zone" willkommen geheißen, dennoch drohte der Dichtung angesichts von Zeitung, Werbung und Populärliteratur der Bedeutungsschwund. Denn ein "zunehmend spezialisierter Sprachgebrauch schloss viele Menschen aus - der Krieg bot Dichtern und Publikum eine unverhoffte Gelegenheit, einander neu zu finden". Der Preis allerdings war oft die Gesundheit oder gar das Leben - es überrascht nicht, dass sich der Blick der Kämpfer wandelte. Der Soldat wurde für Siegfried Sassoon vom Helden zu einem "sich windenden Insekt inmitten des aberwitzigen Grauens der Destruktion".
Viele Dichter blieben bis zum Schluss des Krieges optimistisch.
Viele Dichter fanden Worte für das Grauen in Schützengraben und Materialschlacht; Buelens führt anregende Zitate auch von jenen an, die nur Spezialisten der jeweiligen Nationalliteratur bekannt sein dürften. Daan Boens etwa schrieb in "Todes-Wunsch": "Ich will das große Nichts, wo kein Wind ist, wo nichts ist. / Keine Trümmer mehr, da ich selbst ein Trümmerhaufen bin." Die Futuristen mochten weiter die Verschmelzung von Mensch und Maschine feiern, der achtundzwanzig Jahre alte Gerrit Engelke hingegen bedauerte die "maschinell zersetzenden Wirkungen" des Krieges und hielt fest, dass Kultur den Frieden zur Voraussetzung habe.
Zu den ästhetischen Konsequenzen der Kriegserfahrung gehörte, dass die Avantgarde-Frage neu gestellt wurde: Sollte die Kunst sich radikalisieren oder zu traditionellen Formen und Denkweisen zurückfinden? Die Antworten waren gegenläufig - mitunter bei ein und demselben Dichter: Apollinaire, der Begleiter von Kubismus und Futurismus, der Anbahner des Surrealismus, schwor dem avantgardistischen Kosmopolitismus aus Abneigung gegen die Deutschen ab, zugleich wurde ihm Schönheit zum "Nebenprodukt, so wie Läuse".
Der Optimismus behielt freilich bis 1918 bei vielen die Oberhand, sie waren "davon überzeugt, diese Katastrophe werde eine neue Kunst hervorbringen, die zur Vorbereitung und Aufrechterhaltung einer neuen und besseren Weltordnung beitrüge". Deren Grundlage war das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in das nationale Minderheiten große Hoffnungen setzen; wenige wagten noch internationalistische Träume.
Die Weitung der Perspektive auf kleine Staaten oder Volksgruppen sowie auf Minderheiten, etwa die Juden, die in Osteuropa massiven Pogromen ausgesetzt waren, macht einen weiteren Wert von Buelens' Studie aus. "Im Reich des Kreuzes" von Uri Zvi Grinberg erschüttert: "Ich bin die Eule, der Klagevogel des Schmerzwalds in Europa. / In den Tälern Pein und Grauen, blinde Mitternächte unter Kreuzen." Anschaulich stellt der in Duffel geborene Buelens zudem die flämischen Versuche dar, aus den Verheerungen des Krieges eine nationale Identität zu schmieden. Man sieht die Abgründe, aber auch den Reichtum Europas, selbst in dem Moment, als es sich über die ganze Welt "wie ein Ölfleck ausgebreitet hat" (Georges Duhamel), ein Europa, das weder seine Vielfalt noch die aus heutiger Sicht evidenten Gemeinsamkeiten erkennen mochte.
Aus dem Frieden konnte folglich nichts Gutes entstehen: "Was sind die Siege von heute anderes als die Niederlagen von morgen?", fragte der Bosnier Ivo Andric zwei Jahre nach Kriegsende; er sollte recht behalten.
NIKLAS BENDER.
Geert Buelens: "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg". Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 460 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Dichter und der Erste Weltkrieg: Geert Buelens zeigt, welch grandiosen Irrtümern die meisten von ihnen aufsaßen.« Niklas Bender Frankfurter Allgemeine Zeitung 20140806